Interview / „Die Theater sind zu, weil die Politik sich selbst schützt“
Im Kontext von den aktuellen Theaterschließungen wirkt Guy Helmingers „Lombardi-Affäre“ – eine Abrechnung mit der hiesigen Kulturpolitik – äußerst aktuell. Wir haben uns mit dem Schriftsteller über Kulturpolitik, Erzähltechniken, die Pandemie, Migration und den Drahtseilakt zwischen Fiktion und Wirklichkeit unterhalten.
Tageblatt: „Die Art, wie in diesem Land mit Kunst umgegangen wird“, ist eines der Hauptthemen Ihres neuen Romans. Dieses Thema beschäftigte Sie bereits in „Neubrasilien“. Bauen Sie zwischen Ihren Büchern ein Referenznetz auf?
Guy Helminger: Ich habe bei „Neubrasilien“ nicht an die Lunghi-Affäre gedacht, weil es diese damals noch nicht gab. Woran ich allerdings gedacht habe, ist der Umgang mit Kunst in Luxemburg. Das ist etwas, wofür wir Schriftsteller uns, sowohl durch unser Engagement im LSV (dem damaligen Luxemburger Schriftstellerverband, Anm. der Red.) als auch auf individueller Ebene, immer wieder eingesetzt haben: dass sich endlich etwas ändert. Ich glaube, dass die Haltung mancher Politiker der Kunst gegenüber sehr problematisch ist: Sie sehen die Kunst als reinen Zeitvertreib an und diskutieren über ihre „Systemrelevanz“.
Die fiktionale Verschleierung ist teilweise sehr dünn, der Gegenwartsbezug sehr radikal – war Ihnen von Anfang an klar, dass Sie diese sehr direkte Form für Ihren Roman wollten?
Ich wollte genau diese Form, weil sie eines der Hauptthemen des Romans widerspiegelt: die literarische Fiktion und ihren Bezug zur sogenannten Wirklichkeit. Die Verbindung von beiden wird vom Hauptprotagonisten Georges Husen permanent herbeizitiert. Für mich war es wesentlich, die Erzählung so zu gestalten, dass der Leser sich stets fragt, was stimmt. Klar, diese Affäre gab es. Aber im Roman passiert sie einem Lombardi und eben nicht einem Enrico Lunghi, und dieser Lombardi hat beispielsweise einen Vorfahren, der mit Goethe gestritten hat – was wahrscheinlich nicht auf Lunghis Ahnen zutrifft. Ebenso gibt es in Erzählfigur Georges Husens Leben Ereignisse, die der Autor Guy Helminger auch erlebt hat – der Wettbewerb in Klagenfurt, die Kultursendung. Gleichzeitig ist Husen aber im Darknet unterwegs und hat seinen Nachbarn getötet – was man vom Autor Guy Helminger nicht behaupten kann (lacht). Der Roman spielt bewusst mit dieser Falle. Dies ist einerseits gefährlich, andererseits ist es aber auch etwas, was Literatur ausmacht: ihr unmittelbarer Bezug zur Wirklichkeit – und die Beeinflussung dieser Wirklichkeit durch die Fiktion. Durch diese Vermischung entsteht die Möglichkeit, ein individuelles Geschehnis in eine allgemeingültige Überlegung über Politik und Kunst überführen zu können.
Die Pandemie ist keine Krise des Virus, sondern eine Krise des ManagementsSchriftsteller
Sie haben es bereits angedeutet – der Leser weiß nicht, wie (un)zuverlässig die Figur von Husen eigentlich ist. Dies wird durch die Erzählsituation noch verstärkt, weil man von der Figur außerhalb der Sitzungen beim Psychotherapeuten nichts erfährt …
Hätte ich einen Roman geschrieben, in dem ich die Erzählfigur in all ihren Facetten angelegt hätte, hätte ich genau das Problem, das ich jetzt nicht habe: Dann hätte ich eine literarische Realität, die rein literarisch ist. Mir ging es im Gegenteil um das ständige Oszillieren zwischen den beiden. Die anderen Figuren werden stets nur aus der Sicht von Husen beleuchtet – und Husen behauptet Dinge für die Zukunft und die Vergangenheit, von denen kein Mensch weiß, ob sie frei erfunden sind.
