Film / Die sehr erträgliche Leichtigkeit des Seins: „Licorice Pizza“ von Paul Thomas Anderson
Mit „Licorice Pizza“ gelingt Paul Thomas Anderson ein herrlich verrückter, wunderbar unbeschwerter, phänomenal gespielter, unkonventioneller Liebesfilm, der so ganz am Rande soziale und politische Krisenherde porträtiert – und den Esprit seiner Thomas-Pynchon-Verfilmung „Inherent Vice“ weiterspinnt.
Paul Thomas Anderson ist einer dieser nahezu ärgerlichen amerikanischen Kultregisseure, die weltweit von Filmkritikern und -studenten angehimmelt werden – ein bisschen so wie Terrence Malick. Im Gegensatz zu Terrence Malicks rezenten Machwerken halten Paul Thomas Andersons Filme aber das Versprechen, das ihnen anhaftet. Spätestens seit „There Will Be Blood“ gilt Anderson als König Midas unter den Filmemachern – alles, was er anfasst, wird nicht nur gut, sondern meist sogar außergewöhnlich toll.
Man erinnere sich an „Phantom Thread“, dank dem der Luxemburger Schauspielerin Vicky Krieps der internationale Durchbruch gelang. Oder an „The Master“, den letzten großen Film mit dem begnadeten Philip Seymour Hoffman, an dessen Seite zudem Joaquin Phoenix brillierte. Oder „Inherent Vice“, die erste und bisher einzige Verfilmung eines Thomas-Pynchon-Romans, dessen Fiktionen bislang als unverfilmbar galten. Anderson vermag es, seinen Filmen eine einzigartige, fast traumhafte, meist etwas schiefe Atmosphäre zu verleihen, die das gefilmte Geschehen hinterfragt und stets eine Art doppelten Boden suggeriert, der sich jederzeit aufmachen könnte, um die Figuren zu verschlucken.
„Licorice Pizza“, der vielleicht zugänglichste PTA-Film, knüpft gleich doppelt an vergangene Großtaten an:
Einerseits, weil der blutjunge Hauptdarsteller niemand anders ist als der Sohn von Philip Seymour Hoffman, andererseits, weil hier eine Epoche – die frühen 70er – wieder aufleben gelassen wird, in der auch Schriftsteller Thomas Pynchon sich wohlfühlt und folglich auch Romanen wie „The Crying of the Lot 49“, „Vineland“ oder eben dem von Anderson verfilmten „Inherent Vice“ als Kulisse dient.
Beginnen tut der Film wie eine unkonventionelle Rom-Com: Als der 15-jährige Jungschauspieler und TV-Star Gary Valentine (Cooper Hoffman) die zehn Jahre ältere Alana Kane (Alana Haim, die mit ihren Geschwistern die Band Haim betreibt), die als Assistentin eines Fotografen arbeitet, der sich in High-School-Jahrbuch-Shootings spezialisiert hat, kennenlernt, weiß er: Das ist die Frau, die ich einmal heiraten werde.
Wie ein US-amerikanischer Autohändler versucht er, der leicht amüsierten Alana, deren berufliches und privates Leben in einer Sackgasse zu verlaufen droht, ein Date zu entlocken. Die 25-Jährige guckt den jungen, pickligen Jungen belustigt an, fragt ihn, wie alt er eigentlich ist, schenkt dem aufdringlichen, selbstüberzeugten Narrativ des jungen Stars keinen Glauben und erscheint abends dennoch zum Date in einem angesagten Laden, in dem sich junge und alte Hollywoodschauspieler treffen – vielleicht nur, um die wilden Storys des dreisten Knaben Lügen zu strafen.
Lose baumelnde Handlungsfäden
Dort trifft sie einen Valentine, dessen Auftritt zwischen eingeschüchtertem Jungen und pubertierendem Jugendlichen, der die Verführungsrituale der Erwachsenen mimetisch zu verinnerlichen versucht, pendelt. Weil seine Mutter ihn nicht nach New York begleiten kann und er als Minderjähriger eine Begleitung braucht, erbarmt sich Alana, entdeckt auf der Reise die erbarmungslose Welt der Kinderschauspieler – und lernt den ebenso jungen Lance kennen, der Gary gegenüber über zwei Vorteile verfügt: Er sieht besser aus und ist, wie Alana, jüdisch.
Ein Familien-Schabbes-Desaster später ist Alana wieder Single und Stehaufmännchen Gary Valentine, dessen Erfolg als junger Schauspieler so langsam im Sand verläuft, überzeugt sie dazu, mit ihm in das neu aufkommende Wasserbett-Business einzusteigen.
