Frankreich vor den Wahlen / Die Situation in den Banlieues ist angespannt
Während Emmanuel Macrons Partei Renaissance bei den französischen Parlamentswahlen am 30. Juni und 7. Juli ein Debakel droht und der Präsident geschwächt daraus hervorgehen dürfte, der linke Nouveau Front populaire gegen den befürchteten Sieg der extremen Rechten mobilmacht, herrscht in den Banlieues der Städte in der Grenznation die Ruhe vor dem (vermeintlichen) Sturm.
Die Sonne sticht mit aller Macht. Die Hitze herrscht erst seit ein paar Tagen, schon scheinen die meisten Menschen vor ihr in einen Park oder in die eigenen vier Wände geflohen zu sein. Der Asphalt auf dem Boulevard d’Alsace von Borny ist heiß. Bereits verwelkte Blumen in der Mitte der Straße erinnern an das Todesopfer eines Autounfalls, das sich an dieser Stelle ereignete. Eine Fußgängerin wurde vergangene Woche hier überfahren. Die junge Frau erlag im Krankenhaus ihren Verletzungen.
Wahid ist mit seinen Einkäufen in einer Plastiktüte auf dem Nachhauseweg. An einem Plakat des linken Nouveau Front populaire vorbeigehend, lässt er sich von uns über die bevorstehenden Wahlen befragen. Viel Hoffnung setzt er nicht auf den Urnengang, und doch ist er sich bewusst, dass Wählen wichtig ist. „Halb Franzose, halb Algerier“, als der er sich selbst bezeichnet, ist Wahid in Borny groß geworden. Vorher habe er bei PSA hier in dem Stadtteil von Metz gearbeitet, sagt der 57-Jährige. „Früher waren das andere Zeiten“, sagt er. Ehemalige Bewohner des „quartier chaud“ erzählen von Zeiten, in denen sich „selbst die Polizei kaum ins Viertel traute“. Mittlerweile sei viel unternommen worden. Die französische Regierung habe viel Geld in Viertel wie Borny gepumpt, Wohnblöcke renoviert oder abgerissen, Parks angelegt oder verschönert.
Seither seien neue Generationen von Immigranten angekommen, erklärt Wahid, die eine andere Mentalität hätten wie die früheren Einwanderer. „Das Viertel wird seinem schlechten Ruf immer wieder gerecht“, fügt er hinzu. „Erst letzte Woche gab es wieder eine Messerstecherei, bei der fünf Leute verletzt wurden. Einer hatte sogar eine Axt.“ Bei der blutigen Auseinandersetzung habe es sich wohl um eine Clan-Auseinandersetzung unter Afghanen gehandelt. Ab und zu komme es auch zu Schießereien.
Von den Unruhen vor fast genau einem Jahr, bei den landesweiten Ausschreitungen in den Banlieues, nachdem der 17-jährige Nahel in Nanterre von einem Polizisten erschossen worden war, war Borny stark betroffen: Unter anderem wurde die Mediathek des Brennpunktviertels in Brand gesteckt. Auch in anderen Gemeinden der Grenzregion gab es Krawalle: Rathäuser wurden angezündet, Polizeistationen angegriffen, Geschäfte geplündert, unzählige Fahrzeuge gingen in Flammen auf. Einmal mehr hielten die „émeutes“ Frankreich und seine Sicherheitskräfte in Atem. Der Rassismus und die Übergriffe der Polizei sind ein Dauerthema in den Banlieues. Die Lunte zu einem Pulverfass.
Wasser auf die rechten Mühlen
Dass Vorfälle wie die Messerstecherei immer wieder Wasser auf die Mühlen der extremen Rechten von Marine Le Pens Rassemblement national (RN) – oder Eric Zemmours Reconquête – bedeuten und diesen entgegenkommt, versteht sich von selbst. Die Unruhen vor fast genau einem Jahr erwiesen sich jedenfalls als ein gefundenes Fressen für den RN, der das Sicherheitsthema neben der Immigration seit jeher als Thema hat. „Auffällig ist, dass die nicht mehr viel Wahlkampf machen“, sagte mir kurz vor unserem Besuch in Borny ein Militanter der Confédération générale du travail (CGT).
