Gewalt gegen Frauen / Die „Mammutaufgabe“: Ministerium arbeitet an einem nationalen Aktionsplan gegen geschlechtsspezifische Gewalt
Eine von drei Frauen in Europa erfährt in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt. Die Statistiken zu geschlechtsspezifischer Gewalt sind erdrückend, doch trotz ratifizierter Istanbul-Konvention hinkt die Politik in vielen Ländern der Realität hinterher. In Luxemburg ist Gleichstellungsministerin Backes dabei, einen nationalen Aktionsplan gegen Gewalt aufzusetzen.
An einem kalten Montagmorgen im Januar haben sich mehr als 120 Menschen in einem Tagungsgebäude hoch oben auf den Hängen über der Mosel in Remich versammelt, um über Gewalt zu sprechen. Es ist die erste Konferenz über geschlechtsspezifische Gewalt, die das Ministerium für Gleichstellung und Diversität organisiert. Ministerin Yuriko Backes (DP) steht vorne am Rednerpult, spricht von einem „historischen Moment“. Der Saal ist voll, Expertinnen und Experten von mehr als 60 Institutionen sind gekommen, zivilgesellschaftliche Organisationen, Ministerien. Am Nachmittag werden sie in kleinen Workshops zu Themen arbeiten wie Ausbildung, Sensibilisierung und Information, Umgang mit Tätern und Opfern sowie Datenerhebung und Forschung.
Mit diesem „partizipativen Ansatz“ möchte Ministerin Backes einen ersten nationalen Aktionsplan für geschlechterspezifische Gewalt erstellen. Einen Plan, der über eine reine Strategie hinausgehen soll – mit konkreten Maßnahmen und Projekten vor Ort. Ein erster Schritt zeigt sich in einem Pilotprojekt, das im April starten wird (s. Infokasten): Das Ministerium hat sich zum Ziel gesetzt, eine zentrale nationale Anlaufstelle für alle Opfer von Gewalt zu schaffen. „Das gibt es in anderen Ländern, in Luxemburg gibt es das noch nicht“, sagt Backes. Die Zeit dafür ist schon lange reif.
Eine von drei Frauen in der EU hat in ihrem Leben körperliche Gewalt, sexuelle Gewalt oder Drohungen erlebt. Eine von drei Frauen ist an ihrem Arbeitsplatz sexuell belästigt worden. Eine von fünf Frauen hat körperliche oder sexuelle Gewalt durch ihren Partner, einen Verwandten oder ein anderes Mitglied ihres Haushalts erlebt. Eine von sechs Frauen hat in ihrem Erwachsenenleben sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, erlebt. Nur eine von acht Frauen hat einen dieser Vorfälle bei der Polizei angezeigt.
Das ist nur eine Auswahl der Ergebnisse einer EU-weiten Studie über geschlechtsspezifische Gewalt, die in den Jahren 2020 bis 2024 von Eurostat, der EU-Agentur für Grundrechte (FRA) und dem Europäischen Institut für Gleichstellungsfragen (EIGE) durchgeführt wurde. Mehr als 100 Millionen Frauen zwischen 18 und 74 Jahren haben an dieser Studie teilgenommen. Diese Zahlen sind neu – und sie sind es doch wieder nicht.
Luxemburg und die Istanbul-Konvention
Seit Jahren ist bekannt, wie weit verbreitet Gewalt gegen Frauen in unseren Gesellschaften ist. Die Zahlen ähneln sich. In Deutschland sterben jedes Jahr mehr als 100 Frauen durch die Hand ihres Partners oder Ex-Partners. Das bedeutet: Jeder dritte Tag ein Femizid, die Tötung einer Frau, weil sie eine Frau ist. Die Dringlichkeit des Themas ist statistisch mehr als belegt, sie ist erdrückend. Schon 2011 wurde das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt ins Leben gerufen, die sogenannte „Istanbul-Konvention“. 2018 wurde sie von Luxemburg, 2023 von der EU ratifiziert. Bei der tatsächlichen Anwendung in den einzelnen Mitgliedstaaten gibt es jedoch noch immer einigen Nachholbedarf – auch in Luxemburg.
2023 hatte die Grevio, ein Expertengremium des Europarats, die Umsetzung der Istanbul-Konvention im Großherzogtum analysiert – ihr Urteil war durchwachsen. In Luxemburg gebe es keine klare Definition von Gewalt gegen Frauen. Der Tatbestand Femizid taucht weder im Strafgesetzbuch auf noch in Statistiken. Die Grevio kritisierte außerdem, der Fokus in Luxemburg liege zu sehr auf häuslicher Gewalt, allen anderen Gewaltformen, die in der Istanbul-Konvention aufgeführt sind, werde nicht ausreichend Beachtung geschenkt.
Die Ministerin scheint die Kritik des Expertengremiums des Europarats erst genommen zu haben. Gleich zu Beginn der Konferenz spricht Anna Matteoli, Rechtswissenschaftlerin, über die verschiedenen Arten der Gewalt, die in der Istanbul-Konvention festgehalten sind. Sie zeigt auf, wie komplex das Feld ist. Neben körperlicher, psychischer und emotionaler Gewalt betont Matteoli besonders den Aspekt der ökonomischen Gewalt, den die Istanbul-Konvention erstmals explizit als Form von Gewalt benennt. Darunter werden alle Handlungen gefasst, die darauf abzielen, einen Partner oder eine Partnerin finanziell abhängig zu machen. Gewalt treffe Frauen und Minderheiten meist zuerst, so Matteoli, weil Gewalt das Resultat von gesellschaftlicher Ungerechtigkeit sei. Für den Luxemburger Aktionsplan gegen geschlechterspezifische Gewalt bedeutet das, dass es sich im Grunde also auch um einen Aktionsplan gegen soziale Ungerechtigkeit handeln müsste.
