Schwerpunkt KI / Die nächste große Revolution: Wie KI Identität und Authentizität infrage stellt
Künstliche Intelligenz ist hier, sie wird nicht wieder verschwinden und sie wird nach und nach alle Lebens- und Arbeitsbereiche durchdringen. Das hat Auswirkungen auf unsere Vorstellungen von der Welt und was es bedeutet, Mensch zu sein. Der erste Teil unseres Schwerpunktthemas – über Kreativität, Identität und Authentizität.
14 Millionen Jobs. So viele Arbeitsplätze werden in den nächsten fünf Jahren weltweit verschwinden. Zumindest wenn es nach dem Weltwirtschaftsforum und seinem aktuellen Bericht zur Zukunft der Arbeitswelt geht. 14 Millionen Jobs oder zwei Prozent aller Arbeitsplätze auf dem Globus. Zwar sollen vor allem technologischer Fortschritt und grüne Wirtschaftstransition in den kommenden Jahren insgesamt 69 Millionen neue Jobs schaffen, gleichzeitig werden neue Technologien und Digitalisierung aber 83 Millionen Arbeitsplätze vernichten. Ein Minus von 14 Millionen. Ein Viertel aller Jobs weltweit werden sich bis zum Jahr 2027 verändern. Der am schnellsten wachsende Sektor: Künstliche Intelligenz (KI) und maschinelles Lernen.
KI wird neue Jobs schaffen, das ist sicher, aber sie wird auch alte Jobs vernichten. Alle anderen werden von ihr in der einen oder anderen Weise berührt werden. Das wird Anpassungsfähigkeit verlangen. Von vielen Millionen Menschen. Das Wachstum von KI hat in den vergangenen Jahren alles in den Schatten gestellt, was die Menschheit bislang an Technologieentwicklung erlebt hat. Manche sprechen gar von der größten Revolution seit der Industrialisierung. Fest steht: KI ist hier, sie wird nicht wieder verschwinden – und sie wird nach und nach alle Lebens- und Arbeitsbereiche durchdringen.
Der Tag, der alles veränderte
Für den Philosophen Rick Serrano stellen die Umbrüche in der Arbeitswelt deshalb eine der dringlichsten Fragen dar, die KI aufwirft. Anfang Juli ist Serrano zu Gast bei der EU Summer School in Luxemburg, die in diesem Jahr unter dem Oberthema „The impact of AI on our daily work“ steht. Für den KI-Ethiker gibt es einen Stichtag. Ein Datum, das alles verändert hat: der 30. November 2022. „Der Tag, an dem der Tsunami kam“, sagt Serrano. An diesem Tag machte das Unternehmen OpenAI seinen Chatbot „ChatGPT“ der Öffentlichkeit zugänglich. Binnen weniger Tage landete das generative KI-System in den Händen von Millionen Menschen.
Ein Chatbot-Interview: ChatGPT – erklärt von ChatGPT
Tageblatt: Was ist ChatGPT?
ChatGPT: ChatGPT ist ein KI-gestützter Chatbot, der von OpenAI entwickelt wurde. Er basiert auf der GPT-4-Architektur, einem großen Sprachmodell, das darauf trainiert ist, menschliche Sprache zu verstehen und zu erzeugen. ChatGPT kann in natürlichen Gesprächen eingesetzt werden und ist in der Lage, eine Vielzahl von Fragen zu beantworten, Texte zu verfassen, Übersetzungen durchzuführen und vieles mehr. Es nutzt maschinelles Lernen und umfangreiche Textdaten, um Antworten zu generieren, die sowohl informativ als auch kontextuell relevant sind.
Ist ChatGPT kreativ?
Ja, ChatGPT kann als kreativ betrachtet werden, weil es in der Lage ist, neue und originelle Texte zu generieren. Dies umfasst das Verfassen von Geschichten, Gedichten, Dialogen und anderen kreativen Inhalten. Die Kreativität von ChatGPT basiert auf seiner Fähigkeit, aus den riesigen Mengen an Textdaten, auf denen es trainiert wurde, Muster und Stile zu erkennen und diese auf neuartige Weise zu kombinieren. Allerdings ist die Kreativität von ChatGPT begrenzt durch seine Programmierung und die Daten, auf denen es trainiert wurde. Es hat kein eigenes Bewusstsein oder Verständnis von Kreativität, wie ein Mensch es hat, sondern erzeugt kreative Inhalte durch die Anwendung statistischer Modelle und Mustererkennung.
Kann ChatGPT wirklich kreativ Inhalte schaffen, ohne Bewusstsein für Kreativität?
Ja, ChatGPT kann kreative Inhalte erzeugen, ohne ein Bewusstsein von Kreativität zu haben. Kreativität in diesem Kontext bezieht sich auf die Fähigkeit, neue und originelle Kombinationen von Wörtern, Ideen und Konzepten zu generieren. ChatGPT erreicht dies durch Mustererkennung, Kombination von Ideen und Kontextverständnis. Obwohl ChatGPT kein Bewusstsein hat und nicht „weiß“, dass es kreativ ist, kann es dennoch Ergebnisse liefern, die oft als kreativ empfunden werden. Diese Fähigkeit ist auf die fortgeschrittenen Algorithmen und die umfangreiche Trainingsdatenbasis zurückzuführen, die es ihm ermöglichen, auf menschlich kreative Weise zu antworten.
KI war auch schon vor dem 30. November 2022 das Thema der Stunde. Aber mit der massenhaften Verbreitung von generativer KI, also Software, die Texte (wie ChatGPT) oder Bilder (wie z.B. Midjourney) schaffen kann, konnte man von nun an den Fähigkeiten der KI beinahe täglich beim Wachsen zusehen. Konnte man von KI generierte „fotorealistische“ Bilder von Menschen vor wenigen Monaten noch an Fehlern bei der Darstellung von Händen erkennen, sehen diese mittlerweile lebensecht aus. Die KI hat dazugelernt – in einem rasanten Tempo.
