Editorial / Die neue Zeit: Die kommenden 20er-Jahre werden keine „roaring twenties“
Die deutsche Sozialdemokratie, die ihrem jüngsten Kongress das Motto „Die neue Zeit“ gab, wollte damit wohl eher eine Aussage im Rahmen ihres Überlebenskampfes machen, als einen Ausblick in die Zukunft zu wagen. Eine neue Zeit soll für die krisengeschüttelte SPD anbrechen. Ob dies der Partei gelingt, ist dabei ebenso schwer vorauszusagen wie die Entwicklung der Geschichte in den kommenden zehn Jahren.
Die 20er-Jahre des 21. Jahrhunderts, die morgen anbrechen, werden sich wohl kaum mit den „roaring twenties“, einer Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs, der kulturellen und sozialen Unbeschwertheit nach dem Ersten Weltkrieg, vergleichen lassen. Dafür sind die anstehenden Probleme zu gewaltig, die Herausforderungen zu groß. Der Ausblick nach den ersten 20 Jahren des neuen Jahrhunderts (und Jahrtausends), die Terror in ungewohntem Ausmaß, Wirtschafts- und Finanzkrise, wachsende soziale Kluft und neue Völkerwanderungen brachten, ist kaum möglich und gibt wenig Anlass zu Optimismus.
Die Digitalisierung, die Potenziale der elektronischen Datenverarbeitung werden mit zunehmender Geschwindigkeit unsere Gesellschaften prägen; die bisherigen Veränderungen im Bereich der Arbeit, Wissenschaft, Kultur, des gesellschaftlichen Austauschs und des Informationszugangs – davon darf ausgegangen werden – vermitteln lediglich eine Ahnung von dem, was auf die Menschen zukommen wird. Unter anderem die zu erwartenden Produktionsgewinne müssen dabei in einer Weise gemanagt werden, die verhindert, dass Ungleichheiten weiter spektakulär wachsen, dass ein kompletter Zusammenbruch der Gesellschaften ohne Chance auf Rettung die Erde ins Chaos stürzt. Erste Anzeichen dafür sind allgegenwärtig.
Die Verschlechterung des Weltklimas, die Karbon-belastete und überlastete Atmosphäre mit den bekannten und bereits dramatisch sichtbaren Auswirkungen sind eine weitere, mit den zaghaften Versuchen der aktuellen Politik kaum zu verhindernde angekündigte Katastrophe, die im kommenden Jahrzehnt weitaus schlimmere Symptome zeitigen wird, als das bislang der Fall war. Verzicht auf Plastikverpackungen, auf die eine oder andere Flugreise oder ähnliche Maßnahmen sind in diesem Kontext nicht einmal ein Tropfen auf den heißen Stein, der da Erde heißt. Dass ein „green deal“ der EU die Welt retten könnte, ist ebenso unrealistisch, wie es falsch ist, zu glauben, dass ein Handel, ein Geschäft also, die Lösung des globalen Klimaproblems darstellen könnte. Allein die Wahl des Wortes „deal“ verrät die alte kapitalistische Denkweise, die das Problem darstellt und nicht die Lösung sein kann.
Geopolitische Unwägbarkeiten, unberechenbare Groß- und Atommächte, Flüchtlingsströme aufgrund von Kriegen und wirtschaftlichem Gefälle zwischen den Regionen der Erde geben daneben wenig Anlass für Zukunftseuphorie.
Immerhin gibt es einige Aspekte, die Raum für Hoffnung bieten: Die Wissenschaft bietet neue Möglichkeiten, auch im Kampf gegen den Klimawandel, die Medizin macht gewaltige Fortschritte, die Digitalisierung wird von vielen (längst nicht von allen) als Instrument der Aufklärung und Emanzipation genutzt, viele Menschen, darunter wieder viele junge Leute, treten für eine andere Gesellschaft ein, wehren sich …
Um tatsächlich und abschließend zu erfahren, was das kommende Jahrzehnt bringt, gibt es nur eine Möglichkeit: Wir müssen es leben und erleben – oder wie eine Luxemburger Politikerin einst bemerkte: „Den Avenir läit am Futur.“
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