Piratenpartei / Die innere Wut im Bauch: Sven Clement über Bergetappen, Netzpolitik und die Lust, zu sticheln
2009 gründet er auf der Suche nach einer neuen politischen Heimat die Piratenpartei und verlässt die Jungsozialisten. Seit 2018 sitzt Sven Clement (32) als Abgeordneter im Parlament und sorgt für Wirbel. Ein Gespräch über Bergetappen, Netzpolitik und die Lust, zu sticheln.
Tageblatt: Nach dem RTL-Urteil steht der Wind gut für die Piratensegel. Was kapern Sie als Nächstes?
Sven Clement: Die Piraten sind eine kritische, aber konstruktive Opposition. Ich habe das Gefühl, dass wir Fragen aufwerfen, die andere sich nicht trauen, zu stellen. Wir sind der frische Wind, der dafür sorgt, dass die vorher nur gekippten Fenster aus den Angeln fliegen.
Ist das RTL-Urteil ein Etappensieg? Es wäre ja sinnvoll, wenn Parlamentarier schon vor dem Abschluss solcher Verträge eingebunden würden, oder?
Grundsätzlich ja. Die Frage ist, unter welchen Bedingungen und wie das dann zu strukturieren wäre. Momentan bin ich froh, dass wir unseren Kontrollauftrag „ex post“ wahrnehmen können. Es war eine Bergetappe, die noch andere Fragen aufwirft.
Welche denn?
Es sind grundsätzliche Fragen. Ist unser Parlament groß genug? Ist unser Halbtagesparlament überhaupt noch zeitgemäß? Reicht die Freistellung von 20 Stunden die Woche aus? Ich frage mich das, obwohl ich der Meinung bin, Parlamentarier sollen eine Verbindung zu der realen Welt da draußen behalten.
Der Staatsauftrag an RTL ist finanziell mit rund 10 Millionen Euro pro Jahr dotiert. Das entspricht in etwa der gesamten restlichen Pressehilfe für alle Medien, die gerade reformiert wird. Werden sich die Piraten dazu äußern?
Ich selbst nicht, weil ich mit einer Minderheitenbeteiligung an einem Medium einen Interessenkonflikt habe. Die Piraten sind allerdings der Meinung, dass es eine starke unabhängige Presse braucht und dass das auch etwas kosten darf. Trotzdem darf die Presse nicht zu einer Staatspresse werden. Und wir denken, dass neue Initiativen wie Community-Radios, neue Webplattformen, Podcasts usw. genauso gefördert werden sollen wie traditionelle Medien.
Für das Urteil gab es nicht nur Lob, sondern auch heftige Kritik seitens der Industrie im Land. Beeindruckt Sie das?
Die Präsidentin der Fedil scheint auf einem anderen Planeten oder zumindest in einem anderen Jahrhundert zu leben als ich. Sie hat argumentiert wie ein Stahlbaron des 19. Jahrhunderts. Geht gar nicht.
War dieses Urteil notwendig, damit Parlamentarier ihre Rolle stärker reflektieren? Und „Durchregieren” in der Post-Coronazeit nicht zur Gewohnheit wird?
Jein. Das Urteil hat ganz klar die Opposition gestärkt. Ob es das Parlament gestärkt hat, bleibt abzuwarten. Wenn Abgeordnete einer Mehrheitspartei sagen, sie hätten bisher keinen Grund gehabt, die Regierung zu kontrollieren, dann macht mir das wenig Hoffnung.
Die Piraten fordern mehr Koordination und Abstimmung bei den Covid-Maßnahmen. Was würden Sie anders machen?
Wir würden einen Stufenplan einführen, der für Vorhersehbarkeit sorgt. Er definiert, bei welchen Inzidenzen Maßnahmen greifen und welche gelockert werden. Die Covid-Krise wird gerne mit einem Marathon verglichen und die Regierung managt sie als Staffellauf mit Kurzsprints, wenn es um neue Gesetze geht.
Sie fordern eine andere wissenschaftliche Basis ein …
Ich würde überhaupt mal eine wissenschaftliche Basis für Entscheidungen bezüglich Covid-19 einfordern. Der Effekt der nächtlichen Ausgangssperre ist bei geschlossenen Gaststätten und Kontaktbeschränkungen wissenschaftlich nicht belegt. Die Studien dazu liegen vor. Wir wünschen uns, dass die Regierung die wissenschaftliche Basis ihrer Vorhersagen endlich veröffentlicht.
Ist das Verschlüsselungsverbot, dass die EU erlassen will, eigentlich durch? Das betrifft WhatsApp und andere Messengerdienste. Ihre Partei hat heftig dagegen opponiert …
Da sind wir bei den Gründen, warum ich die Piraten gegründet habe. Das Verschlüsselungsverbot wird von Menschen gefordert, die keine Ahnung von der Technologie haben. Sie meinen, sie könnten sie regulieren ohne Nebeneffekte. Unglaublich.
In Deutschland ist die Piratenpartei nach einem Hoch 2012 praktisch von der Bildfläche verschwunden. Was machen die luxemburgischen Piraten anders?
Wir haben nicht den Fehler gemacht, uns schon 2013 wählen zu lassen. Wir haben die fünf Jahre bis zum ersten Sitz im Parlament gebraucht, um als Partei erwachsen zu werden. Und wir konnten von den Fehlern der deutschen Piraten lernen.
Die Piraten haben bei der letzten Nationalwahl 6,45 Prozent der Stimmen eingefahren und wollten nie etwas anderes als in die Opposition. Lässt sich von da aus besser Politik machen?
Die Opposition ist eine gute Schule für neue Parteien und neue Abgeordnete. Es ermöglicht ein klares Profil und es ermöglicht es uns, die innere Wut im Bauch zu behalten, was sich ändern muss. Ich schließe Regierungsverantwortung aber nicht aus.