Der RN scheint sich nach dem Triumph bei den Europawahlen auch des Sieges bei den französischen Legislativwahlen sicher zu sein: In Metz lag der RN-Front- und Strahlemann Jordan Bardella bei 23,95 Prozent und ließ Macrons Partei Renaissance (16,15%) ebenso weit hinter sich wie die Sozialisten (15,65%) und die linke La France insoumise (14,47%). Die Républicains kamen nur auf 7,56 Prozent. In Thionville fuhr Bardella 28,60 Prozent ein und in Yutz sogar 33,28 Prozent. In seinen Hochburgen Saint-Avold und Forbach räumte Bardella mehr als 40 Prozent ab. In dem von einem RN-Bürgermeister regierten Hayange war die Zustimmung mit 52,45 Prozent am höchsten. Landesweit liegt der Rechtspopulist, der das Amt des Premierministers anstrebt, vor den Parlamentswahlen bei 36 Prozent – der amtierende Regierungschef Gabriel Attal nur bei 29 Prozent.
Derweil müht sich der Zusammenschluss die linke Neue Volksfront aus Sozialisten, Grünen, Kommunisten und La France insoumise, die sich auf Einheitskandidaturen in allen 577 Wahlkreisen geeinigt hat, mit dem Wahlkampf auch in den „heißen“ Vierteln ab und fordert unter anderem einen Mindestlohn von 1.600 Euro pro Monat. Ihre Plakate sind auch in Borny zu sehen. Doch die Umfragen gehen von einem Stimmenanteil von 27 bis 29 Prozent aus, für die Macronisten etwa 20 Prozent. Dass dies reicht, um die extreme Rechte in die Knie zu zwingen, ist zu bezweifeln. Laut Umfrage liegt der RN drei Tage vor der Parlamentswahl mit 36 Prozent mit großem Abstand vorn. „Neben Themen wie Sozialpolitik und Wirtschaft ist die Sicherheit von Bedeutung“, sagt Wahid. „Nicht zuletzt in einem Viertel wie unserem, auch wenn es hier längst nicht so schlimm ist wie in den großen Städten. Wir sind nicht Paris, Lyon oder Marseille.“
Wald statt Wahl
Dass die Sicherheit in den Banlieues eine große Rolle spielt, weiß auch Christian. „Ich wähle schon lange nicht mehr, das bringt einfach nichts“, sagt der 68-Jährige. Er hält unter anderem die Drogenpolitik für verfehlt. Man hätte die leichten Drogen längst legalisieren sollen. „Aber man muss allgemein viel ändern“, meint er. Nur traue er dies keinem Politiker und keiner politischen Partei zu. Er sei früher „écolo“ gewesen und hätte gegen Atomkraft demonstriert, erzählt er. Mit den heutigen Grünen könne er nichts mehr anfangen. „Alles Greenwashing“, so Christian. Heute wolle er nur noch seine Ruhe haben. Es gehe sowieso alles den Bach runter. „Es dreht sich alles nur ums Geld“, bedauert der Einwohner von Borny und fügt hinzu: „Die Wahlen interessieren mich nicht. Ich gehe lieber in den Wald, in die Natur.“
Madi war noch nie wählen. Er ist in einem Brennpunktviertel von Yutz aufgewachsen und in Borny zur Schule gegangen. Seinen letzten Job hat er geschmissen und einen neuen noch nicht gefunden. „Wenn ich sage, wo ich herkomme, habe ich eh schlechtere Chancen“, so der junge Franzose, Sohn von Einwanderern aus Mali. Politik interessiere ihn gar nicht, sagt der 20-Jährige. Aber er weiß, „dass die extreme Rechte, wenn sie an die Macht kommt, alle Halal-Metzgereien schließt“. Auf die Frage, von wem er das wisse, sagt er: „Das erzählt man sich halt so.“ Dazu sagt Omar, ein Metzger aus Yutz: „Unsinn.“ In seine Metzgerei kommen „Leute unterschiedlicher Nationalitäten und mit verschiedenen Religionen“. Von Wahlabstinenz halte er nichts, betont er. „Ich wähle die Linke“, sagt Omar.
