Editorial / Die Flucht nach vorn
Bob Montagné lebt vom Spielen. Seine Welt sind die Casinos. In Jean-Pierre Melvilles Filmklassiker von 1956 ist er der titelgebende „Bob le flambeur“. Wenn er Geld gewinnt, dann verbrennt er es gleich wieder. Auch Emmanuel Macron liebt das Risiko. Seine Welt ist das politische Parkett. Seit er 2017 zum ersten Mal französischer Präsident wurde, hat er viel politisches Vertrauen verbrannt. Jetzt setzt er wieder einiges davon aufs Spiel.
Auf den Erfolg der Rechtsextremen bei der Wahl zum Europäischen Parlament hat Macron mit der Auflösung der Nationalversammlung und der Ansetzung von Neuwahlen für den 30. Juni und 7. Juli reagiert. Der Rassemblement National (RN) und seine Galionsfigur Marine Le Pen könnten diese gewinnen. Bei der Europawahl kamen der RN zusammen mit der Partei Reconquête von Éric Zemmour und Le Pens Nichte Marion Maréchal auf etwa 37 Prozent.
Im Falle eines Wahlsiegs der Ultrarechten würden diese den 28-jährigen RN-Parteichef Jordan Bardella als Premierminister vorschlagen. Für den Sieg auf breiter Front wäre Le Pen eine Zusammenarbeit etwa mit den in gaullistischer Tradition stehenden Républicains hilfreich. Deren Vorsitzender Éric Giotti sprach sich für ein Wahlbündnis aus. Dafür schloss ihn seine Partei aus.
Macron spiele va banque, er trete die Flucht nach vorn an, heißt es. Manche nennen ihn einen „Gambler“, andere einen „Pyromanen“. Doch eines muss man dem Präsidenten, dessen Parteienbündnis nur auf knapp 15 Prozent kam, lassen: Macron hat die französische Politik und Gesellschaft mit seinem hochriskanten Überraschungscoup in Wallung gebracht. Das Land ist wie elektrisiert. Außerdem schaffte er, was kaum jemand geglaubt hatte: Die linken Parteien – Sozialisten, Grüne, Kommunisten und die linkspopulistische La France insoumise – brauchten keine 24 Stunden, um sich zu einem „Front populaire“ zu verbünden. Doch kann die Linke mit ihrer Aversion gegen rechts als dem gemeinsamen Nenner und trotz ihrer zahlreichen programmatischen Differenzen an der Wahlurne reüssieren?
Derweil hat Marine Le Pen in den vergangenen Monaten auf ihrem seit Jahren anhaltenden Kuschelkurs hin zur politischen Mitte weiter Kreide gefressen, während sich ihr Vorzeigekandidat Bardella gerne in der Rolle des Vorzeige-Schwiegersohnes und Strahlemanns zeigt. Alte Antisemitismusvorwürfe, denen vor allem Marines Vater Jean-Marie Le Pen ausgesetzt war, weist der RN zurück und begibt sich auf Tuchfühlung zur israelischen Rechten. Die Putin-Versteherin Marine Le Pen müsste im Falle eines Wahlsieges noch klären, wie sie es künftig mit Russland halte, schon würde sie auf Giorgia Melonis samtenen Pfaden wandeln. Innenpolitisch profitierte sie vor allem mit ihrer Opposition gegen Macrons „ungerechte“ Rentenreform.
Ob die These, Macrons Team habe langfristig geplant, im Falle einer Niederlage die Verantwortung an die Ultrarechten abzugeben, um deren politische Widersprüchlichkeit und wirtschaftliche Inkompetenz vorzuführen, nun stimmt oder nicht: Der französische Staatschef zeigt sich jedenfalls mutig und wagt mehr als viele seiner Kollegen, wie zum Beispiel, als er dieses Frühjahr einen Einsatz von Bodentruppen in der Ukraine als Option nannte und damit eine Diskussion vom Zaun brach.
Macron spielt einmal mehr mit dem Feuer. Es sei ihm darum gegangen, Klarheit zu schaffen, sagte der Präsident. Ob es nun Leichtsinn oder Kühnheit ist, das ist eine Frage. Die andere, noch viel wichtigere, ist die nach den Konsequenzen, die viel weitreichender sein dürften als Jacques Chiracs Auflösung der Nationalversammlung im Jahr 1997, als eine fünfjährige „Cohabitation“ des damaligen gaullistischen Präsidenten mit der Linken folgte.
Politisches Vertrauen wiegt schwer. Auf dem Spiel steht nicht nur die Zukunft der Republik, sondern auch die der Europäischen Union. Geht Macrons Rechnung nicht auf und verzockt er sich, könnten die Rechtsextremen ihren Vormarsch fortsetzen und Marine Le Pen 2027 in den Élysée-Palast einziehen. Macrons vermeintlicher Coup wäre ein spektakuläres Eigentor. Der Präsident wäre „Emmanuel le flambeur“.
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