Serie zur Hardcore-Punk-Szene in Esch / Die Chronisten der „Schluechthaus“-Szene (Teil 5)
Vor 30 Jahren entstand in der heutigen Kulturfabrik eine antifaschistische Punkszene, die kaum dokumentiert ist. Dieser Satz, mit dem wir diese Artikelserie am 31. Mai 2019 eingeleitet hatten, stimmt nur bedingt, denn die Hardcore-Punk-Szene im Escher „Schluechthaus“ hatte mit dem Fanzine Disagreement ihr eigenes „Presseorgan“. 1997 veröffentlichten die Herausgeber Lex und Pascal Thiel zudem eine kleine Enzyklopädie der Luxemburger Hardcore-, Punk- und Metal-Szene, die uns die Recherche zu dieser Artikelserie wesentlich erleichterte. Ein Dokumentarfilm über die Schluechthaus-Szene ist noch in Planung.
Disagreement entstand 1990 im Dunstkreis der Punk-Band Microlax. Es waren Leute, die ihre politischen Gedanken nicht nur in Songs, sondern auch in Aufsätzen und Essays niederschreiben wollten. Gründer des Fanzines war Alain „Schlaak“ Graf, Sänger von Microlax. Es war die Zeit, als die ersten Punk- und Hardcore-Bands im Escher „Schluechthaus“ spielten. Als „unparteiisches“, doch „kritisches, provokatives, antifaschistisches, antidiktatorialisches (sic), pro-Punk und pro-freiheitliches Magazin“, sollte Disagreement zum Aufbau der Escher Punk-Szene beitragen, wie es im Vorwort zur ersten Aufgabe heißt. Die libertäre Grundeinstellung der Zeitschrift lässt sich nicht nur am Anarchisten-A im Logo erkennen. Die Aufschlagseite der ersten Nummer schmückt die Karikatur einer Rekrutierungskampagne der Polizei mit dem Titel „Polizist, e flotte Beruff fir jonk Leit“. Das passende Bild zeigt einen Polizisten mit einem aufgemalten Hitler-Schnurrbart und eine Polizistin mit Dracula-Zähnen. Nach Schlaak war der aktivste Autor Tom Grethen, der eine Kritik über Microlax und einen Aufsatz über den Faschismus nach der deutschen Wiedervereinigung verfasste. Neben Reviews von vorwiegend englischen Punkplatten enthält die Nummer ein (sehr kurzes) Interview mit Daniel Cohn-Bendit, eine Rezension eines Buchs über Skins in der BRD und ein Gedicht über Tierbefreiung.
„Manche Leute waren noch weniger musikalisch und setzten es sich zur Aufgabe, die Szene zu dokumentieren“, erzählt Pascal Thiel (47), der zusammen mit seinem Bruder Lex (49) die meisten der insgesamt 20 Nummern mit herausgegeben hat. An den ersten Ausgaben waren die beiden jedoch nicht beteiligt.
Die Aufmachung der zweiten Nummer war übersichtlicher als die der ersten. Neben politischen Texten und Musikrezensionen enthielt sie eine sehr kritische Analyse über einen von Minister „Pitti“ Boden geplanten Golfplatz und ein ausführliches lokales „Special“ über das Escher Café „Beim Gino“, dem die Autoren Tom Grethen und Christian Schaeffer das Prädikat „bestes Café aus Esch“ verliehen.
Nach und nach wurde Disagreement „professioneller“ und umfangreicher. Das lag auch daran, dass immer mehr Leute aus der Schluechthaus-Szene der Aufforderung der Herausgeber folgten und eigene Texte beitrugen. In der dritten Ausgabe sahen sich die Autoren von Disagreement zu einer „Richtigstellung“ genötigt, weil man sie in der linken Szene-Kneipe „Jhang/Jhang“ fälschlicherweise verdächtigt hatte, Rechtsextreme zu sein. Stein des Anstoßes war der antideutsche Slime-Song „Deutschland muss sterben“, den die Jugendlichen dort gespielt hatten. Die „Althippies“ kannten das Lied nicht und stuften es vorschnell als rechts ein. Die Redaktion der antifaschistisch ausgerichteten Disagreement zeigte sich schockiert und wehrte sich vehement gegen diese ungerechtfertigte Verurteilung.
Kritische Auseinandersetzung innerhalb der Szene
Vor allem in den beiden Anfangsjahren deckten sich die politischen Themen, die in Disagreement behandelt wurden, mit denen, die auch die Bands in ihren Songtexten aufgriffen: Antifaschismus, Vegetarismus, linke Theorie, Kritik am Kapitalismus und seinen multinationalen Konzernen. Ab Nummer 3 wurden Leserbriefe, die die Texte und die Einstellung der Zeitschrift kritisieren, veröffentlicht. Das zeigt einerseits, dass Disagreement auch außerhalb der Szene gelesen wurde und andererseits, dass die Zeitschrift schon ab 1991 zu einer kritischen Auseinandersetzung innerhalb der Szene beitrug, die sich in den folgenden Jahren noch verschärfen sollte.
