Editorial / Die Rettung der Radsport-Saison bleibt ein Drahtseilakt
Der Radsport hat so seine Besonderheiten, die ihn auszeichnen. Wo sonst kommen die Zuschauer noch so nah an Spitzenathleten heran und welche Sportart kann man sonst noch auf höchstem Niveau zum Nulltarif live miterleben? Fahrer, die sich am Ende ihrer Kräfte durch ein enges Zuschauerspalier den Berg hinaufquälen, Fans, die den Sportlern bereits bei der Einschreibung vor dem Start zujubeln, oder aber Kinder, die bei den Teambussen die Trinkflaschen ihrer Idole sammeln – auf all diese Bilder wird man diese Saison verzichten müssen. In Corona-Zeiten ist kein Platz für Radsportromantik. Die Fahrer und Fahrerinnen werden bestmöglich abgeschottet, damit sie sich bloß keinem unnötigen Infektionsrisiko aussetzen. Damit wird der Radsport momentan auch auf das Nötigste reduziert: auf das Geschäft.
Was im Fußball, Basketball und allen anderen Sportarten, bei denen man Eintritt zahlen muss, recht einfach zu kontrollieren ist, klappt beim Radsport nicht so ohne Weiteres. Bestes Beispiel die Strade Bianche am vergangenen Wochenende. Zuschauer feuerten das Peloton aus nächster Nähe und ohne Masken an, was unter anderem der luxemburgischen Profifahrerin Christine Majerus zu denken gab. Es ist halt wesentlich komplizierter, Zuschauer auf einer Strecke von 136 beziehungsweise 184 Kilometern unter Kontrolle zu halten als in einem Stadion oder einer Halle. Doch nicht nur das Verhalten der Zuschauer stieß Majerus sauer auf, sondern auch das Krisenmanagement des Radweltverbandes UCI. Die Fahrer müssen sich sechs und drei Tage vor einem Rennen testen lassen. Teams wie Jempy Druckers Bora-hansgrohe-Mannschaft rechnen mit Kosten zwischen 50.000 und 100.000 Euro. Allerdings sind die Testmöglichkeiten von Land zu Land sehr unterschiedlich. Die UCI übernimmt die Tests nur bei großen Rennen, und dann auch nur an Ruhetagen.
Laut Majerus macht es sich die UCI zu leicht und die Teams würden sich alleingelassen fühlen. Dass dennoch alle mitmachen, hat einen einfachen Grund: Wird die Saison gerettet, können sich wohl auch die Rennställe retten. Ob die Saison aber wirklich gerettet werden kann, muss sich noch zeigen. Alle hoffen auf die Tour de France und der Organisator versucht, durch ein sehr strenges Hygienekonzept die drei Wochen irgendwie über die Runden zu bekommen. Ganz gleich, wie streng das Hygienekonzept auch ist, eine Garantie für einen reibungslosen Ablauf gibt es nicht. Auch das haben die Strade Bianche verdeutlicht.
So durfte der Schweizer Silvan Dillier zum Beispiel aufgrund eines positiven Corona-Tests nicht an den Start gehen. Ein späterer Test war wiederum negativ. Was, wenn dies dem „Maillot jaune“ am letzten Ruhetag passiert und ein falsch-positiver Test die Tour entscheidet? Was, wenn sich trotz aller Warnungen und Vorkehrungen doch Zuschauer am Streckenrand versammeln und weder Masken tragen noch Abstandsregeln befolgen? Die Rettung der Radsportsaison ist ein Drahtseilakt mit vielen Risiken und wird es bis zum Schluss bleiben. So lange bleibt auch kein Platz für Tour- oder Klassiker-Romantiker.
- Wie der Ochse vorm Weinberg: Die Tageblatt-Redaktion versucht sich als Winzer - 20. November 2024.
- Auf der Suche nach besseren Zeiten - 9. November 2024.
- Wie die Lokaljournalisten Kayla und Micah gegen die Polarisierung ankämpfen - 3. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos