Gesellschaft / Die soziale Not der Kinder als intergenerationeller Teufels
Seit Jahren wird auf die Kinderarmut in Luxemburg hingewiesen. Obwohl das Problem längst erkannt ist, hat sich bis heute nichts daran verbessert, weil die nötigen gesellschaftlichen Strukturreformen ausblieben. Eine Konferenz der Caritas gab unlängst Aufschluss darüber.
Eine Familie im täglichen Überlebenskampf. Mann und Frau arbeiten unter prekären Bedingungen, auch die Tochter versucht, sich mit einem unsicheren und schlecht bezahlten Job über Wasser zu halten. Der Film „Gloria Mundi“ des französischen Regisseurs Robert Guédiguian handelt vom Kampf ums Überleben und gegen den sozialen Abstieg. Der Mann verliert seine Arbeit. Dann kommt ein Kind zur Welt – ein Hoffnungsträger? Welche Perspektiven hat das Baby?
Das Sozialdrama aus Marseille von 2018 könnte überall in Europa spielen. Das Kinderarmutsrisiko hat in vielen Mitgliedstaaten der Europäischen Union 2023 weiter zugenommen. Nach Angaben von Eurostat vom Oktober 2023 waren 24,7 Prozent der Kinder in Europa von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht – selbst nach der Zahlung von Sozialleistungen. In absoluten Zahlen sind es europaweit fast 20 Millionen. Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens zur Verfügung hat. In Luxemburg ist es jedes vierte Kind. In Deutschland sind es 21,8 Prozent, demnach rund drei Millionen Kinder.
„Kinderarmut empört viele Menschen“, so Christoph Butterwegge. „Sie sehen dadurch die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft gefährdet.“ Um dagegen vorzugehen, müsse die Politik jedoch auf mehreren Wirkungsebenen ansetzen, mit einer integralen Strategie. Die Kinderarmut könne mittels arbeitsmarkt-, sozial-, bildungs-, familien- und wohnungspolitischer Reformschritte verringert werden. Denn das Problem sei nicht monokausal zu erklären, also nur auf eine Ursache zu reduzieren.
Ein Problem und viele Ursachen
Schließlich müsse es in einem wohlhabenden Land keine Kinderarmut geben, schrieb der Kölner Politikwissenschaftler, Armuts- und Ungleichheitsforscher schon 2006. Seither hat sich wenig geändert. Die Situation hat sich in einigen Ländern vielmehr verschlechtert. Mit dem Thema befasste sich Butterwegge bereits vor 30 Jahren, „als sich das Problem in Ostdeutschland ausbreitete“, sagt Butterwegge. „Davor hatte man vor allem über Altersarmut gesprochen.“
Längst ist bekannt, dass Kinderarmut mehr bedeutet, als wenig Geld zu haben. Die Benachteiligungen reichen in verschiedene Lebenslagen, und zwar vom Wohn-, Bildungs-, Ausbildungs- und Gesundheitsbereich bis in die Freizeit. Die Kinderarmut zu bekämpfen, erfordere, Strukturen der sozialen Ungleichheit zu beseitigen, weiß Butterwegge, der kürzlich bei der Konferenz der Caritas „Kinderarmut – kein Thema“ in Luxemburg zu Gast war. Zu seinen Werken zählen Bücher wie das zusammen mit seiner Frau Carolin verfasste „Kinder der Ungleichheit. Wie sich die Gesellschaft ihrer Zukunft beraubt“ (2021) und „Umverteilung des Reichtums“ (2024).
Patricia* hat fast ihre gesamte Kindheit in prekären Verhältnissen gelebt. „Meine Mutter und mein Vater gingen beide zur Arbeit, haben aber nicht genügend verdient. Es reichte gerade so zum Überleben“, sagt die Tochter kapverdisch-portugiesischer Einwanderer. „Ich habe meinen beiden Geschwistern bei den Schulaufgaben geholfen. Bis die Kinderbetreuung in den ‚Maisons relais’ kostenlos wurde. Dann gingen sie dorthin.“ Patricia kann sich noch gut daran erinnern, wie sie bei Klassenfahrten zu Hause bleiben musste, weil kein Geld dafür zur Verfügung stand.