Eine „Mammutaufgabe“ nennt Ministerin Backes das Unterfangen dann auch – nicht zuletzt für das kleinste aller Luxemburger Ministerien. „Das müssen wir angehen, auch wenn es schwer ist“, sagt Backes. Luxemburg sei keine Bubble, man müsse von Fällen wie dem von Gisèle Pelicot in Frankreich lernen, um sich auch präventiv besser aufzustellen. Pelicot wurde über Jahre von ihrem Ehemann betäubt und von ihm und zahlreichen anderen Männern vergewaltigt. Der Prozess, der in diesem Jahr in Avignon geführt wurde, nahm weltweit Einfluss auf die Debatte über sexualisierte Gewalt. Auch Matteoli spricht den Fall Pelicot an: als Beispiel dafür, dass sexualisierte Gewalt alle Gesellschaftsschichten durchdringt.
Der Backlash der „Tech-Bros“
In Remich betont die Ministerin die Bedeutung der Kooperation der verschiedenen Akteure beim Aktionsplan. Ihr eigenes Ministerium übernehme zwar die Koordination, doch andere müssten auch „an Bord“ sein. Von der Justiz über Gesundheit und Inneres bis zur Bildung. Man müsse jung anfangen, so Backes, um den Kindern das Richtige mit auf den Weg zu geben. „Bildung ist in diesem Prozess ganz wesentlich“, sagt die Ministerin.
Auch und vor allem, weil es positive Vorbilder für Jungen und Männer braucht. Gewalt gegen Männer wird auf der Konferenz in Remich auch in verschiedenen Wortmeldungen thematisiert. Doch kaum jemand drückt es so deutlich aus wie eine Frau kurz vor Ende des Vormittags. Auch Gewalt gegen Männer gehe vor allem von Männern aus, sie seien der Urheber in den meisten Fällen von gewalttätigen Übergriffen. Offensichtlich also, dass Sensibilisierungsarbeit und Prävention auch bei ihnen ansetzen muss.
Backes’ „Mammutaufgabe“ erhält damit eine weitere Schwierigkeit. Vorbilder, die ihre Männlichkeit nicht über Dominanz definieren, haben es in der Welt aktuell schwer. Denn diese hat sich in den vergangenen Jahren ganz schön re-maskulinisiert. Kommt jetzt der Backlash gegen die Emanzipationsgeschichte? Macher-Machos wie Trump oder Putin treiben die Nachrichtenlage vor sich her. „Tech-Bros“ wie Meta-Chef Mark Zuckerberg faselt von „maskuliner Energie“, die es zurückzugewinnen gelte. „Es gibt ganz viel Pushbacks auf geschlechterpolitische Themen, auf Frauenrechte, auf Minderheitenrechte“, sagt Backes.
Als Verteidigungsministerin ist Backes selbst jeden Tag mit dem Stereotyp konfrontiert, Verteidigung sei nur etwas für „starke Männer“. Dem kann die Ministerin nur widersprechen: „Derjenige, der heute einen Krieg gewinnt, ist nicht unbedingt der physisch Stärkste, sondern der Schlauste.“ Zu Verteidigung zählen längst Bereiche wie Satellitentechnik oder Cyberabwehr – alles Jobs, in denen Frauen genauso gute Leistungen bringen können wie Männer.
Nicht nur sind diese Stereotype überholt, sie verfestigen auch geschlechtsspezifische Vorstellungen von Dominanz und Unterwerfung – und damit gesellschaftliche Ungerechtigkeit. „Toxische Männlichkeit ist ein Problem in unserer Gesellschaft und über unsere Grenzen hinaus“, sagt Backes. Ein Problem, das man „an der Wurzel“ anpacken müsse. Welche Rolle die „Mammutaufgabe“ eines Aktionsplans gegen Gewalt dabei spielen kann, wird sich zeigen.
Gewalt gegen Frauen ist auch Thema in der Chamber
„Die Täter sind mehrheitlich Männer, die Opfer sind mehrheitlich Frauen.“ Die Rede Marc Baums („déi Lénk“) zum Thema genderspezifische Gewalt beginnt mit der einfachen, brutalen Wahrheit. Darüber hinausgehende wissenschaftliche Erkenntnisse zur Situation in Luxemburg sind rar. Doch genderspezifische Gewalt ist auch hierzulande ein großes Problem, darin sind sich nahezu alle Rednerinnen und Redner bei der Parlamentsdebatte am Dienstag einig. Und darin, dass man Betroffene viel besser unterstützen muss, auch. Es braucht mehr Plätze in Frauenhäusern, bessere und schnellere Hilfe in finanzieller, psychologischer und juristischer Hinsicht und vor allem eine bessere Sensibilisierung in Behörden, Gerichten und Schulen. Frauen, die auf den Aufenthaltsstatus ihres Mannes angewiesen sind, begeben sich in Gefahr, ausgewiesen zu werden, wenn sie sich an die Behörden wenden, berichtet Baum. Auch afro-luxemburgische Frauen, die häufig unterhalb der Armutsgrenze leben und rassistische Erfahrungen mit Behörden machen mussten, erreichten die Hilfsangebote nicht. Gleichstellungsministerin Backes verspricht eine integrierte Anlaufstelle für Opfer. Dort sollen Hilfsangebote in medizinischer, psychologischer und juristischer Form gebündelt werden. Im April soll ein Pilotprojekt starten. Um die Datenlage zu verbessern, nimmt die Chamber Baums Antrag, Kriminalfälle nachträglich auf genderspezifische Gewalt hin analysieren zu lassen, einstimmig an. Auch für eine bessere Prävention und Sensibilisierung spricht sich die Chamber aus. (so)
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