Sven Clement / „Die Piraten können ohne Ballast den Finger in die Wunde legen“
2018 zogen die Piraten erstmals ins Parlament ein. Seitdem hat die Partei vor allem durch Affären von sich reden gemacht. Obwohl die Piraten insgesamt bei Umfragen konstant an Zustimmung verlieren, konnte ihr Abgeordneter Sven Clement seine persönlichen Werte zuletzt noch verbessern und gehört laut Politmonitor inzwischen zu den 20 beliebtesten Politikern im Land. Im Interview erklärt der 31-jährige Mitbegründer der Partei, wieso er Umfragen und Affären nicht zu viel Bedeutung zumisst, und zeigt sich optimistisch, dass die Piraten ihren Platz in der Luxemburger Parteienlandschaft behaupten werden.
Tageblatt: Bei den Wahlen 2018 waren die Piraten mit 6,6% der Wählerstimmen der Überraschungsgewinner. Seitdem hat die Partei bei den Umfragen jährlich rund ein Prozent verloren, in diesem Jahr sogar einen ihrer beiden Sitze. Wenn es in diesem Tempo weitergeht, ist am Ende nichts mehr übrig. Wie erklären Sie sich diese Verluste?
Sven Clement: Studien der Uni Luxemburg haben gezeigt, dass unsere Wähler sich erst kurz vor den Wahlen entscheiden. Für Parteien ohne Stammwählerschaft ist es daher wichtig, vor den Wahlen präsent zu sein. Die Sitzzuteilung bei den Umfragen ist für mich nicht nachzuvollziehen, weil es keine Aufschlüsselung nach Bezirken gibt. Ich weiß nicht, mit welchem Algorithmus sie unseren Sitzverlust errechnet haben. Einen nationalen Prozentsatz anzugeben und daraus auf eine Sitzverteilung zu schließen, scheint mir gewagt. Ferner stellt sich die Frage, was eine Umfrage in Luxemburg wert ist, wenn sie nicht einmal das Panaschieren berücksichtigt.
Die Zeit nach den Wahlen war für die Piraten nicht einfach. Leaks von früheren Mitarbeitern, Verbindungen zwischen Pirat Daniel Frères und „Lëtzebuerg Privat“, undurchsichtige Parteifinanzen und Fake-News-Vorwürfe gegen die Berichterstattung des Onlinemagazins „Reporter“ haben die Partei in die Schlagzeilen gebracht. Haben diese Affären den Piraten geschadet?
Es hilft nie, wenn negativ über dich geredet wird. Was Reporter angeht, muss das Magazin sich selbst Fragen stellen. Die Person, auf die Reporter sich berufen hat, organisiert jetzt Demos gegen die Maskenpflicht. Das sagt viel über ihre Vertrauenswürdigkeit aus. Waren es Fake News? Wenn irgendjemand schreit, er werde gemobbt, und jetzt schreit, unsere Bürgerrechte würden abgeschafft, muss man die Glaubwürdigkeit dieser Person infrage stellen. Genau das haben wir getan. Wir haben Reporter kritisiert, weil sie sich nur auf eine fundamentale Quelle berufen haben, die Streit mit uns hatte und offensichtlich Probleme mit der Realitätswahrnehmung hat.
Zu den Parteifinanzen: Daniel Frères hat Anzeigen geschaltet und bezahlt, der Rechnungshof will sie uns aber nicht als Spende anerkennen. Diese sehr technische Affäre ist zurzeit vor dem Verwaltungsgerichtshof, danach wird sie voraussichtlich vor das Verwaltungstribunal kommen. Die Regierung verbrennt dabei mehr Steuergelder für Anwaltskosten, als sie von uns wiederkriegt. Unserer Meinung nach wurde diese Affäre vor den Europawahlen vom politischen Gegner aufgebauscht, um uns zu schaden. Doch wir haben es überlebt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wieso bei uns über 20.000 Euro Spenden geredet wird, während es unter ferner liefen behandelt wird, wenn Minister und Parteien Aufträge in Millionenhöhe ohne Ausschreibung an Agenturen vergeben, die sie im Wahlkampf beraten haben.
Sie meinen die LSAP?
Das Gesundheitsministerium hat der Agentur, die die Wahlkampagne der LSAP gestaltet hat, ohne Ausschreibung einen Auftrag im Wert von rund einer Million Euro für die Maskenkampagne gegeben. Es geht auch um Werbekäufe, aber wir wissen alle, dass diese Agentur davon 15% kassiert. Sicherlich wurde wegen des Zeitdrucks nicht ausgeschrieben, aber man kann sich trotzdem fragen, weshalb das nicht thematisiert wurde.
Sie haben die Corona-Demos schon angesprochen. Neben ihrem früheren Mitarbeiter und Kandidaten Peter Freitag gehört auch der ehemalige Piraten-Kandidat Christian Isekin zur Speerspitze der Protestler und Verschwörungstheoretiker. Müssen Sie künftig besser aufpassen, wen Sie mit auf die Listen nehmen?
