Politische Gefangene / Die Geiseln des Systems Putin
Der spektakuläre Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen befreite im August 16 Frauen und Männer aus russischen Gefängnissen. Mehr als 1.300 Polit-Gefangene sitzen in Russland weiter ein. Ein kleiner Überblick.
Zum Sprechen hat er eine Maus, wenn er nicht gerade wieder die Worte vergisst. Täglich husche das Tier durch seine Kammer, immer wieder lege er ihm ein paar Krümel seiner Kekse hin. So erzählt es Alexej Gorinow seinen Anwälten in diesen Tagen. Der 63-Jährige war im Juli 2022 als Erster wegen der sogenannten „Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee“ verurteilt worden. Sieben Jahre Haft wegen Paragrafs 207.3, eines Gesetzes, das erst nach dem russischen Überfall auf die Ukraine geschaffen wurde und seitdem praktisch gegen jeden eingesetzt werden kann, der den russischen Angriff verurteilt. Gorinow hatte bereits bei seiner Verhaftung nur noch einen Teil seiner Lunge. In der Strafkolonie hat sich seine Gesundheit weiter verschlechtert.
Derweil haben die Behörden ein neues Verfahren gegen ihn eingeleitet, dieses Mal wegen „Rechtfertigung des Terrorismus“. Der Moskauer sitzt gerade in U-Haft in der Stadt Wladimir ein, knapp 200 Kilometer von Moskau weg. In seiner Kammer, so schildert er seinen Anwälten, gebe es weder eine Matratze noch eine Decke, die Toilette sei kaputt, aus dem verrosteten Wasserhahn laufe lediglich kaltes Wasser. Er dürfe kein Buch ausleihen, und den Versuch, seine Frau anzurufen, habe er verwirkt. Bei diesem einen Anruf sei sie nicht ans Telefon gegangen, nun warte er auf die nächste Chance und wisse nicht, wann sie ihm gewährt werde.
Gorinow ist ein politischer Gefangener. Einer von mehr als 1.300, wie die russische Menschenrechtsorganisation OWD-Info zusammengerechnet hat. „Er hätte auf der Liste stehen sollen, nicht ich“, sagt Ilja Jaschin, der am 1. August beim spektakulären Gefangenenaustausch zwischen Russland und dem Westen frei gekommene russische Oppositionspolitiker. Jaschin hatte sich stets für Gorinow eingesetzt, auch als er selbst hinter Gitter kam. Er war vor einer möglichen Festnahme gewarnt worden, mitunter durch das Urteil gegen Gorinow. Dessen Festnahme hatte er bereits als „persönliche Einladung zur Emigration“ verstanden. Doch Jaschin blieb, prangerte den Krieg an, kritisierte offen den Kreml und landete schließlich in der Strafkolonie. Achteinhalb Jahre Haft lautete das Urteil, wie bei Gorinow wegen Paragraf 207.3, „Verbreitung falscher Informationen über die russische Armee“. Nach zwei Jahren kam Jaschin vor wenigen Wochen überraschend frei, wurde mit 15 weiteren politischen Gefangenen in Russland, russischen wie westlichen, gegen acht russische Spione und zwei Kinder ausgetauscht. Nur in seiner Gefängnisrobe wurde er praktisch aus seinem Land geworfen, aus dem er nie wegwollte.
Er tut sich schwer als Emigrant in Berlin, zumal als erzwungener – und kämpft nun weiter für die Freilassung Gorinows, seines früheren Kollegen, und für alle, die teils nicht einmal mehr das Tageslicht sehen dürfen, weil der eigene Staat sie des „Verrats am Heimatland“ bezichtigt, weil sie den begonnenen Krieg dieses Staates verurteilen. Der russische Friedensnobelpreisträger Dmitri Muratow rief in diesen Tagen gar das Rote Kreuz auf, sich in das Schicksal Alexej Gorinows einzumischen. „Er wird gefoltert. Er stirbt im Knast“, heißt es in dem Brief.
Gorinow hatte sich als Lokalabgeordneter in seinem Stadtteil Krasnosselski im Nordosten der russischen Hauptstadt im März 2022 gegen die Ausrichtung eines Malwettbewerbs für Kinder ausgesprochen. Auch Jaschin war bis 2021 Abgeordneter dort. „Wie kann man einen solchen Wettbewerb veranstalten, während in der Ukraine, unserem souveränen Nachbar, durch die Aggression unseres Landes Kinder getötet werden und zu Waisen gemacht werden?“, hatte Gorinow bei einer Haushaltssitzung gefragt – und büßt für seine Worte genauso zwischen Gefängniszelle und Krankenhaus ein wie die Journalistin Maria Ponomarenko aus Barnaul in der Region Altai.