Dabei wird erwartet, dass die Wahlbeteiligung bei 65 Prozent liegen könnte. Das wäre deutlich mehr als 2022 (48 Prozent). So ruft in Borny die Vereinigung „BornyBuzz“ zum Beispiel zum Gang zur Urne auf. Deren Medienbeauftragter Aurélien Zann erklärte im Radio, warum man das Videoformat „11‘‘30“ ins Leben gerufen habe: „11 Sekunden 30 gegen rassistische Stimmabgabe“ spielt auf einen Rap-Song an. „Während des Wahlkampfs hat Bardella auf TikTok gepunktet“, so Zann. „Er sprach damit eine junge Wählerschaft an. Wir haben beschlossen, dieselben Instrumente zu benutzen, um die junge Zielgruppe abzuholen und sie daran zu erinnern, dass hinter dem schönen Lächeln ein Programm steckt, das problematisch ist.“
Auf dem Weg zu unserem nächsten Interviewpartner begegnet uns eine aus Marokko stammende Frau mittleren Alters, die sich fest vorgenommen hat, zum ersten Mal wählen zu gehen. „Ich weiß zwar nicht, wie das geht“, sagt sie. „Aber meine Tochter hat mich überzeugt, dass es jetzt besonders wichtig sei.“ Demet, eine weitere Passantin, darf hingegen nicht wählen. „Ich habe leider keine französische Staatsbürgerschaft“, sagt die 40-jährige Frau, die mit ihrem Hund spazieren geht. „Auch wenn es um viel geht, gerade was die Situation der Immigranten angeht.“ Irritierend ist dagegen die Aussage des aus dem Senegal stammenden Boubakar, der überzeugt sagt: „Wenn ich wählen dürfte, dann für den RN. Die vertreten wenigstens eine klare Linie.“
Konkurrenz unter Migrantengruppen
Yildirim hat keine guten Erfahrungen mit den Immigrationsbehörden gemacht. „Geboren bin ich, als meine Mutter auf Heimatbesuch in der Türkei war“, sagt die 26-Jährige. „Deshalb habe ich nicht die französische Staatsbürgerschaft erhalten. Sie wurde mir bis heute verweigert. Dabei bin ich hier aufgewachsen, zur Schule gegangen und habe mein eigenes Geschäft eröffnet.“ Die junge Frau führt in Borny zusammen mit ihrem Mann und ihrer Schwester einen Friseurladen. Seit Kurzem hat sie ein Baby. Yildirims Mutter sagt: „Ich lebe seit 1989 in Frankreich, seit 32 Jahren in Borny. Wir haben immer hart gearbeitet und uns bemüht, uns zu integrieren. Dagegen sieht es bei vielen Neuankömmlingen aus Ländern wie Afghanistan anders aus. Sie haben anderen Immigranten deren Läden abgekauft und sich breitgemacht.“
Dass es im Laufe der Jahre zu einer Konkurrenzsituation unter den verschiedenen Immigrantengruppen gekommen ist, trifft für viele Einwanderergesellschaften zu. In diesem Fall äußert es sich darin, dass mehr und mehr „alteingesessene“ Menschen mit Migrationshintergrund sich vorstellen können, den RN zu wählen. Einen enormen Zulauf hat Jordan Bardellas und Marine Le Pens Partei auch bei jungen Wählern: Nach einer Ipsos-Umfrage am Tag nach den Europawahlen kam sie bei den unter 25-Jährigen auf 26 Prozent (2019 waren es 15 Prozent). Ein Maschinenbaustudent, dem wir begegnen, sagt zum Beispiel: „Ich habe für den RN gestimmt, weil sie in ihrem Programm die Mehrwertsteuer auf Strom, Gast und Treibstoff senken wollen. Außerdem wollen sie die Löhne um zehn Prozent erhöhen.“ 43 Prozent der Befragten gaben an, dass die Einwanderung bei den Europawahlen, bei denen der RN 31,4 Prozent der Stimmen erhielt, ein entscheidendes Thema war, neben der Kaufkraft (45 Prozent) und vor dem Umweltschutz (27 Prozent).