Mit den Ursachen und Folgen der Armut in Luxemburg im europäischen Vergleich hat sich u.a. die Wirtschaftswissenschaftlerin Anne-Catherine Guio vom Luxembourg Institute of Socio-Economic Research (Liser)* beschäftigt: „Kinder sind stärker dem Armutsrisiko ausgesetzt als der Rest der Bevölkerung.“ Die Benachteiligung der Kinder sei vielleicht weniger ausgeprägt als in anderen Ländern, aber stärker, „als man angesichts des Reichtums des Landes erwarten könnte“, sagt Guio.
Alleinerziehende und „Working poor“
Außerdem reiche es nicht aus, erwerbstätig zu sein. Luxemburg gehört zu den Ländern mit den höchsten Raten an „Working poor“ in Europa. Unter den häufigsten Faktoren für Armut sind Guios Untersuchungen zufolge die hohen Wohnkosten zu finden, die nach ihren Worten „eine große Rolle spielen“, gefolgt von geringem Einkommen (was weniger eine Rolle spielt als zum Beispiel in Deutschland und Belgien). Ein möglicher Faktor kann auch ein Migrationshintergrund sein.
Unter den Betroffenen sind viele Haushalte von Alleinerziehenden. „Sie stehen vor einer dreifachen Herausforderung“, erklärt Guio, „sie verfügen nicht nur über weniger Einkommen, sondern haben mehr Belastungen und weniger Zeit.“ Nach Untersuchungen des Statistischen Amtes (Statec) unterscheidet sich das Referenzbudget eines Elternpaares mit der gleichen Anzahl von Kindern um etwa 650 Euro von dem einer alleinerziehenden Person. Wie Guio erklärt, beruht das Einkommen des Alleinerziehenden im Gegensatz dazu eben nur auf einer Person. Guio weist darauf hin, dass jedes dritte arme Kind in einer Ein-Eltern-Familie lebt.
„Meine Mutter hat mich und meinen Bruder allein erzogen“, sagt Diogo*. „Denn mein Vater hatte uns schon früh verlassen. Von ihm bekamen wir kein Geld. Meine Mutter hat jeden beschissenen Job angenommen. Aber es hat hinten und vorne nicht gereicht. Ich konnte mir keine Fußballschuhe kaufen. Dagegen haben die anderen in unserem Verein von ihren Eltern alles bekommen.“
Diogos schulische Leistungen wurden immer schlechter. Einen Schulabschluss hat er nicht. „Den würde ich gerne nachholen“, wünscht er sich. Momentan arbeitet er für einen Lieferservice. „Ich habe keine Zeit mehr für die Schule. Schließlich muss ich meiner Mutter, die als Reinigungskraft arbeitet, etwas abgeben. Ich wünschte, sie könnte mal Urlaub machen oder mit uns nach Portugal fahren. Aber das geht leider nicht.“
Erdrückende Wohnkosten
Darüber hinaus ist der Anteil der Wohnkosten für Alleinerziehende höher, dies kumuliert mit anderen Wohnungsschwierigkeiten ebenso wie mit Problemen, das Familien- mit dem Berufsleben zu vereinbaren. Nicht zuletzt sind sie steuerlich durch die höhere Besteuerung in der Klasse 1a benachteiligt und bekommen laut einer Liser-Studie die Inflation stärker zu spüren, ob bei Lebensmitteln oder bei den Energiekosten. Zwar gebe es Gratisleistungen wie zum Beispiel kostenlose Schulbücher, Betreuung, Schulessen und öffentlichen Personentransport. Eine andere Untersuchung zeigt zwar die Bedeutung dieser Transferleistungen für die Kinder, allerdings muss sichergestellt sein, dass die vulnerabelsten unter ihnen wirklich Zugang dazu haben.
„Als die Miete erhöht wurde, mussten wir uns eine andere Wohnung suchen. Die war aber richtig schlecht“, erinnert sich Momo*. Auch seine Mutter ist alleinerziehend. „Wir konnten uns keine neuen Klamotten kaufen. Manchmal bekamen wir welche geschenkt. Aber das war echt peinlich. Meine Mutter wurde depressiv. Und ich wurde aggressiv. Ich verspürte eine Wut gegen alle, suchte Streit, und wenn mich einer provozierte, gab es gleich Prügel.“ Momo wurde gehänselt. Anfangs habe er sich nicht gewehrt, dann habe er die Fäuste eingesetzt. „Ich wollte mir das nicht mehr bieten lassen.“
Auch bei Momo verschlechterten sich die schulischen Leistungen. „Dabei hat meine Großmutter immer gesagt, ich solle in der Schule gut aufpassen, damit mal etwas aus mir werde.“ Weil er Drogen bei sich hatte, als die Polizei ihn kontrollierte, habe er Schwierigkeiten bekommen. Zudem fand man bei ihm gestohlene Ware von einem Raub. „Ich wollte meiner Mutter nichts sagen, aber es kam heraus.“
„Den Reichtum anpacken“
Es gebe unterschiedliche Wege in die Armut, aber „keinen Königsweg“ aus ihr heraus, erklärt Christoph Butterwegge, aber verschiedene Politikfelder. Ein Ansatz sei die gerechtere Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen, es brauche einen Paradigmenwechsel vom „schlanken“ zum interventionistischen Staat. Gerade in jüngster Zeit hat sich – auch in Luxemburg – wieder ein gegenläufiger, neoliberaler und weniger sozialstaatlich orientierter Trend in der Politik Bahn gebrochen.
