Naher Osten / Die Kinder der Nakba – die Vorgeschichte eines jahrzehntelangen Konflikts
Außen- und Kooperationsminister Xavier Bettel hat bei seinem Arbeitsbesuch in Jordanien einen Eindruck von der Situation der Flüchtlinge in dem arabischen Land bekommen. Die meisten von ihnen sind Palästinenser. Sie sind Opfer eines Konflikts, der lange zurückreicht.
Als Terroristen der islamistischen Palästinenserorganisation Hamas und anderer bewaffneter Gruppen am 7. Oktober 2023 aus dem Gazastreifen die Sperranlagen zu Israel überwanden, etwa 1.200 Menschen töteten und mehr als 230 Geiseln nahmen, handelte es sich um den größten Massenmord an Juden seit dem Holocaust. Das Attentat versetzte die israelische Gesellschaft in einen Schockzustand. Israels Regierung unter Führung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu reagierte daraufhin mit einem beispiellosen militärischen Einsatz in Gaza. Israels Armee eröffnete in der Nacht auf den 28. Oktober mit einer Bodenoffensive die zweite Phase der Militäroperation – mit dem Ziel, die militärischen Fähigkeiten der das palästinensische Autonomiegebiet beherrschenden Hamas zu vernichten.
Seit dem Beginn des Krieges hat sich die Situation zu einer humanitären Katastrophe zugespitzt. Wie Jordaniens Außenminister Ayman Safadi am vergangenen Donnerstag bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit seinem luxemburgischen Amtskollegen Xavier Bettel in Amman sagte, starben durch die israelischen Angriffe rund 39.000 Palästinenser, schätzungsweise 70 Prozent davon Frauen und Kinder. Angesichts der fortdauernden Eskalation des Konflikts stellt sich einmal mehr die Frage nach dessen Folgen für die gesamte Region. Seine historischen Ursprünge sind zwar bereits vor der Unabhängigkeit Israels im Jahr 1948 zu finden, als sich Großbritannien aus Palästina zurückzog. Allerdings hat der Krieg, den die arabischen Nachbarn dem neugegründeten Staat damals erklärten und aus dem Israel siegreich hervorging, eine entscheidende Bedeutung.
„Für die arabische Bevölkerung Palästinas waren die Staatsgründung Israels, der erste israelisch-arabische Krieg und die arabische Niederlage eine Katastrophe – auf arabisch: Nakba“, erklärt Muriel Asseburg, Nahost-Expertin bei der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, in ihrem Buch „Palästina und die Palästinenser“ (2021). Bis zu einer Dreiviertelmillion Menschen verließen damals das heutige Gebiet des israelischen Staates, vorwiegend nach Gaza und ins Westjordanland, aber auch in den Libanon, nach Syrien und nach Jordanien. „Die Erinnerung an das Unrecht von 1948 prägte und prägt als kollektives Trauma die palästinensische Gesellschaft bis heute“, so Asseburg. In jener Zeit kam es zu Massakern an der arabischen Zivilbevölkerung, wie etwa in Deir Jassin im Nordwesten Jerusalems am 9. April 1948, verübt von zionistischen Gruppen. Es wurde gefoltert, vergewaltigt und geplündert. Und es gab Racheakte gegenüber Juden.
„Nakba“ und „Naksa“
Mit dem Krieg vom 5. bis zum 10. Juni 1967, dem sogenannten Sechstageskrieg zwischen Israel und den arabischen Staaten Ägypten, Jordanien und Syrien, und der israelischen Eroberung des Gazastreifens und des Westjordanlandes sowie Ost-Jerusalems folgte ein weiterer Massenexodus von Hunderttausenden Menschen. Die Palästinenser sprechen, in Anlehnung an „Nakba“, von „Naksa“, von einem Rückschlag. Zwar hatte ihnen die UN-Generalversammlung in einer Resolution aus dem Jahr 1948 das Recht zugestanden, in ihre Heimat zurückzukehren. Allerdings lehnte die israelische Regierung die Rückkehr kategorisch ab. Während jüdische Bewohner ein Rückkehrrecht hatten, schloss ein Gesetz von 1950 die geflohenen Araber sogar von der israelischen Staatsbürgerschaft aus.
Wie aus Dokumenten des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) hervorgeht, ist die Zahl der bei ihr registrierten Flüchtlinge bis heute auf rund 5,6 Millionen angewachsen. Zu diesen gehören die Eltern von Nagla. „Sie flohen aus Gaza nach Jordanien“, sagt die junge Frau, die in die Bibliothek des Wadi Seer Training Centre (WSTC) in Amman gekommen ist, um über das Schicksal ihrer Familie zu sprechen. „Meine Eltern haben mir immer davon erzählt. In unserer Familie sprechen wir viel über Gaza. Es erfüllt mich mit Schmerz, wenn ich höre, dass so vieles zerstört wurde. Obwohl ich hier in Jordanien geboren bin und noch nie in Gaza war, träume ich von dort.“
Im WSTC in der jordanischen Hauptstadt bietet die seit 75 Jahren bestehende UNRWA, die ihren Hauptsitz in Amman hat, jungen Palästinensern Ausbildungen und Schulungen in verschiedenen Berufen an. Wie Asseburg betont, leistet die UNRWA nicht nur „humanitäre Hilfe in den palästinensischen Gebieten und den Nachbarstaaten und bietet umfassende Dienstleistungen – insbesondere in den Bereichen Bildung und Gesundheit – an“. Zudem fungiere die rund 30.000 Mitarbeiter zählende Organisation als wichtiger Arbeitgeber. Von zukünftigen Architekten bis zu Mechanikern, die UNRWA gibt ihnen eine Perspektive.