Ob der Anteil der RN-Wähler größer sein wird als der Wahlabstinenzler, wird sich zeigen. Laut Ipsos werden 37 Prozent in der ersten Runde – eine Woche später sind Stichwahlen – nicht mit abstimmen. So auch Liliane: „Ich wähle schon lange nicht mehr“, sagt die 84-Jährige aus dem Viertel Côte des Roses in Thionville. Sie habe kein Vertrauen mehr in die Politik. Am wenigsten würde sie den RN wählen. Dieser und seine rassistische Politik komme für sie nicht infrage. „Wir sind alle Menschen.“ Auf die Frage hin, welchen Politiker sie am meisten mochte, nennt sie unumwunden Charles de Gaulle. Aber auch gegen Emmanuel Macron habe sie nichts. Eine Zeit lang gehörte die Côte des Roses zu den verrufenen, „sensiblen“ Vierteln der Stadt. „Ich wohne seit 1961 hier“, sagt Liliane. „Ich hatte hier noch nie Probleme.“
Nachbarschaftshilfe
Das Verhältnis zu ihren Nachbarn sei herzlich, betont sie. „Unter ihnen sind mehrere Familien aus Algerien, die schon lange hier leben und sehr hilfsbereit sind“, ergänzt sie. „Zweimal im Jahr setzen wir uns zusammen und bestellen Pizza.“ Die ersten Sommertage über hat Liliane das schöne Wetter genutzt, um sich mit dem Gartenstuhl vor das große Wohnhaus, wo sie eine Eigentumswohnung besitzt, zu setzen und mit ihrer italienischstämmigen Nachbarin zu plaudern. Ein Gesprächsthema bilden unter anderem die Bauarbeiten im Viertel, das völlig neu umstrukturiert werden soll: Einige der Mietskasernen und die von weitem sichtbaren Wohntürme weichen kleinteiligeren Wohnanlagen, das Viertel soll sozial durchmischt werden. Nach dem Abriss eines Wohnturms ist nun der nächste an der Reihe.
Die Stadt erhofft sich dadurch eine Steigerung der Lebensqualität. Das Projekt soll der Côte des Roses ein neues Gesicht geben. Doch einige Bewohner und Eigentümer befürchten, dass es bei einer äußeren Kosmetik bleibt und vor allem die Preise steigen. Nach ihrer Ansicht hat sich das Viertel Jahr für Jahr verschlechtert. Überhaupt gehen die Meinungen über den Zustand der „Zones à urbaniser par priorité“ teils weit auseinander. Einhellig hingegen ist die Meinung von Jugendlichen, dass es für sie nur wenig Freizeitbeschäftigung gibt, wie der 20-jährige Madi aus Yutz bestätigt. Und statistisch bewiesen ist, dass die Arbeitslosigkeit in den „quartiers chauds“ über dem Durchschnitt liegt.
Das neue Roses-Bel-Air in Thionville soll 2028 eingeweiht werden. Damit der Verfall gestoppt wird, haben auch in Borny einige Wohnblöcke neue Fassaden erhalten. Viele der Hochhäuser aus den 70er Jahren waren verwahrlost, Sozialwohnungsbauten (HLM) wie auch jene mit privaten Eigentumswohnungen. Mittlerweile wird eifrig renoviert, Gerüste sind zu sehen und Baustellenlärm ist zu hören. Einige Parks zwischen den HLM sind bereits erneuert. Trotzdem klagen viele Bewohner nach wie vor über die „Unsicherheit“. So sagt Yasmin: „Abends kommen Drogendealer in die Parks.“ Tagsüber ist jedenfalls nicht viel davon zu sehen: Muslimische Mütter flanieren mit ihren Kindern durch den Park oder sitzen auf dem Spielplatz. Vor dem Kebab-Restaurant an der place de Marché von Borny macht der Inhaber eine Pause, nachdem er mit Engin geplaudert. Während er die Ruhe des Nachmittags genießt, sagt Engin, einer seiner Kunden: „Wer das Recht und die Freiheit zu wählen hat, soll es auch nutzen“, sagt der 57-jährige Türke. „Die Jugend von heute muss in ihre Zukunft investieren.“ Dazu gehöre auch die Wahl.
Ob es am Wahlabend ruhig bleibt, hängt vom Resultat ab. Nach Zeitungsberichten ist das Szenario von Unruhen bei einem RN-Wahlsieg erörtert worden. Es werde sogar mit einem „Flächenbrand“ gerechnet, sagte ein Vertreter der Polizeigewerkschaft APN dem Journal du Dimanche. Auch der Tag der Stichwahl gelte als Datum „mit hohem Risiko“. In Berichten vor einigen Tagen sollen Geheimdienste darauf hingewiesen haben. In deren Fokus sind ultrarechte und -linke Gruppen. Die Lage in den Banlieues ist derweil noch ruhig.
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