Nach einem im Dezember 2023 vorgestellten Bericht von Unicef lebt mittlerweile jedes fünfte Kind in den reichsten Ländern der Welt in Armut. Charel Schmit, der Ombudsmann für Kinder a Jugendliche, nennt dies einen „Frontalangriff auf die Rechte des Kindes“. Dabei ist die Armut kein individuelles Schicksal, sondern strukturell bedingt. „Wenn wir die Armut verstehen wollen, müssen wir die ganze Gesellschaft betrachten“, sagt Carole Reckinger von der Caritas. Dazu gehöre eben auch die Ungleichheit. Butterwegge kann ihr beipflichten: „Das Kardinalproblem ist die wachsende soziale Ungleichheit.“
Ein Thema des Caritas-Symposiums war auch die intergenerationelle Armut. Kinder sind arm, wenn die Eltern arm sind. Sie kommen aus armen Familien, aus ihnen werden wiederum arme Erwachsene. Anne-Catherine Guio beschreibt den Teufelskreis wie folgt: „Eltern, die in Armut leben, erziehen ihre Kinder in Armut, die wiederum in Armut leben.“ Demnach haben Kinder, die Armut geboren werden, geringere Zukunftsperspektiven. Aus diesem Teufelskreis gelte es auszubrechen.
Christoph Butterwegge weist bei seinem Vortrag außerdem darauf hin, dass zwar viel über Armut geforscht werde, aber zu wenig über Reichtum: „Wer über den Reichtum nicht reden will, soll über die Armut schweigen.“ Die Eigentumsverhältnisse müssten daher analysiert werden. Und wer die Armut bekämpfen will, „muss den Reichtum anpacken“, so der Politologe. Auch hierbei zeigt sich der intergenerationelle Faktor: Nicht nur der Reichtum werde vererbt, sondern auch die Armut.
„Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg“
Damit einher gehen die fehlenden Perspektiven. Wer es sich leisten kann, für den gelte: „Wo eine Villa ist, ist auch ein Weg.“ Andererseits zeigt er am deutschen Beispiel, wie die Ungleichheit zugenommen hat: Der Sozialstaat wurde abgebaut, der Niedriglohnsektor etwa durch die Liberalisierung der Leiharbeit vergrößert, in dem 20 bis 25 Prozent der Erwerbstätigten arbeiten. Die Reformen der letzten 25 Jahren, etwa die Einführung von Hartz IV, das heute Bürgergeld heißt, haben dazu beigetragen. Die Kinderarmut habe sich dadurch verdoppelt.
Butterwegge weist auf den Unterschied zwischen absoluter und relativer Armut hin. Zu meinen, Erstere gäbe es in Ländern wie Luxemburg oder Deutschland nicht, sei ein Irrglaube. Und er zieht noch einen anderen Vergleich: „Wer in Nairobi in einem Slum lebt, wird nicht gefragt, warum er arm ist. Aber in Deutschland muss er sich rechtfertigen. Das macht etwas mit den Kindern.“ Diese sind in der Regel schlechter ernährt und in der Bildung benachteiligt – bis hin zur Nutzung des Kultur- und Freizeitangebots: Wer kann sich etwa noch ein teures Konzert seines Popstars leisten?