Das seit 2020 von dem Schweizer Philippe Lazzarini geleitete Hilfswerk erhielt im Januar Hinweise von Israel, dass bis zu einem Dutzend UNRWA-Mitarbeiter am Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober beteiligt gewesen sein sollen. Ein Untersuchungsbericht über die Neutralität der UNRWA hat keine größeren Missstände in dem Hilfswerk feststellen können. Dieses sei „unersetzlich und unentbehrlich“, heißt es im „Colonna-Bericht“, benannt nach der früheren französischen Außenministerin Catherine Colonna, der Vorsitzenden der Untersuchungskommission. Der Organisation sei, bestätigt Muriel Asseburg, „eine bedeutende Rolle beim Erhalt regionaler Stabilität erwachsen“.
Der Schlüssel als Symbol
Viele Palästinenser bewahren bis heute die Schlüssel ihrer Häuser auf, die sie einst verließen. Der Schlüssel ist zum Symbol ihrer Sehnsucht geworden. Mit der Nakba verschwanden die Palästinenser zwar eine Zeit lang als selbstständige Akteure von der politischen Landkarte. Doch im Untergrund, in Flüchtlingslagern und Universitäten bildeten sich nationalistische Gruppierungen. Dazu gehörte die Generalunion Palästinensischer Studenten (GUPS), zu deren Präsident 1952 Jassir Arafat an der Universität Kairo gewählt wurde.
Dieser steht wie kaum ein anderer für den bewaffneten und politischen Kampf zur Befreiung Palästinas. Arafat war auch einer der Gründer der „Bewegung zu einer nationalen Befreiung Palästinas“ (Fatah), die im Oktober 1959 in einer Kuwaiter Wohnung ins Leben gerufen wurde und sich an den antikolonialistischen Befreiungsbewegungen in Algerien, Kuba und Vietnam orientierte. Darunter war außerdem Mahmud Abbas, seit November 2008 Präsident des von einigen westlichen Staaten nicht anerkannten Staates Palästina.
Als offizielle Vertretung der Palästinenser wurde 1964 die Palestine Liberation Organization (PLO) gegründet. In einer Charta von 1964 gab sie das Ziel vor, ganz Palästina zu befreien, in einer weiteren fügte sie den bewaffneten Kampf als „einzigen Weg“ hinzu. Arafat übernahm 1969 ihren Vorsitz. Wie der langjährige PLO-Vertreter in Deutschland, Abdallah Frangi, einmal sagte, war „die PLO die Karosserie, die Fatah der Motor“. In Jordanien hatte die PLO ihr Hauptquartier bezogen, in Amman kontrollierte sie ganze Viertel.
„Schwarzer September“
Kommunistische Palästinensergruppen wie die PFLP stellten die Gesetze des Landes infrage und riefen zum Sturz der Monarchie auf. Doch mit einigen spektakulären Flugzeugentführungen wurde das Fass zum Überlaufen gebracht. König Hussein I., Vater des heutigen Königs Abdullah II., verhängte das Kriegsrecht. Mitte September 1970, später „Schwarzer September“ genannt, stürmten jordanische Truppen palästinensische Flüchtlingslager und die von der PLO kontrollierten Stadtteile Ammans. Dabei starben mehr als 3.500 PLO-Kämpfer, aber auch Zivilisten. Arafat setzte sich nach Syrien ab.
Der PLO-Chef verfolgte später zunehmend einen diplomatischen Ansatz, während in Israel die von der nationalkonservativen Likud-Partei geführte Regierung den Siedlungsbau im Westjordanland vorantrieb. Die Konfrontationen eskalierten erneut mit dem palästinensischen Aufstand im Dezember 1987, der ersten Intifada. Im Gazastreifen entstand unterdessen die Hamas. Sie verband das Streben nach der nationalen Unabhängigkeit mit der Islamisierung der Gesellschaft und wurde vor allem in Gaza eine fest verankerte Massenorganisation und zum Hauptkonkurrenten von PLO und Fatah. Während die Hamas auf Gewalt setzte, beschränkte sich die PLO, die 1988 im Exil die Unabhängigkeit ausrief, in ihren Forderungen zunehmend auf die 1967 von Israel besetzten Gebiete.
Die beiden Oslo-Abkommen von 1993 und 1995 regelten die Fragen der Selbstverwaltung im Gazastreifen und Westjordanland. Doch die Fragen nach dem endgültigen Status blieben ungeklärt, weshalb sich die Frustration im Jahr 2000 in der zweiten Intifada entlud. Sechs Jahre später gewann die Hamas die Kommunalwahlen in Gaza und übernahm dort 2007 die Macht. Auch wenn sie sich zwischenzeitlich pragmatischer zu geben schien: Der Überfall vom 7. Oktober 2023 machte jede Hoffnung zunichte. Auch Netanjahu zeigte kein ernsthaftes Interesse mehr an einer friedlichen Einigung. Eine Zweistaatenlösung von der Koexistenz eines israelischen und eines palästinensischen Staates, die auch beim Besuch von Xavier Bettel in Jordanien von beiden Außenministern präferiert wurde, ist in weite Ferne gerückt.
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