Bei diesen beiden hätten wir besser aufpassen müssen. Peter Freitag haben wir in einer schwierigen Situation geholfen. Christian Isekin war Teil der Abmachung mit der PID („Partei fir Integral Demokratie“). Wir sind nicht an ihm vorbeigekommen. Wir haben lange verhandelt, auf welchen Listenplatz Herr Isekin kommen sollte. Letztendlich wurde er nicht Spitzenkandidat, sondern stand als Sechster auf der Liste für die Parlamentswahlen 2018. Christian Isekin hat sich dazu verpflichtet, sich an unsere Wahlbotschaften zu halten und unser Programm zu vertreten, wenn er gewählt würde. Ich trage nicht die Verantwortung für Dinge, die ein Kandidat zwei Jahre nach den Wahlen tut. Er tritt ja auf den Demos nicht als Pirat auf.
Neben Ihrer Zusammenarbeit mit der PID löste auch die technische Fraktion, die Sie mit der ADR eingegangen sind, Kritik aus. Auch diese Zusammenarbeit haben Sie inzwischen aufgelöst. Wieso?
Mit der Reform des Kammerreglements, die Alex Bodry vor seinem Wechsel in den Staatsrat durchgeführt hat, fiel der Nutzen der technischen Fraktion weg. Bodry hatte eine Abscheu für diese Kooperationen und hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Vorteile der technischen Fraktion abzuschaffen. Schließlich hat er ja auch eine Mehrheit dafür gefunden. Die Oppositionsparteien, die nicht Fraktionsstärke haben, sind gestärkt aus der Reform hervorgegangen, deshalb war die technische Fraktion nicht mehr notwendig. Ich bin froh darüber. Wir wären nach den Wahlen lieber eine technische Fraktion mit „déi Lénk“ eingegangen, aber das hat nicht geklappt.
Während der Coronakrise ist der Eindruck entstanden, dass Sie sich „déi Lénk“ in vielen Fragen inhaltlich angenähert haben. Ist dieser Eindruck richtig?
In sozialen Fragen sind wir schon immer ganz nah am linken Rand gewesen. Wenn es um Wirtschaft geht, vertreten wir aber liberale Positionen. Das macht es für viele so schwierig, uns einzuordnen. Sie bezeichnen uns als „arbiträr“. Doch wir sind der Ausdruck einer moderneren Gesellschaft, die sich nicht mehr in einem Links-Rechts-Schema fest verankern lässt. In dieser Gesellschaft kann ein Liberaler ein soziales Gewissen haben und soziale Fragen können mit liberalen Ansätzen angegangen werden, anstatt immer nur nach mehr Staat zu rufen. Die traditionellen Parteien haben häufig noch Probleme, sich in diesem Spannungsfeld zurechtzufinden, das uns zum Teil von der Digitalisierung aufgezwungen wird. Dies zeigt schon alleine die Ablehnung, die unserem Gesetzesvorschlag zur Einführung eines Bürgerrates im Parlament widerfahren ist.
Haben die Piraten neben der Netzpolitik und der Bürgerbeteiligung noch ein anderes Alleinstellungsmerkmal? Oder nehmen Sie sich lediglich bei den anderen Parteien heraus, was Ihnen am besten gefällt?
Transparenz ist uns sehr wichtig, wie unsere Klage zur Herausgabe des Konzessionsvertrags zwischen Staat und RTL zeigt. Netzpolitik, Transparenz und Bürgerbeteiligung versammeln sich in dem Menschenbild, das wir vermitteln. Wir müssen uns alle pragmatisch mit den Themen der Zukunft beschäftigen. Das ist schwieriger, wenn man es durch die Brille einer gewachsenen Ideologie betrachten muss. Die Piraten können ohne Ballast den Finger in die Wunde legen. Wir können in Angelegenheiten eingreifen, in die andere Parteien vielleicht nicht eingreifen können, weil sie damals „mit dabei“ waren.
Vor einem Jahr haben Sie die Webseiten fro.lu und deng-stëmm.lu für mehr Transparenz und Bürgerbeteiligung ins Leben gerufen. Über fro.lu wurden bislang 93 parlamentarische Fragen von Bürgern vorgeschlagen. Sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden?
93 Fragen sind schon ganz beachtlich.
Nur wenige Nutzer sind aktiv …
Das ist auf jeder Webseite so. Wir sind ganz zufrieden mit dem Echo, das wir bekommen haben. Nicht alle Fragen wurden veröffentlicht, manche haben uns ihre Vorschläge per E-Mail geschickt. Ich glaube, dass wir 80% der vorgeschlagenen Fragen gestellt haben oder eine Antwort aus einer bereits bestehenden parlamentarischen Frage liefern konnten.
Wie viele der 93 Fragen haben Sie tatsächlich an die Regierung weitergereicht?
Ich müsste das jetzt nachsehen, doch ich glaube, es waren 50 bis 60 Fragen.
Deng-stëmm.lu ist noch immer oder bereits wieder offline. Was ist passiert?
Deng-stëmm.lu war in einer ersten Phase nur für unsere Mitglieder gedacht, deshalb ist die Seite bislang nur unter einer internen URL zu erreichen. Dieser Prozess ist noch in der Entwicklung. Wir Abgeordneten müssen liefern, damit dieses Instrument funktionieren kann.
Wie viele Mitglieder haben die Piraten?
Ich weiß es nicht genau. Soweit ich es im Präsidium mitbekommen habe, zählen wir mehr Zugänge als Austritte. Vielleicht haben wir 420 oder 450 Mitglieder.
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Vor allem ohne den „Ballast“ von Kompetenz und Sachverstand.
Ich hab noch nie jemanden gesehen der mit Ballast einen Finger auf eine Wunde gelegt hat.