„Das wirft zwei Fragen für die Zukunft hinsichtlich unserer Vorstellung von Identität auf“, sagt Rick Serrano. „Bist du wirklich du? Und: Sind die Dinge, die du erschaffen hast, wirklich von dir erschaffen?“ Das geht so weit, dass sich heute selbst der Begriff des „Originals“ in der Auflösung befindet. Serrano erinnert in diesem Zusammenhang an das Projekt „The Next Rembrandt“. 2016 hatten niederländische Forscher eine KI mit den Werken des weltberühmten Barock-Malers Rembrandt van Rijn trainiert – und am Ende ein gänzlich neues Werk schaffen lassen: das Porträt eines Mannes aus der feineren Gesellschaft Amsterdams aus dem 17. Jahrhundert. Ein neuer Rembrandt, sogar bis auf die Reliefstrukturen der Ölfarben auf der Leinwand.
Ein neuer Rembrandt? Oder doch eher ein durchschnittlicher? Ein User-Kommentar unter dem YouTube-Video zu „The Next Rembrandt“ bringt es auf den Punkt: „They should call it the typical Rembrandt instead.“ Nicht der nächste Rembrandt, sondern der typische. Hier zeigt sich eine ganz grundlegende Eigenschaft von KI, die von Philosophen und Wissenschaftlern auf der ganzen Welt hitzig diskutiert wird. Um den neuen Rembrandt zu schaffen, hat die KI 346 Gemälde analysiert – und aus deren Summe ein neues Bild geschaffen. Mit dem wahrscheinlichsten Rembrandt-Motiv, den wahrscheinlichsten Rembrandt-Augen, der wahrscheinlichsten Rembrandt-Nase, dem wahrscheinlichsten Rembrandt-Blick. KI nimmt Daten aus der Vergangenheit, um Prognosen für die Zukunft zu schaffen (Mehr zu den Problemen mit Datensätzen in Teil drei der KI-Reihe).
Was bedeutet Authentizität?
Das Internet ist heute voll von KI-generierten Coverversionen: Sinatra singt Eminem. Freddie Mercury System Of A Down. Und Kurt Cobain „Wonderwall“. Die kanadische Musikerin Grimes stellte der Öffentlichkeit sogar eine eigene Software zur Verfügung, um mit ihrer Stimme neue, eigene Songs zu generieren. Doch kann auf diese Weise jemals wirklich Neues geschaffen werden? Oder reproduziert KI damit nicht zwangsläufig die Vergangenheit in neuen Variationen? „Künstliche Intelligenz kann vielleicht einen Rembrandt schaffen“, sagt Jean-Jacques Rommes. „Aber könnte KI einen Rembrandt schaffen, wenn Rembrandt nie gelebt hätte? Die Antwort ist: nein.“
Rommes ist Präsident des Wissenschaftsrates der Fondation IDEA. Und er ist einer der Autoren des Berichts zu „Ethik im Angesicht Künstlicher Intelligenz“, den die nationale Ethikkommission Luxemburgs im März veröffentlicht hat. In seinem Vortrag bei der EU Summer School listet er 16 ethische Herausforderungen auf, vor die KI unsere Gesellschaft stellt. In der Art und Weise, wie KI funktioniere, wie sie aus Daten lerne, schaffe sie eine „Wissens- und Geschichtsschleife“. „Eines Tages könnten alle dem Menschen verfügbaren Informationen durch KI gefiltert sein, die wiederum von KI verarbeitet werden“, sagt Rommes. Damit sei die KI „die Autorin aller Wahrheiten“. Gleichzeitig würde sie durch ihr immenses Manipulations- und Desinformationspotenzial zur „Zerstörerin aller Wahrheiten“.
Wie groß dieses Potenzial ist, hat kürzlich ein Bericht des Unternehmens OpenAI selbst gezeigt. Die Mutterfirma von ChatGPT gab an, zwischen März und Mai dieses Jahres fünf verdeckte Operationen gestört zu haben, bei denen ihre Software dazu benutzt wurde, um öffentliche Meinung zu manipulieren oder politische Resultate zu beeinflussen. Die vereitelten Kampagnen hätten ihren Ursprung in Russland, China, Iran und bei dem israelischen Unternehmen Stoic gehabt, so OpenAI. Dabei seien KI-Werkzeuge benutzt worden, um beispielsweise kurze Kommentare und längere Artikel in verschiedenen Sprachen zu erstellen oder Namen und Biografien für Konten in sozialen Medien zu erfinden. Inhaltlich soll es dabei u.a. um die russische Invasion in der Ukraine, den Konflikt im Gazastreifen, die Wahlen in Indien, Politik in Europa und den USA sowie um Kritik an der chinesischen Regierung durch chinesische Dissidenten gegangen sein.
Der Bericht von OpenAI öffnet nur ein winziges Fenster in den Raum der Möglichkeiten, mit denen sich die Menschheit in Zukunft konfrontiert werden sieht. KI stellt ganz grundsätzlich infrage, was wir bislang unter Authentizität und Identität verstanden haben – sei es in der Kunst oder in unserer alltäglichen und politischen Kommunikation. Denkt man in diese Richtung weiter, landet man bei Fragestellungen, die nach Science Fiction klingen – noch. Wenn Maschinen immer intelligenter werden, wenn sie uns Arbeit abnehmen, gar kreativ sein können, was unterscheidet sie dann noch vom Menschen? (Mehr zu dieser Frage in Teil zwei der KI-Reihe.)
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