Ganz im Sinne eines Thomas Pynchons gibt es in „Licorice Pizza“ einen unbeschwerten Umgang mit jeglichen erzählerischen Konventionen: Statt eines Handlungsstrangs gibt es hier lose baumelnde Handlungsfäden, die alle gängigen strukturellen Prinzipien mit Füßen treten.
Da, wo so manche Filme, Bücher oder Theaterstücke zeigen, wie ihre Figuren unerbittlich von den präzisen Zahnrädern des Schicksals zermalmt werden, schreiben Andersons Figuren ihren chaotischen Lebenslauf selbst – oder versuchen es zumindest.
Da jemand wie Gary Valentine in kein Raster passt, gelingt es der Normativitätspolizei (fast) nie, ihn zu fassen – auch wenn sie, wie es in einer absurd-allegorischen Szene, in der Valentine irrtümlich festgenommen wird, dargestellt wird, ihr Bestes tut, um solch ungehorsamen Bälgern wie Gary ordentlich die Suppe zu versalzen. Valentine lässt sich dennoch nicht unterkriegen und schmiedet einfach das nächste waghalsige Projekt.
Wie bei Pynchon treiben die Figuren, Gary Valentine allen voran, ihr Unwesen, ohne auf soziale Zwänge oder politische Gegebenheiten achtzugeben: Die Welt ist ihr Spielplatz, und es ist dieser jugendliche Charme, mit dem Valentine die Welt oder zumindest Alanas Herz erobern will, der Alana gleichzeitig fasziniert und abstößt: Einerseits erwartet sie sich mehr von der Welt und ihrem Partner als dieses pubertäre, schelmische, verantwortungslose Treiben, anderseits ist es eben diese Unbeschwertheit, mit der Valentine jedem Schicksalsschlag antwortet, die sie, die sich bereits in einem langweiligen Beruf aufgegeben hatte, fesselt.
Zudem stellt sie fest, dass ihre sogenannten erwachsenen Vorbilder meist nur so tun, als hätten sie begriffen, wo ihr Platz in der Welt ist und sich selbst immer wieder in die eigene Tasche lügen – wie es ein von Regisseur Benny Safdie verkörperter aufsteigender Politiker, der sich gegen das Unrecht in der Welt auflehnt und für den Alana gegen Ende des Films arbeitet, exemplifiziert.
Wie wir leben möchten
Andersons Film ist irgendwie eine Coming-of-Age-Film und sein exaktes Gegenteil: Seinen Figuren wohnt eine radikale Verweigerungshaltung inne, sie huldigen einer radikalen Ablehnung der Welt, wie man von uns erwartet, dass wir sie leben sollen: Gary und seine jungen Komplizen möchten gar nicht erst ins Erwachsenenleben einsteigen. „Licorice Pizza“ hat die Leichtigkeit von „Inherent Vice“ – ohne dessen nebelige Paranoia. Andersons Film ist formal so ungestüm und lebensbejahend wie seine Figuren.
Und trotzdem: Genau wie bei Thomas Pynchon, der diesen Film, würde der Einsiedler irgendeinen Kommentar zum Welt- und Kulturgeschehen abgeben, definitiv schätzen würde, zeichnen sich die sozialen und politischen Krisen am Rande der Fiktion ab: Polizeiliche Gewalt wird in einer kafkaesken Verhaftungsszene dargestellt, die amerikanische Ölpreiskrise in den frühen 70ern führt zu schlimmen Gewaltausbrüchen und einem der spannendsten und verrücktesten Filmepisoden, die auch in Tarantinos letzten Streifen gepasst hätte (überhaupt ist das hier der bessere „Once Upon a Time …“) und schmierige Filmproduzenten (brillant verkörpert in Sean Penns wohl bestem Auftritt seit Jahren) vergreifen sich an ambitionierten jungen Schauspielerinnen.
Die intelligente Kameraführung, der psychedelische, sonnendurchflutete Soundtrack, die ausufernde, abschweifende Handlung und die unheimlich lustigen Cameoauftritte stehen letztlich aber im Dienste einer komplizierten, unmöglichen Liebesgeschichte, die von den beiden hervorragenden jungen Hauptdarstellern getragen wird: Den ganzen Film über missverstehen sich Gary und Alana, laufen aneinander vorbei, finden, wie es ein sehr berührendes Telefonat exemplifiziert, nicht die richtigen Worte, nicht den gemeinsamen Rhythmus – bis zu einem Ende, das wohl bei jedem anderen Regisseur kitschig ausgefallen wäre, hier jedoch einfach nur schön ist. „Licorice Pizza“ ist ein Film, aus dem man berührt, unbeschwert, ja: glücklich herausgeht. Das hat heutzutage Seltenheitswert.
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