Belletristik / Die Lust am Wort: Mit ihrem letzten Werk setzte sich Friederike Mayröcker ein Denkmal
Die berühmte Autorin Friederike Mayröcker ist im Juni 2021 gestorben. Ihr letztes Werk „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ war für den diesjährigen Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Der lyrisch-avantgardistische Text handelt von dem Leben der Autorin, aber auch – und vielleicht vor allem – von ihrer primären Leidenschaft: der Sprache.
Die österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker ist am 4. Juni 2021 gestorben. Sie wurde 96 Jahre alt, schrieb mit 15 Jahren – das heißt zum Zeitpunkt des Kriegsausbruchs 1939 – ihre ersten literarischen Texte, übte von 1946 bis zu ihrer Dienstfreistellung 1969 den Lehrerberuf aus, verfasste nebenher und vor allem danach Lyrik, Prosa und Hörspiele und gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Dieses Jahr schaffte sie es mit ihrem letzten Werk auf die Shortlist des mit 60.000 Euro dotierten Preises der Leipziger Buchmesse. „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ heißt der Titel des Werks, das in der Presse unter anderem als „eine Art lyrisches Tagebuch“ beschrieben wurde.
In der Tat lässt sich der Text lesen wie ein einziges Gedicht, den formalen Übernahmen aus der Tagebuch- oder Briefliteratur zum Trotz. Gegliedert in einzelne, mit einem Datum markierte Einträge, umfasst er eine Zeitspanne von rund zwei Jahren – der erste Vermerk ist auf den 22. September 2017, der letzte auf den 3. November 2019 datiert. Die Passagen bestehen aus einem ungeordneten Geflecht aus persönlichen Notizen und Einschüben („diese zwei Wochen waren verheerend, ich meine, bin fassungslos.“), Beobachtungen, Erinnerungen und persönlichen Anreden („liebe Isel, male mir eine FANTASIA v. Madrid“).
Mit der Schriftstellerin zusammen begibt sich der Leser auf Spurensuche nach den großen und kleinen Inhalten eines gelebten Lebens, das sich fast über ein ganzes Jahrhundert erstreckte. Der Text ist eine Rückschau in Fragmenten, ein Über-die-Schulter-Blicken auf vergangene Lebensabschnitte – mitsamt ihren Irrungen und Wirrungen –, zugleich ein Erfassen der Gegenwart in Form eines lyrischen Protokolls, das durch seinen atemlosen Rhythmus an die Methode der Ecriture automatique erinnert. Mit fast stenografischer Schnelligkeit hält Mayröcker fest, was sie hört, sieht, schmeckt, riecht, denkt und, in doppeltem Sinne, fühlt – manchmal in synästhetischer Überblendung. Damit ist „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ ein nuancierter Bericht über das Dagewesene und das Gegenwärtige, eine Würdigung des komplexen wie auch schwierigen Alterungsprozesses und, vielleicht an erster Stelle, ein mit fast unverschämter Begeisterung verfasster Lobgesang auf die Leidenschaft Mayröckers, die sie bis zu ihrem Tod nicht losließ: das Wort und die Schrift, das Zeichen und seine Bedeutung.
Das Entgleiten der Worte
Sprachexperiment und Sprachhuldigung ist das Werk der Österreicherin, die durch ihren normverbiegenden, frischen und belebten Stil selbst fast jugendlich erscheint. Spielerische Lust am Wort geht einher mit sprachtheoretischer Reflexion („dieser Text ist eine Abstraktion, sagst du“), als überdeutlicher Wink fungiert dabei die mehrmalige Nennung von poststrukturalistischen Theoretikern wie Deleuze oder Derrida. Mayröcker möchte die Sprache „baumeln“ lassen, „die Worte als Worte ausstellen, ohne ihren Sinn zu entfalten“, knüpft auf lautlichen Ähnlichkeiten beruhende Assoziationsketten mit einer selbstgenügsamen Leichtigkeit, die deutlich macht: Hier schreibt jemand, der seine auf jahrzehntelanger Übung beruhende Meisterschaft hinlänglich bewiesen hat. Der, wie seine Sprache selbst, nicht mehr nach äußerer Legitimation oder Bestätigung fragt, der sie durch seine zum Teil entrückt wirkende Undurchdringlichkeit geradezu überflüssig macht. In ihrem Text – über ihren Text – schreibt Mayröcker, „es geht um NICHTS und es geht um ALLES, vielleicht polyphon, es geht um Sensation“.
Sprachekstase und Sprachmagie, Sprachschwund und Sprachzerfall sind die Pole, zwischen denen die Dichterin mäandert. Die Sprache an sich nennt sie „verwunschen“ und – nach der Art chiffrierter Poesie – „eine Krähe“ (die gleichwohl eine ausgestopfte Krähe ist). Lauscher und Lauscherinnen sollen gar nicht erst versuchen, das „Geheimnis dieses Textes“ zu lüften, denn allseits sind es „Fäden, v. Malerei, meine Erfahrungen zu erfühlen oder zu hexen ich meine zu hexen: ich schmecke diese Erfüllung v. Sprache“. Hier findet die Inbrunst der Künstlerin ihren Höhepunkt – und doch: „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ ist ein Abgesang auf ein in Sprache radikal ausgelebtes Künstlertum, das sich auch mehr und mehr an den Begrenzungen, die das fortschreitende Alter setzt, stößt.
Der Sprache verfallen
Wiederholt beklagt Mayröcker, dass ihr Wörter entschwinden würden, dass sie in Vergessenheit gerieten, genauso wie die Titel der Bücher, die sie selbst schrieb. „[V]ieles ist mir verlorengegangen“, stellt die Dichterin fest und ihre Ernüchterung erinnert an die des Lord Chandos, dessen Worte ihm bekanntermaßen im Mund zerfielen wie modrige Pilze. Dabei ist die bei Mayröcker diagnostizierte Sprachzerrüttung keine systemische – der Zauber des Wortes bleibt bei ihr ungebrochen –, sondern ihr persönliches Schicksal, eine Alterserscheinung, der sie nicht entrinnen kann, Teil der Ästhetik ihres „miszlungenen Lebens“. „[M]ein Innerstes ist wie früher nur meine Leibhaftigkeit ist mühselig geworden“, schreibt die Autorin, zwischen sprachverzücktem Verliebtheitstaumel und altersbedingter Gebrechlichkeit hin und her treibend. Die Frage, ob die Poesie „uns allesamt retten [wird] vor dem Unheil unserer Zeit“, lässt sie unbeantwortet.
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Der an Sprachreflexion gekoppelten Trauer um den Verlust körperlicher und geistiger Kräfte räumt Mayröcker in ihrem autofiktionalen Text ebenso viel Platz ein wie der wohlwollenden Rückschau auf glückliche Kindheitstage und Episoden aus ihrem Leben als (jüngere) Erwachsene. Mit ihrem Werk, das eine tosend-hymnische Sprachgewalt offenbart, setzte sich die verstorbene Dichterin letztlich selbst ein Denkmal. Durch seine Dichte gibt es Aufschluss darauf, wie reichhaltig der Blick sein kann, den ein fast hundertjähriges Augenpaar auf sich selbst, die eigene erlebte Vergangenheit und eine sich ständig verändernde Welt richtet. Mit „da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete“ bewies Mayröcker, dass sie – ungeachtet ihres Haderns mit den Gebrechen des Alters – nicht anders konnte, als bis zuletzt „die Welt der Liebe abzubilden“.
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