Schauen Sie auf der Oppositionsbank derzeit eher nach links oder rechts, wer da sonst noch so sitzt?
Ich habe den Vorteil, links von mir ist im Moment eine Mauer. Die ADR sitzt hinter mir, die Linke sitzt ganz weit weg und die CSV sitzt rechts von mir. Ich schaue auf das Rednerpult.
Und ernsthaft?
Wir sind eine Mitte-links-Partei, sozial-liberal im Kern. Bei der CSV wäre die Frage angebracht, auf welche CSV schauen wir? Mit der Linken verbindet uns sehr viel, wenn es um Grundrechte geht. Und mit der aktuellen ADR sehe ich sehr wenige bis gar keine Schnittmengen.
13 parlamentarische Fragen zwischen Schnelltests im Sportbereich oder ungleichen Renten für Männer und Frauen in einem Monat. Was bedeuten parlamentarische Fragen im Rahmen Ihrer Oppositionsarbeit?
Es geht uns um den Willen nach Information. Wir wollen die Regierungspolitik verstehen. Wohl auch deswegen hat sich die Zahl der parlamentarischen Fragen mit dem Einzug der Piraten ins Parlament verdoppelt. Wenn wir den Premier fragen, ob es Sinn ergibt, dass ein Presseorgan in den Statuten seiner Partei aufgelistet ist, dann ist das die Lust am Sticheln.
Der Rechnungshof hat die Piraten kritisiert. Wahlspenden, Abrechnungen, alles ein bisschen chaotisch. Wie geht die Partei damit um?
Besser. Wir haben aber gegen die Einschätzung des Rechnungshofes geklagt. Ich teile die Auffassung nicht, dass bei uns Spenden falsch gebucht wurden. Ich bin vielmehr der Meinung, dass andere Parteien sehr intransparent mit den persönlichen Kampagnen ihrer Mandatsträger umgehen. Deren Facebook-Werbung oder Flyer in den entsprechenden Ortschaften findet man nicht in der Buchführung der Partei wieder.
Sie sind erst 32 Jahre alt und schon Ehrenpräsident der Partei. Ist das nicht ein bisschen früh?
Nach zehn Jahren als Präsident gibt es das halt. Der Posten wurde ja abgeschafft und durch ein Sprecherinnenteam ersetzt.
In der Hauptstadt haben die Piraten es bei den letzten Wahlen nicht in den Gemeinderat geschafft. Wie erklären Sie sich das?
Es lag meiner Meinung nach nicht am Zuspruch für die Idee von Politik der Piraten. Ich glaube eher, dass es dem luxemburgischen Wahlsystem geschuldet ist, weil wir nicht genügend Promis und Sternchen auf der Liste hatten.
Die nächsten Wahlen werfen ihre Schatten voraus. Wo setzen Sie Akzente?
Ich gehe davon aus, dass wir es dieses Mal schaffen, in genügend Gemeinden eine komplette Liste aufzustellen. Dann kommen wir in den Genuss einer Einladung zu den Rundtischgesprächen. Das wird sich auf das Wahlresultat niederschlagen.
Sie gelten als guter Redner. Haben Sie das in der Studentenvertretung der Universität des Saarlandes als Piratenabgeordneter gelernt?
Auch. Ich hatte immer schon eine große Klappe. Anscheinend habe ich sehr lange gar nicht gesprochen, hat meine Mutter immer erzählt. Dann habe ich nicht mehr aufgehört. Ich habe Schülerradio im Lyzeum gemacht, ich war als Student sehr aktiv und habe in meiner Jugend das Taschengeld aufgebessert, indem ich in der Fußgängerzone gezaubert habe. Ich hatte also genug Zeit, den Umgang mit Menschen zu lernen.
Was für ein Luxemburg wünschen Sie sich?
Es wäre ja jetzt einfach, unseren Wahlslogan zu nehmen und zu sagen: „Fair und modern.“ Wir brauchen ein offenes, transparentes, gerechtes Luxemburg. Wir brauchen eine Gesellschaft, die inklusiv ist. Es frustriert mich, zu sehen, dass der Reichtum von manchen auf dem Rücken anderer verdient wird. Die Herkunft des Reichtums wird hier nicht hinterfragt und die Nebeneffekte schon gar nicht.
Sie sind Unternehmer im Bereich digitale Kommunikation. Was macht mehr Spaß: Wirtschaft oder Politik?
Es ergänzt sich. Oppositionspolitik ist eine Kontrollfunktion, keine gestaltende Funktion. Das Unternehmertum ist gestalterisch und erlaubt gerade im digitalen Bereich, Neues zu kreieren. Das Unternehmertum erdet mich und zeigt mir, wo die schönen Worte eines Ministers nicht so umgesetzt werden, wie sie klingen.
Zur Person
Sven Clement ist 1989 geboren, hat Wirtschaftsinformatik an der Universität des Saarlandes studiert und ist Mitgründer der Piratenpartei in Luxemburg. Ab 2009 ist er deren Präsident und macht 2019 der neuen Doppelspitze Platz. Zwei Jahre ist er Schatzmeister der Europäischen Piratenpartei, seit 2018 sitzt er als einer von zwei Piratenabgeordneten im luxemburgischen Parlament. Seine Aktivitäten und Einkünfte sind öffentlich.
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Sven Clement: ein engagierter Politiker, der den Sachen auf den Grund geht, der die richtigen Fragen stellt ohne polemisch zu werden. Ob er es mit seiner Geradlinigkeit und seinem Einsatz in einer der etablierten Parteien weit bringen würde, wage ich zu bezweifeln. Ein junger, dynamischer und vertrauenswürdiger Mann, der zu überzeugen weiss.