/ Die neue Farbe des Aufstands – Warum die Gelbwesten in Frankreich ihre Ziele nicht alleine erreichen können
Frankreichs aufmüpfige Bürger haben erste Siege errungen. Ihren Kampf um eine nachhaltige Umverteilung des Reichtums und soziale Gerechtigkeit werden sie jedoch so bald nicht gewinnen.
Von Lucien Montebrusco
Die Festung Macron hat erste gefährliche Risse bekommen. Seit Monaten wird Frankreichs Präsident die Affäre um seinen ehemaligen persönlichen Sicherheitschef Alexandre Benalla nicht los. Obwohl dieser bereits vor Monaten entlassen wurde, weil er bei einer Polizeiaktion Demonstranten misshandelte, reiste er bis vor kurzem noch mit einem Diplomatenpass durch die Welt. Er stehe ständig in Kontakt mit dem Präsidenten, sagte Benalla vor wenigen Tagen in einem Interview mit dem französischen Online-Nachrichtenportal mediapart. Dementis der offiziellen Stellen haben die Vorwürfe von derlei unorthodoxen Beziehungen zwischen einem geschassten Beamten und der Staatsspitze kaum entkräften können.
Ernsthafte Folgen dürfte die Benalla-Affäre für den Präsidenten dennoch keine haben. Denn im Vergleich zum Aufstand der „Gilets jaunes“ wird sie als bloßes Detail in die Geschichte von Frankreichs aktueller Präsidentschaft eingehen. Ausgerechnet unscheinbare, von der politischen Bühne weit entfernte Bürgerinnen und Bürger haben einem zielstrebigen, in seinem Tun von niemandem zu erschütternden Präsidenten Zugeständnisse abgerungen.
Inwiefern den Worten von Emmanuel Macron jedoch auch Taten folgen werden, die das Portemonnaie der Kleinverdiener und Rentner spürbar und nachhaltig entlasten werden, ist freilich eine andere Frage. Daran ändern auch die von der „Assemblée nationale“ im Schnelldurchlauf gestimmten gesetzlichen Anpassungen nichts. Die in der Vergangenheit verfügten Spritpreiserhöhungen bleiben unangetastet und mit dem Verzicht auf eine neue Umweltabgabe zu Jahresbeginn haben die Franzosen zuerst mal keinen einzigen Cent weiter. Die versprochene Ankündigung von 100 Euro für alle Mindestlohnbezieher qualifizierten Abgeordnete von „La France insoumise“ als Mogelpackung, kommt sie doch nur einem Teil der „Smicards“ zugute, und die für 2019 in Aussicht gestellte Senkung des Sozialbeitrags „Contribution sociale généralisée“ CSG wird viele Senioren mit niedrigen Renten nicht erreichen.
Was Gewerkschaften und Opposition nicht schafften, gelang Zehntausenden Bürgern
Es ist die alte Geschichte vom halb vollen oder halb leeren Glas. Ohne das wochenlange Ausharren der Gelbwesten an Straßenkreuzungen und Kreisverkehren in Regen und Kälte wäre die Regierung nicht eingeknickt. Was Gewerkschaften und politische Opposition mit routinemäßig geplanten und durchgeführten Aktionen in den vergangenen Monaten nicht schafften, gelang Zehntausenden Bürgern ohne schweren Partei- oder Gewerkschaftsapparat.
Den materiellen Forderungen nach mehr Kaufkraft folgten alsbald solche, die, sollten sie umgesetzt werden, das politische System Frankreichs aufmischen würden. Mit Bürgerinitiativen und Referenden sollen die Bürger direkt politisch mitentscheiden und Politiker sogar abgesetzt werden können. Für ein Land, das sich rühmt, Menschenrechte und Gleichheit erfunden zu haben, dennoch äußerst vertikal und von einer zahlenmäßig überschaubaren Elite geführt wird, fürwahr eine kleine Revolution.
Sie sind sympathisch, durchaus nachvollziehbar und für die demokratische Entwicklung der Gesellschaft durchaus wertvoll. Doch sind die Forderungen der Gelbwesten deshalb auch realistisch, das heißt derzeit umsetzbar?
Macrons Versprechen lösen die Ungleichheiten nicht
Macrons Versprechen zur Aufbesserung der Einkommen sind ein Trostpflaster. Sie lösen die fundamentalen Ungleichheiten in der französischen Gesellschaft nicht, und die verlaufen nicht nur entlang den Einkommensgrenzen. Wer 100 Euro mehr im Monat hat, wird ein klein wenig besser leben können, seine Wohnungssituation etwa wird er jedoch nicht wesentlich verbessern, seinen Kindern auch morgen nicht täglich rückstandfreies Obst und Gemüse aus dem Bioladen auftischen können.