Ihre Erzählfigur stellt sich ab dem ersten Kapitel stellenweise als allwissend dar – dies ist eine postmoderne Erzähltechnik, die mit dem vermeintlichen Wirklichkeitsbezug des Romans kontrastiert. Und trotzdem greift sie. Wieso?
Die Technik greift, weil ich bei diesem Buch darauf achtgeben musste, weder auf die fiktionale noch auf die autobiografische Ebene abzudriften. Es wird Leser geben, die den Text 1:1 lesen werden, aber die haben wohl auch nach einer „Lindenstraßen“-Episode bei Mutter Beimer angerufen und gesagt: „Passen Sie auf, in der nächsten Folge werden Sie verfolgt.“ Genau dies ist ein Leitmotiv des Romans. Husen formuliert es so: „Wenn Sprache die Voraussetzung für unser Denken ist (…), können wir uns selbst nicht außerhalb von Sprache denken. Wir wären immer schon Literatur.“ Ich habe versucht, dieses sehr komplexe Verhältnis zwischen Literatur und Wirklichkeit durchzudeklinieren. Hätte ich meine Figuren auktorial gestaltet, wäre eine gewisse Sicherheit der Fiktion entstanden. So entsteht eine permanente Schwebe, eine Gratwanderung zwischen Fiktion und Wirklichkeit.
Im Zuge der Lunghi-Affäre wurde diese Abschaffung der zeitgenössischen Kunst durch die Politik oftmals theorisiert. Was kann die Fiktion, was der Essay nicht kann?
Die Fiktion ist eine Bereicherung für die Wirklichkeit, weil sie nicht nur Fakten, sondern eben eine Sicht auf die Fakten präsentiert. Hätte man keine Literatur, gäbe es eine bestimmte Diskussionsform überhaupt nicht mehr. Ich bin jemand, der die Literatur nicht genug überschätzt – obwohl ich sie maßlos überschätze. Ich glaube, dass gute Literatur einen gleichen Effekt hat wie eine Rede im Parlament. Sie ist eine Sichtweise auf ein Problem, eine Gesellschaft, auf soziale Phänomene, auf menschliches Verhalten, die in eine Gesamtdiskussion mündet – und deshalb ist sie eben kein Zeitvertreib. Wenn ich Fakten aufliste, dann habe ich eine Information. Diese Information ist nicht unbedingt eine Reflexion – aber die Literatur hat diesen Mehrwert, sie ist eine Reflexion. Nehmen wir das Beispiel der Migration. Da kennen wir die Infos: Eine Masse kommt übers Meer, einige ertrinken. In der Literatur bleibe ich bei diesen Menschen und gehe mit ihnen unter. Und ich hoffe, ich ersticke dabei, als Leser. Ich glaube, dass man über eine solche Emotionalität einen reflexiven Prozess in Gang setzen kann.
Nehmen wir das Beispiel der Migration. Da kennen wir die Infos: Eine Masse kommt übers Meer, einige ertrinken. In der Literatur bleibe ich bei diesen Menschen und gehe mit ihnen unter.Schriftsteller
Stichwort Migration: Ihr Roman „Neubrasilien“ wurde dieses Jahr neu aufgelegt. Auch wenn die Themen der beiden Romane sehr unterschiedlich sind: Ein gemeinsamer Nenner ist vielleicht die Verzahnung vom Lokalen und Universalen?
