Editorial / Irrweg der geschlossenen Grenzen: Die offene Gesellschaft steht auf dem Spiel
Die Migrations- und Asyldebatte Europas wird nicht nur mit einem immer schärferen Ton geführt. Die Parteien verschiedener Couleur in den jeweiligen Ländern liefern sich zudem einen Überbietungswettkampf an harten Maßnahmen. Wenn die niederländische Rechts-Regierung die „Asylkrise“ ausruft und ankündigt, keine Asylbewerber und auch keine anderen Migranten mehr aufzunehmen und Marjolein Faber, Ministerin für Asyl und Migration und Parteifreundin des Rechtspopulisten Geert Wilders, damit droht, „das strengste Asylgesetz aller Zeiten auf den Weg zu bringen“, um die Zuwanderung zu reduzieren, überrascht das nicht.
Wenn aber die sozialdemokratische deutsche Innenministerin Nancy Faeser anordnet, dass die seit Oktober 2023 durchgeführten Grenzkontrollen ab dem 16. September auf die Grenzen zu Dänemark, Frankreich und den Beneluxstaaten ausgeweitet werden, und sagt, es werde zu „massiven Zurückweisungen“ kommen, verwundert das schon mehr. Allerdings fügt sich diese Maßnahme, mit der die SPD-Politikerin vor allem auf innenpolitischen Druck reagiert, in eine Reihe von Aussagen, etwa von Bundeskanzler Olaf Scholz vor einem Jahr, „endlich im großen Stil abzuschieben“.
Auf Scholz’ Aufruf zur Zeitenwende in der Asylpolitik reagierte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán mit dem Hashtag „StopMigration“ auf X: „Willkommen im Klub!“ Ungarn, das Premierminister Luc Frieden vergangene Woche besuchte, um dort mit Orbán einen „Dialog der unterschiedlichen Sichtweisen“ zu führen, verstößt seit Jahren gegen EU-Recht. Das war einmal anders: Im Juni 1989 schnitt der damalige ungarische Außenminister Gyula Horn zusammen mit seinem österreichischen Amtskollegen symbolisch ein Loch in den Grenzzaun zwischen den beiden Ländern und ermöglichte die Massenflucht zahlreicher DDR-Bürger. Es bedeutete die Öffnung des Eisernen Vorhangs.
Seit dem Terroranschlag von Solingen und den jüngsten Wahlerfolgen der AfD ist es in Deutschland zu einer politischen Eskalation gekommen. „Wer glaubte, es gebe beim Thema Migration noch so etwas wie eine freiwillige moralische Selbstkontrolle, sah sich in den vergangenen Tagen getäuscht“, kommentierte die taz am Wochenende. Zuerst ging es gegen die „irreguläre“ Migration, dann vor allem gegen Asylbewerber allgemein, und nun, folgt man den Worten von CDU-Fraktionsgeschäftsführer Thorsten Frei, müsse „alle“ Migration reduziert werden. Die taz nennt dies „eine mächtige Eruption des migrationsfeindlichen Grundrauschens“. Die AfD treibt die anderen Parteien in Deutschland vor sich her und zwingt sie zu einer Aufweichung rechtsstaatlich-moralischer Standards. Vor allem die Christdemokraten und Christsozialen lassen nicht von dem Irrglauben ab, sie könnten die Rechtsextremen rechts schlagen. Der frühere Minister Jens Spahn (CDU) hält die Genfer Flüchtlingskonvention für nicht mehr „zeitgemäß“, Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) will das individuelle Asylrecht, also die sogenannte Einzelfall-Prüfung, abschaffen.
Wer die Migration als Problem behandelt und als Ventil benutzt, macht rechtsextreme Positionen anschlussfähig – und lenkt immer weiter von den realen Problemen ab, wie der niederländische Migrationsforscher Hein de Haas feststellt, etwa von dem der Integration. Dabei erzeugen sie eine Art von Dominoeffekt. Weist Deutschland an seinen Grenzen ab, reicht es den Druck nur weiter. Österreich zum Beispiel wird spätestens unter einem möglichen „Volkskanzler“ Herbert Kickl folgen. Auch andere werden nachziehen. Die Staaten an den Außengrenzen der Europäischen Union wie Griechenland und Italien bekommen dann alles ab. Der EU-Asylkompromiss wäre ad absurdum geführt und obsolet. Doch nicht nur das Asylrecht steht auf dem Spiel, sondern ebenso die Genfer Flüchtlingskonvention und damit verbunden ein Teil der universal geltenden Menschenrechte. Sie gilt es zu schützen. Auch die Idee einer offenen Gesellschaft und die der liberalen Demokratie.
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