„Unzuverlässige Informationen“
Die 45-Jährige, die für das Online-Medienportal „RusNews“ schrieb – oft über soziale Themen – sitzt ebenfalls wegen des Paragrafen 207.3 ein. Sechs Jahre Haft hatte die Mutter zweier minderjähriger Töchter im Februar 2023 bekommen. Sie soll auf ihrem Telegram-Kanal „unzuverlässige Informationen über den Tod beim Beschuss eines Theaters in Mariupol“ veröffentlicht haben, lautete die Anklage. Bei der Bombardierung des Theaters durch die russische Armee im März 2022 sind wohl mehr als 300 Menschen getötet worden. Der Gesundheitszustand der an Klaustrophobie leidenden Ponomarenko verschlechterte sich. Nach Monaten in der Strafkolonie in ihrer Heimatregion Altai kam sie in eine psychiatrische Klinik. Zurück in der Strafkolonie sollte sie in einer Zelle mit zugeklebten Fenstern ausharren. Ponomarenko schlug das Glas ein, schnitt sich die Adern auf. Wieder die Psychiatrie. Mittlerweile sitzt sie weiter in Schipunowo ein, 200 Kilometer von ihrer Heimatstadt Barnaul entfernt. Unter „strengen Auflagen“. Das heißt: Sie darf nur drei Päckchen im Jahr erhalten, hat die Möglichkeit auf drei kurze und drei lange Treffen mit Verwandten im Jahr, und bei „gutem Benehmen“ darf sie bis zu drei Stunden täglich raus in den Hof.
Die Haftbedingungen verschlechtern stets den Gesundheitszustand Gefangener. Den 65-jährigen Ingenieur Igor Baryschnikow bringen diese an den Rand seines Lebens. Der Aktivist aus Kaliningrad hatte im März 2022 bei Facebook die Gräuel russischer Soldaten in Butscha kritisiert und wurde im Juni 2023 zu siebeneinhalb Jahren Strafkolonie verurteilt, ebenfalls wegen Paragraf 207.3. Baryschnikow ist schwer krank, lebt mit einem Bauchdeckenkatheter, der speziell gereinigt werden muss, sein Urin entweicht über Röhren. Er kann in der Gefängniskantine kaum etwas essen. Seine Ärzte hatten während der Gerichtsverhandlung bescheinigt, Baryschnikows Krankheiten stünden auf der „Liste von Erkrankungen, die die Verbüßung einer Freiheitsstrafe verhindern“. Das Gericht störte das nicht. Der Aktivist, der nicht einmal zur Beerdigung seiner Mutter durfte, deren Vormund er war, lebt in einer fünf Quadratmeter großen Zelle in einer Haftanstalt bei Kaliningrad, wo der Beton stets feucht sein soll und die Toilette selten funktioniere. Er darf einmal im Monat Besuch empfangen, aber nie telefonieren.
Anwälte in U-Haft
Das russische Gefängniswesen basiert auf Bestrafung, nicht Besserung. Das System geht auf Zeiten des stalinistischen Gulag zurück und hat einen streng hierarchischen und militärischen Charakter. Die Gerichte urteilen nicht unabhängig, sondern erfüllen ihr Soll, von den Behörden und Geheimdiensten vorgegeben. Die Kritiker des Systems Putin, ohnehin eine Minderheit, sollen durch Prozesse und Urteile mundtot gemacht werden. Da scheint es egal, ob es Anwälte sind, wie Igor Sergunin, Alexej Lipzer und Wadim Kobsew, die jahrelang den mittlerweile in Haft umgekommenen Oppositionspolitiker Alexej Nawalny verteidigten und seit Oktober 2023 selbst in U-Haft sind. Der Staat betrachtet sie als Mittelsmänner zwischen Nawalny und dessen „extremistischer Gruppe“. Es trifft auch Theatermacherinnen wie Schenja Berkowitsch und Swetlana Petrijtschuk, in deren noch vor Kurzem mit staatlichen Preisen ausgezeichneten Theaterstück „Finist, heller Falke“ ein Moskauer Gericht nun die „Rechtfertigung islamistischen Terrors“ erkannt und die beiden Kriegsgegnerinnen im Juli zu sechs Jahren Strafkolonie verurteilt hatte.
Selbst vor minderjährigen Regimekritikern machen die Gerichte nicht Halt. So wurde im Juni der erst 15 Jahre alte Arseni Turbin aus Liwna in der Region Orjol wegen „Mitgliedschaft in einer Terrororganisation“ zu fünf Jahren Erziehungskolonie verurteilt. Der Jugendliche hatte Flugblätter in Briefkästen geworfen, auf denen stand: „Brauchst du einen solchen ‚Präsidenten’?“ Bei der Urteilsverkündung weinte der Schüler. „Ich habe wirklich nicht gewusst, dass ich irgendwas verletze. Verzeih, Mama.“
Trotz barbarischer Gesetze im Land beziehen immer wieder Menschen – manche seit Jahren – Position gegen die Gleichgültigkeit ihrer Mitmenschen und die Verbrechen des Staates. Es sind Menschen wie Antonina Faworskaja, Iwan Safronow, Daria Kosyrewa, Nadeschda Bujanowa, Nikita Schurawel, Asat Miftachow, Juri Dmitrijew, Grigori Melkonjanz, Alexej Moskaljow. Es sind viel zu viele Namen politischer Gefangener, viel zu viele Menschen, die aus innerer Überzeugung heraus, Mensch sein zu wollen und für ein menschliches Russland zu kämpfen, in russischen Strafkolonien einsitzen. Manche bezahlen für ihren Kampf mit dem Leben – wie Alexej Nawalny. Manche werden erst nach ihrem Tod bekannt, wie der Pianist Pawel Kuschnir. Der 39-Jährige war im Juli infolge eines Hungerstreiks in einem Untersuchungsgefängnis in Birobidschan, in Russlands fernem Osten, gestorben. Kuschnir hatte auf YouTube die Gräueltaten der russischen Armee in Butscha kritisiert und war im Mai wegen „Durchführung terroristischer Aktivitäten“ festgenommen worden. In seiner Zelle hatte er fünf Tage gehungert.
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