Mit Nummer 5, die gegen Ende 1991 erschien, wurde das anarchistische A aus dem Schriftzug entfernt. Doch inhaltlich sollte „alles beim Alten“ bleiben, wie es im Vorwort heißt. In diesem Jahr stieß Pascal „Troll“ Thiel zur Redaktion. Pascal war Sänger der Hardrock-Band Fo(u)rtress. 1992 gründete er mit Claude Sales, Max Capus und Eric Fachetti die Punk-Band Ulrich W. Modreck. Bis 1997 brachten sie es auf insgesamt acht Konzerte und veröffentlichten ein Demo-Tape.
Neben Schlaak, der nicht nur das Vorwort schrieb und Reportagen (beispielsweise über den Schülerstreik vom 17. Mai 1991) veröffentlichte, sondern auch über die Punkszene reflektierte, trugen Tom Grethen (Tomaat) und Patrick Kolb (Solbo) maßgeblich zur Gestaltung von Disagreement bei. Immer häufiger führten die Redakteure Interviews mit Punk-, Hardcore- und Metal-Bands aus dem Ausland. Doch die luxemburgischen Gruppen behielten weiterhin ihren festen Platz. Kritiken über Bücher und andere Zeitschriften sowie kleine Cartoons, Kurzgeschichten und Erfahrungsberichte ergänzten das Angebot. Aber auch gesellschaftskritische politische und philosophische Texte blieben fester Bestandteil des Fanzines.
Obwohl sich die Macher des Magazins in den Escher Lyzeen kennengelernt hatten, sei Disagreement nie eine Schülerzeitung gewesen, betont Lex Thiel. Auch wenn die Zeitschrift vereinzelt in Schulen „gehandelt“ wurde, sei dies nie mit dem Segen einer Direktion passiert. Hauptsächlich wurde Disagreement aber auf Konzerten, in ausgewählten Plattenläden und im Café „Jhang/Jhang“ verkauft. 20 Franken hat die erste Ausgabe damals gekostet, später wurde der Preis auf 40 Franken erhöht. „Bei Konzerten im ersten Stock des ’Schluechthaus‘ saßen wir den ganzen Abend zu viert an einem Tisch und haben Zeitungen verkauft. Wir haben uns abgewechselt, damit jeder noch die Bands sehen und Bier holen konnte“, berichtet Pascal.
Nazis nicht verprügeln
Der Zusatz „Streitschrift“ gelangte ab Ausgabe 6 auf das Disagreement-Cover. 1992 gründeten Dan „Don“ Luciani mit You Decide sowie Marc „Brego“ Bregoli und Michèle Marnach mit Lurch und Persons Unknown ihre eigenen Zines. Beide hatten zuvor schon sporadisch für Disagreement geschrieben, doch konnten sie sich offenbar nicht mehr mit der Ausrichtung der Streitschrift identifizieren. Anders als Disagreement, existierten die anderen Fanzines nur kurze Zeit. Exemplare konnten wir leider nicht auftreiben. Zwischen den drei Magazinen herrschte ein Austausch über Themen wie Vegetarismus, „Elitismus“ in der Escher Szene und Political Correctness.
In einer Auseinandersetzung zwischen Don und Troll ging es beispielsweise um die mutmaßlich rechtsextreme Vergangenheit des Type-0-Negative Sängers Peter Steele, die in einer Disagreement-Rezension offenbar nicht ausreichend thematisiert worden war. Auch allgemein wurde in Disagreement darüber nachgedacht, wie die linke Szene mit den damals auch in Luxemburg omnipräsenten Neonazi-Skinheads umgehen sollte. So sprach sich Patrick „Solbo“ Kolb etwa dafür aus, Nazis als Menschen zu akzeptieren und sie nicht zu verprügeln, um keine Spirale der Gewalt zu provozieren.
In Nummer 9 begann der Gründer des Magazins, Schlaak, sich etwas desillusioniert von Disagreement und der Escher Hardcore-Szene abzugrenzen. Genau wie Patrick Kolb war er zum Studieren nach Innsbruck gezogen. Erstmals schrieb nicht Schlaak, sondern Troll das Vorwort und Schlaak bekam seine eigenen Seiten, die vom restlichen Inhalt getrennt am Ende der Ausgabe veröffentlicht wurden. Seine Artikel signierte er, wie in den ersten beiden Ausgaben, mit seinem richtigen Vornamen. Ab Nummer 3 hatten alle Redakteure fast nur noch mit Spitznamen oder Pseudonymen unterschrieben.
Die Jubiläumsausgabe Nummer 10, die 1993 erschien, umfasst bemerkenswerte 76 Seiten und vier Leitartikel von Alain, Tom Grethen, Troll und Patrick Kolb. Letzterer beschäftigte sich damit, wie Disagreement sich seit seiner Gründung verändert hatte. Nicht nur das Layout war kontinuierlich besser geworden, auch inhaltlich ist eine Evolution zu erkennen. „Meinungsvielfalt und -verschiedenheit“ seien zu einem wesentlichen Merkmal der Streitschrift geworden, betont Kolb. Meinungsdifferenzen gab es nicht nur hinsichtlich des Musikgeschmacks, sondern auch in Bezug auf die politischen Überzeugungen. Während Schlaak und Solbo eher mit Punkmusik aufgewachsen sind und sehr linke Ansichten vertraten, kommen Pascal und Lex Thiel (Letzterer wirkte als The Doctor ab Nummer 8 mit) aus der Metal-Ecke und waren von ihren politischen Einstellungen her „gemäßigter“.