Cheyenne* war noch nie auf einem Konzert. „Meine Eltern gehen immer beim Discounter einkaufen. Und ich musste sogar Kleider von dort tragen. Das war peinlich. Richtig schlimm sei es geworden, als in der Wohnung Schimmel festgestellt wurde. „Der Vermieter unternahm nichts“, erzählt sie. „Und es gerichtlich einzufordern, dafür fehlte uns das Geld.“ Ihre kleine Schwester und ihre Mutter wurden krank. Letztere konnte nicht mehr arbeiten, und Cheyennes Vater verlor auch seinen Job. Der Teufelskreis entwickelte sich zur Abwärtsspirale. Ein Lichtblick war ihr Beitritt zu einem Sportverein. „Vorher fühlte ich mich ausgeschlossen“, sagt sie, „jetzt gehöre ich wo dazu.“
Ein weiterer Ansatzpunkt für einen Ausweg sind nach Butterwegges Worten weniger die sozialen Transfers. Seiner Meinung nach müssen sich die Eigentumsverhältnisse und Verteilungsmechanismen verändern. Der Wissenschaftler kritisiert eine falsche Steuerpolitik mit der Abschaffung bzw. Streichung von Kapital- und Gewinnsteuern – ganz nach dem Motto: „Wer hat, dem wird gegeben – und wer nicht viel hat, dem wird das noch genommen.“ Doch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer z.B. trifft vor allem die Armen.
„Mythos oder Realität?“
„Mythos oder Realität?“, fragt sich Anne Catherine Guio, um die Indikatoren zu hinterfragen. „Ist der Schwellenwert hier nicht vielleicht zu hoch?“ – Das hängt von der Zusammensetzung des Haushalts ab: Der Schwellenwert für einen Haushalt mit einem Erwachsenen und einem Kind liegt bei 2.921 Euro pro Monat, für ein Paar mit einem Kind bei 4.044 Euro und für ein Paar mit zwei Kindern bei 4.717 Euro. Sie zeigt, dass der Schwellenwert sehr nah an dem von Statec berechneten Referenzeinkommen für ein menschenwürdiges Leben in Luxemburg liegt.
Dieser Schwellenwert ist gut an die luxemburgische Realität angepasst. Tatsächlich leben in Luxemburg insgesamt 110.000 Menschen unterhalb der Armutsgrenze, 34.000 davon sind minderjährig. Einige Studien zeigen auch, dass Sozialtransfers, die Familien mit Kind(ern) zugute kommen, relativ geringe Auswirkungen auf die Kinderarmut haben, da sie universell für alle Familien gelten und keine Ergänzungen für die Ärmsten beinhalten. Daher ist es umso wichtiger, dies zu ändern.
Die Ökonomin gibt den politisch Verantwortlichen in der Regierung ein paar Empfehlungen mit auf den Weg. Dazu gehört, den Kindern einen effektiven Zugang zu Nahrung, Unterkunft, Kinderbetreuung, Bildung, Freizeit, Gesundheitsfürsorge und anderen grundlegenden Dienstleistungen zu garantieren. Außerdem müssten die politischen Maßnahmen evaluiert und hinterfragt werden, ob gefährdete Gruppen teilweise davon ausgeschlossen sind. Nicht zuletzt seien ein ausreichendes Einkommensniveau für Eltern und angemessene Sozialtransfers wichtig. Die Investitionen bringen mehr ein, als sie kosten, so Guio, wenn sie gut in die Kindheit investiert sind. Sie stärken die soziale Kohäsion und die Wirtschaft. Es sind Investitionen in die Zukunft.
Für die Kinder ist es eine Chance, eben ein Lichtblick. Cheyenne fraß lange Zeit alles in sich rein, wollte nichts mehr mit Gleichaltrigen unternehmen. Sie fühlte sich stigmatisiert. Ihre Ernährungsgewohnheiten setzten ihr zu. „Mein Selbstbewusstsein ging verloren“, sagte sie. Mittlerweile hat sie selbst ein Kind. Dessen Vater sei noch mit ihr zusammen, sagt sie. Cheyenne bemüht sich um eine Berufsausbildung. Es sieht gut aus, meint sie. Doch sie hat Angst, ihrem Kind einmal nichts bieten zu können. Das alte Stigma von der Armut ist geblieben. „Das will ich nicht weitervererben“, sagt sie und lächelt breit.
* Die Namen der betroffenen Minderjährigen (drei sind mittlerweile volljährig) wurden zum Schutz der Personen geändert. Anne-Catherine Guio hat im vergangenen Jahr zusammen mit drei weiteren Autoren (Olivier de Schutter, Hugh Frazer und Eric Marlier) das Buch „The Escape from Poverty. Breaking the Vicious Cycles Perpetuating Disadvantage“ herausgebracht.
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