/ Die 100-Jährige, die Bücher schreibt: Finny Cazzaro feiert ihren runden Geburtstag – und veröffentlicht ihr drittes Buch
Als Finny Cazzaro am Morgen des 1. Juni 2019 die Augen aufschlägt, ist ihr erster Gedanke: „Jetzt habe ich es geschafft!“ Es ist der Tag ihres 100. Geburtstages. Dabei war sie sich vier Monate zuvor sicher, dass sie diesen nicht mehr erleben würde.
Als Finny Cazzaro den Festsaal des Escher Seniorenheims „Servior – Op der Léier“ betritt, kommt sie nicht mehr so schwungvoll voran wie an ihrem 99. Geburtstag. Auf dem Weg zur Bühne schiebt sie einen Rollator vor sich. Im Januar war sie unglücklich gestürzt und hatte sich dabei die Hüfte gebrochen. Finny musste operiert werden – nicht ungefährlich mit fast 100 Jahren.
Für sie war das ein schwerer Rückschlag. „Ich habe den Ärzten gesagt, dass ich mir wünsche, nicht mehr von der OP aufzuwachen“, erzählt die Rentnerin. „Aber stellt euch vor, sie hätten mich beim Wort genommen. Dann würde ich das hier alles verpassen! Ich hätte mich im Grab umgedreht.“
„Das hier“ ist nicht nur ihre 100. Geburtstagsfeier, sondern auch die Veröffentlichung ihres dritten Buches mit dem Titel „Was wäre wenn?“. Mit 96 Jahren hat die gelernte Hutmacherin und spätere Hausfrau einen neuen Berufsweg eingeschlagen und wurde Autorin. Davor hatte die Mutter eines Sohnes nie die nötige Zeit, um ein Buch zu schreiben.
Das Gute im Schlechten
Sich selbst beschreibt sie passenderweise als einen sehr ungeduldigen Menschen. „Ich habe nie im Heute gelebt, immer schon im Morgen, am besten Übermorgen“, sagt die gebürtige Escherin. Der Sturz hatte diesbezüglich etwas Gutes.
Er hat sie gelehrt, sich etwas zu bremsen und sich helfen zu lassen. Dass inzwischen jeder ihr nahelegt, sie solle langsam machen und aufpassen, geht ihr gegen den Strich. Und ganz auf die Bremse treten kann sie dann doch nicht. Den Rollstuhl braucht sie mittlerweile schon nicht mehr. Ihr nächstes Ziel ist es, nur noch mit dem Gehstock laufen zu können – und dafür übt sie täglich.
Die bevorstehende Veröffentlichung ihres dritten Buches hat sie vorangetrieben. Familienministerin Corinne Cahen (DP) beschreibt Finny als ein Vorbild und das beste Beispiel dafür, dass jeder, egal in welchem Alter, neue Projekte haben kann.
Eigentlich wollte die Rentnerin nur ein einziges Buch schreiben. Als ihr die Idee für eine zweite Geschichte einfiel, dachte sie sich: „Ach, vielleicht wird es noch fertig.“ In ihrem Alter wisse man schließlich nie, wie viel Zeit einem noch bleibt. Ehe sie sich versah, war auch schon das dritte Buch geschrieben.
Das endgültig letzte, wie Finny ankündigt. Ihre Werke hat die 100-Jährige allesamt auf der Hand geschrieben. „Auf der Schreibmaschine sehe ich nicht genug“, erklärt sie. In einem Nachmittag schreibe sie schon mal 15 Seiten. Ihre Handschrift wird dabei mit der Zeit immer unleserlicher. „Dann kann ich selbst nicht mehr lesen, was ich geschrieben habe.“
Diesmal hatte sich Finny vorgenommen, alles noch einmal in schöner Schrift abzuschreiben. Doch dann ging die Kreativität mit ihr durch: „Am Ende kam eine ganz andere Geschichte dabei heraus“, sagt sie und lacht dabei über sich selbst. Die erste Fassung habe ihr dann doch besser gefallen.
„Was wäre wenn?“
Die Idee zu „Was wäre wenn?“ ist der Autorin gekommen, als sie mit einer Freundin im Lallinger Cactus-Supermarkt war. Finny war nach dem gemeinsamen Ausflug auf den „Gaalgebierg“ etwas erschöpft und beschloss, im Auto zu warten, während ihre Freundin die Einkäufe erledigte.
Als sie wartet, beobachtet Finny auf dem Parkplatz eine Frau, die gerade ihre kleine Tochter in den Kindersitz ihres Wagens setzt. Dabei sei sie ganz hektisch gewesen. Erst vergaß sie, den Kofferraum zu schließen, dann bemerkte sie, dass sie den Einkaufswagen noch nicht zurückgebracht hatte. Sie stieg aus und brachte diesen zurück, ließ den Schlüssel allerdings stecken und ihre Tochter im Auto. Zudem traf sie noch eine Bekannte und begann ein Gespräch. Finny malte sich aus, was jetzt wäre, wenn – und schrieb kurzerhand ein Buch darüber. „Wenn die Frau, die ich damals beobachtet habe, die Geschichte liest, weiß sie bestimmt, dass es um sie geht“, sagt Finny.
Die Theatergruppe Namasté aus dem Escher „Lycée Hubert Clément“ hat sich zur offiziellen Geburtstagsfeier etwas Besonderes einfallen lassen. Sie hat einen Teil von Finny Cazzaros Buch als Theaterstück interpretiert und am Montag im Seniorenheim vorgetragen.
Die Idee hatte der 19-jährige Karim Gerin, der schon mehrmals im Seniorenheim gearbeitet hat. Dort hat er Finny kennengelernt. Bei der Veröffentlichung ihres zweiten Buches hat er daraus vorgelesen. Zum 100. Jubiläum musste es etwas Außergewöhnliches sein. Karim hat das neue Buch gelesen und daraufhin ein Stück für die siebenköpfige Theatergruppe seiner Schule geschrieben. Bei der Feier kam der Auftritt der Schüler richtig gut an.
Besonders Finny beobachtet die Jugendlichen mit konzentriertem Blick, als sie eine Szene aus ihrer Geschichte vortragen. Diese spielt in einem Gerichtssaal. Die Hauptperson Anne Winter ist wegen Kidnapping angeklagt. Das kleine Mädchen hat sie entführt, um ihrer Tochter ihr verstorbenes Kind wiederzubringen. „Wie das Urteil ausfällt, finden Sie heraus, wenn Sie Frau Cazzaros Buch lesen.“ Mit diesen Worten endet das Stück. Ein offenes Ende, das neugierig macht.
Karim jedenfalls hat das Buch sehr gut gefallen: „Wer Blut geleckt hat, liest ganz sicher weiter“, sagt der 19-Jährige.
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