Macrons Regierung versucht mit ihrem Maßnahmenpaket nur eines der zahlreichen Feuer im Haus zu löschen. Schüler demonstrierten im Dezember gegen die ihrer Ansicht nach ungerechte Studienplatzvergabe und die extrem hohen Studiengebühren für ausländische Studenten. Ihnen hat die Führung in Paris bisher wenig angeboten. Krankenhäuser und Sozialdienste klagen weiterhin über chronische Arbeitsüberlastung und Personalmangel, die eine angemessene Patientenbetreuung erschweren. Die nach den Sparmaßnahmen aus der Ära Sarkozy personalmäßig ausgedünnte Polizei ist nach etlichen durchgearbeiteten Gilets-jaunes-Wochenenden und dem Anschlag auf den Straßburger Weihnachtsmarkt erschöpft. Die Polizeigewerkschaft drohte mit reduziertem Dienst, nachdem Tausende Überstunden aufgelaufen sind. Und wieder versucht sich Paris mit einigen hunderten Euro freizukaufen, ohne jedoch dem Übel auf den Grund zu gehen.
Die Liste von Macrons Krisenherden im eigenen Lande ließe sich fortsetzen. Dabei lassen sich die Probleme, denen sich die Regierenden Frankreichs derzeit gegenüber sehen, nur bedingt national lösen, sogar wenn Präsident Macron plötzlich sozialistischer als Amtsvorgänger Hollande agieren würde, wozu es ja eigentlich nicht allzu viel bedürfte. (Worauf jedoch Macrons Neujahrsansprache als eine Aneinanderreihung von saft- und kraftlosen Feststellungen keinesfalls schließen lässt.)
Hausgemachte Probleme
Auch im Land der „Egalité et fraternité“ sind die soziale Ungerechtigkeiten nur teils hausgemacht. Wie in den anderen europäischen Hauptstädten ist auch in Paris der Spielraum zur Bekämpfung der sozialen Schieflage äußerst eng. Tatsächlich sind die Staaten an ein komplexes EU-Regelwerk, an internationale Abmachungen gebunden, die der Wirtschaftsförderung nach wie vor das Primat einräumen, während sich das Soziale quasi als Nebenprodukt einer boomenden Wirtschaft entwickeln würde. Konkret hieß das seit den 1980er Jahren jedoch: weniger Staat, Einschnitte bei den Sozialausgaben in vielen Staaten, weniger Steuern für die Unternehmen, Umverteilung des erschaffenen Reichtums zugunsten der Kapitalbesitzer.
Die große Finanzkrise von 2008 führte zwar zu leichten Anpassungen, strengeren Regeln für die Finanzwelt etwa, grundsätzlich änderte sich jedoch nichts an der herrschenden Weltanschauung. Wer nach dem Zusammenbruch der UdSSR und der osteuropäischen Staatengruppe Ende der 1980er/Anfang der 1990er dachte, die Zeit der Ideologien und ihrer uneinsichtigen Verteidiger sei endgültig vorbei, wird täglich eines Besseren belehrt. Obwohl seit langem deutlich ist, dass die Rezepte der aktuellen wirtschaftsliberalen Denkschule nur bedingt greifen, werden diese weiterhin angewandt. Ein Beispiel dafür ist Italien, dessen Bürgern es trotz strammer Wirtschafts- und Sozialreformen der letzten Jahre heute nicht besser geht.
Forderungen haben kaum Aussicht auf Erfolg
Die Forderungen der französischen Gelbwesten nach einer weitreichenden sozialen und wirtschaftlichen Gerechtigkeit haben demnach kaum Aussicht auf Erfolg. Radikale Maßnahmen wie eine konsequente Besteuerung der Vermögenden und des Kapitals insgesamt und damit eine reale Umverteilung von oben nach unten würden das Land mit großer Wahrscheinlichkeit wirtschaftlich isolieren und damit die Sozialkrise vertiefen.
Frankreichs Probleme sind nur europaweit zu lösen. Wenn denn die Union ihre Politik grundlegend überdenken würde. Das hieße insbesondere ein für alle Mitgliedsländer gerechtes Steuersystem entwickeln, das auch die Vermögenden entsprechend ihren Möglichkeiten zur Kasse bitten würde, und eine internationale Handelspolitik betreiben, die hohe Sozial- und Umweltstandards als Voraussetzung für internationale Handelsverträge fordern würde.
Könnte eine EU-weite Gelbe-Westen-Bewegung derlei Umdenken anstoßen? Vielleicht, vorausgesetzt, sie könnte sich auf einen kohärenten Forderungskatalog verständigen. Frankreichs rezente Erfahrungen zeigen, wie schwer sich die Bewegung mit Letzterem tut. Dabei bestünde freilich die Gefahr einer Übernahme durch rechtsgesinnte Gruppen, welche sich, die organisatorische Schwäche ausnutzend, als Plattform für die Proteste europäischer Gelbwesten anbiedern.
Welche politischen Kräfte könnten dem gegenhalten? Bisher sind noch keine in Sicht. Die traditionelle Linke hat ihre Glaubwürdigkeit längst verloren, trug sie doch während Jahren die Politik mit, die die EU und ihre Mitgliedsländer geprägt und große Teile ihrer Bevölkerung enttäuscht hat. Die Nachfolger der kommunistischen und anderen linken Konkurrenten der Sozialdemokratie verlieren sich ihrerseits in nationalistischen Tönen, so Frankreichs „France insoumise“ oder aber zerfleischen sich wie Deutschlands Die Linke, während eine paneuropäische Bewegung wie die von Griechenlands Ex-Wirtschaftsminister Yanis Varoufakis ins Leben gerufene „Democracy in Europe Movement 2025“ (Diem25) nicht aus den Startlöchern kommt.
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