Editorial / Die Rolle der Fiktion im kollektiven Gedächtnis: Verstummende Zeugen
Am Montag war es 75 Jahre her, dass das Konzentrationslager Auschwitz befreit wurde. Während der Gedenkfeier am 27. Januar in Esch kam es zu einer Strompanne, sodass man die Redner kaum verstehen konnte. Dieses ungewollte Verstummen kann man traurigerweise auch symbolisch auslegen. Denn was uns dieses Datum vor allem zu bedenken geben sollte, ist, dass die Anzahl der Shoah-Überlebenden immer geringer wird – und sich die Frage des kollektiven Gedächtnisses in einer Zeit ohne Zeitzeugen dringlich stellt. Der grassierende Antisemitismus hat nicht auf den Tod des letzten Zeitzeugen gewartet, um sich vielerorts wieder zu manifestieren. Es ist demnach zu befürchten, dass sich die Situation nach dem Ableben des letzten Überlebenden verschlimmert, da Holocaust-Leugnern wie David Irving zwar noch Fakten, aber keine Aussagen lebender Menschen mehr entgegengesetzt werden und in einer Welt, in der die Wahrheit der Geschichte immer mehr von einer undifferenzierten Textmenge (insbesondere im Internet) ertränkt wird, Fakten und Archive alleine zumindest bei den Massen nicht mehr als aussagekräftig genug gelten werden.
Während Schulreisen nach Auschwitz sind stets Zeitzeugen dabei, die die Besichtigung durch die schlimmste aller Barbareien mit Anekdoten authentisch verbildlichen, was jüngeren Generationen erlaubt, das dort Geschehene in seinem gesamten Ausmaß zu begreifen. Tonaufzeichnungen und Filme sind wichtig, die Fassbarkeit geht allerdings durch mediale Vermittlung (etwas) verloren – und es ist dieses Attribut, das Verständnis erleichtert.
Nach dem Tod des letzten Zeitzeugen werden Familienangehörige der Überlebenden, Historiker und Archivmaterial die Rolle der medialen Vermittlung übernehmen müssen. Hier sollte auch die Belletristik eine tragende Rolle spielen, da sie dem Objektivitätsimperativ des Archivs die erzählerische Strukturierung, die empathische Erfahrung und die Emotionalität der literarischen Mittel hinzufügt. Die Literaturforscher Lamarque und Olsen haben in ihrem Essay „Truth, Fiction, and Literature“ die These aufgestellt, dass die Fiktion dem faktischen Wissen eine Komponente hinzufügt, die man sonst nirgendwo findet: Wer sich in eine Fiktion vertieft, kann durch die mimetische Identifikation mit den Figuren eine Lebenserfahrung stellvertretend erleben. Die Verbindung, die so zwischen Figur und Leser entsteht, ist ein sicherer Ausbruch aus einem solipsistischen Weltbild – und damit ein mögliches Heilmittel gegen Ignoranz, Intoleranz und Hass.
Schriftsteller weltweit sind sich dessen bewusst: Nicht umsonst gibt es vergleichsweise ungewöhnlich viele Fiktionen über die Shoah. Wie man allerdings mit dem Thema umgeht, ist alles andere als gleichgültig: Da, wo Santiago H. Amigorena in „Le ghetto intérieur“ auf eine fast unaushaltbare Art das Schicksal seines Großvaters und seiner Urgroßmutter schildert, zeigte der Fall Takis Würger letztes Jahr, wie problematisch mediale Vermittlung sein kann – dem Autor wurde vorgeworfen, mit „Stella“ „Holocaust-Kitsch“ geschrieben zu haben und die Geschichte um Stella Goldschlag genutzt zu haben, um einen melodramatischen Bestseller zu verfassen. Tatsächlich können Fiktion und Kunst nur eine tragende Rolle in der kollektiven Erinnerung spielen, wenn das Kunstwerk nicht in den Verdacht gerät, auf reine (Selbst-)Vermarktung aus zu sein. Dass Karolina Markiewicz und Pascal Piron mit „The Living Witnesses“ die letzten Zeitzeugen filmen, ist lobenswert – wenn sich die Künstlerin aber dann via Facebook an der Seite von Xavier Bettel in Auschwitz „einloggt“, bekommt das an sich lobenswerte Projekt den obszönen Beigeschmack der Selbstvermarktung.
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Meine volle Zustimmung für Ihren Artikel . Wir müssen uns im Klaren sein , dass es immer Zeitgenossen geben wird die am Leid , Tod anderer Menschen sich eine goldene Nase verdienen wollen und auch dies zur Profilierung oder Selbstvermarktung ausnutzen.