In der Folge zog Schlaak sich immer weiter zurück. Engagierte Texte kamen fast nur noch von Solbo. Tomaat, der inzwischen zum Studieren nach England gezogen war und sich fortan Tomix nannte, begann, seine eigenen Gedichte zu veröffentlichen. Troll kommentierte immer häufiger nationale Ereignisse wie die Legislativwahlen von 1994 und das bevorstehende Kulturjahr 1995, dem die Zeitschrift sehr kritisch gegenüberstand. Band-Interviews sowie Kritiken über Konzerte und Musikalben nahmen einen immer größeren Stellenwert ein.
Disagreement folgte damit der Entwicklung der Luxemburger Hardcore-Punk-Szene, die mit der vorübergehenden Schließung der Kulturfabrik im Jahr 1995 nach und nach verschwand. Doch Lex und Pascal Thiel verschlossen sich neuen Musikstilen nicht. Dank der beiden Brüder, die 1993 mit ihrer eigenen Musiksendung „Der Däiwel steet virun der Dier“ auf Radio ARA starteten, blieb Disagreement weiterhin am Leben. „Mit zunehmender Rückkehr der ‚Ausländer‘ von ihren Unis könnte die Zeitung sogar einen regelmäßigeren Rhythmus annehmen“, mutmaßte Marc Barthelemy 1995 in einem Artikel über die Escher Underground-Szene, der in der Monatszeitschrift Forum veröffentlicht wurde. Seine Mutmaßung sollte sich nicht bestätigen.
Radiosendung und Online-Umstellung
1998 ging Disagreement online, die letzte Print-Ausgabe erschien im April 1999 mit einer Auflage von 300 Stück. „Das Papier wurde teurer. Der Verkaufspreis wäre zu hoch geworden“, erklärt Pascal die Umstellung. Alain Graf, Tom Grethen und Patrick Kolb trugen kaum noch zur Online-Ausgabe bei.
Genau wie der Rest der Schluechthaus-Szene funktionierte auch Disagreement nach dem Do-it-yourself-Prinzip. Computer gab es damals zwar schon, doch die Textverarbeitungsprogramme seien sehr rudimentär gewesen, erzählen die Thiel-Brüder. Die Fotos haben sie nach dem Entwickeln per Handscanner digitalisiert. Das Layout wurde mit Schere und Klebstoff gestaltet. Auch die meisten Cartoons haben die Mitarbeiter selbst gezeichnet. Anfangs haben sie die fertigen Seiten fotokopiert und eigenhändig zusammengeheftet. Im Gegensatz zu anderen luxemburgischen Zines wie dem Non-X-Magazine aus der Hauptstadt, verzichtete Disagreement fast vollständig auf Werbung. Lediglich in den späteren Ausgaben finden sich gelegentlich Anzeigen kleinerer Plattenlabels oder von Kneipen, in denen die Redakteure regelmäßig abhingen. Finanziert wurde Disagreement aber in Eigenregie.
1997 veröffentlichten Pascal und Lex Thiel die Enzyklopädie „Enzilux“, in der viele Luxemburger Hardcore-, Punk- und Metal-Bands aus der ersten Hälfte der 1990er-Jahre aufgelistet sind. Die Angaben hatten sie per Fragebogen bei den Bandmitgliedern selbst ermittelt. „Enzilux“ stellt einen wichtigen Beitrag zur Luxemburger Musikgeschichte dar, weil die Veröffentlichung Angaben zu Gruppen enthält, die in anderen Werken wie dem „Lëtzebuerger Rock-Lexikon“ von Luke Haas zu kurz kamen.
Sowohl die Radiosendung „Der Däiwel steet virun der Dier“ als auch die Homepage Disagreement.net existieren bis heute. Inzwischen lassen es die Thiel-Brüder etwas gemächlicher angehen. Durchschnittlich zwei bis drei Reviews pro Woche veröffentlichen sie noch online, den Konzertkalender versuchen sie regelmäßig zu aktualisieren. Interviews führen sie quasi nur noch im Radio. Politische Beiträge veröffentlichen sie schon seit Längerem nicht mehr. Antifaschistisch seien sie aber noch immer, betonen Pascal und Lex.
Die Dokumentation über die Luxemburger Punk- und Hardcore-Szene könnte derweil bald noch ausführlicher werden. Der Sänger der Ska-Punk-Band Toxkäpp!, Frank Yvan, plant zurzeit einen Dokumentarfilm über die Szene. Professionelle Unterstützung erhält er dabei von der Regisseurin Bianca Jaeger Montobbio. Frank Yvan verfügt über zahlreiche Live-Mitschnitte von Schluechthaus-Konzerten, die er einem breiten Publikum zugänglich machen will.
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