Ich glaube, dass es von der Methodik her durchaus Ähnlichkeiten gibt, auch weil ich immer wieder versuche, an Menschen dranzubleiben und über die Emotionalisierung des Lesers einen Denkprozess anzustoßen. Bei dem einen Roman geht es um Migration, bei dem anderen um Kunst. Beide Romane sind Denkanstöße, sind Diskussionsbeiträge zu diesen Themen. In „Neubrasilien“ lasse ich Asylsuchende aus Montenegro auf die Luxemburger schauen. Diese finden es merkwürdig, dass die Straßen auf dem Limpertsberg nach Rosen und Dichtern benannt sind. Diese Ironie findet man auch in der „Lombardi-Affäre“. Wenn man eine Straße nach einem Dichter benennt, dann ist dieser im Kanon – folglich muss man sich nicht mehr mit ihm auseinandersetzen. Es gibt Themen, die mir auf den Nägeln brennen. Im Januar werde ich 58, mein erstes Buch erschien, als ich 26 war. Seitdem warte ich darauf, dass sich in Luxemburg irgendwas tut, dass man anfängt, die Künstler im Ausland zu bewerben. Das fing irgendwann mit Musik an, und jetzt tut sich endlich etwas. Man scheint zu begreifen, wie es einen mit Scham erfüllen muss, dass man im Ausland so angesehen wird, als käme man aus einem Land, in dem jeder seine Bank hat, aber niemand ein kulturelles Bedürfnis entwickelt.
Sie glauben also, dass Kultur:LX und das damit einhergehende Exportbüro für Literatur etwas bewirken werden?
Ich finde die Initiative erst mal richtig gut. Aber nicht nur die, auch die jetzige literarische „Rentrée“ mit ihren Plakatierungen: Das ist etwas, das man schon vor 20 Jahren hätte machen können. Man sieht ja, was so was im Ausland bewirkt, es kurbelt den Verkauf an, es fördert die Sichtbarkeit. Ich bin ein sehr großer Freund der Idee eines Literaturexportbüros, weil ich selbst im Laufe meiner bisherigen Laufbahn extrem viel von Auslandsaufenthalten hatte: Dort habe ich Menschen, neue Literaturen, neue Ansätze des Denkens kennengelernt. Machen wir uns nichts vor: Auch Literatur ist Business, man braucht als Schriftsteller folglich ein großes Netzwerk. Wenn ich sehe, wie die Schweiz, wie Österreich es plötzlich doch schaffen, einen gewissen Anteil im deutschen Feuilleton eingeräumt zu bekommen, wie sie es schaffen, auf Festivals präsent zu sein und an Autorenresidenzen gelangen, dann denke ich: Warum tun wir das nicht? Ich habe diese Exportarbeit fast ganz alleine geleistet, mit der Unterstützung von ein paar Menschen im Ministerium. Dort arbeiten auch nur eine Handvoll Leute und die sind teilweise auch von der Arbeit überfordert. Zurzeit aber habe ich das Gefühl, dass dort mehr in den Export investiert wird und bin deswegen hoffnungsvoll, dass sich die Situation bessern wird – zumindest für die folgenden Generationen.
Im Roman wird Luxemburg ziemlich provinziell dargestellt. Verurteilen Sie die Luxemburger Kulturpolitik genauso radikal wie die Erzählfigur?
Wir sind ein kleines Land, es gibt nicht Hunderte Autoren, die international mithalten können – aber es gibt welche. Warum sollte man die verstecken, warum sollte man sie nicht unterstützen? Das gilt für alle Kunstsparten. In dem Sinne finde ich nicht, dass Luxemburg irgendwas Provinzielles hat. Was ich aber immer sage: Jedes Kunstwerk muss einen Grad an Provinzialität haben, damit es international wird. Man muss es in der Situation verankern, in der man steckt, man schreibt ja nicht im gesellschaftsfreien Raum. Durch diese Verankerung kriegt die Literatur etwas Allgemeingültiges. Die lokale Verankerung der Schicksale in „Neubrasilien“ entstand durch meine Recherche. Aber Migration ist ein internationales Phänomen und die Art, wie sich die Geschehnisse im Roman zutragen, hat man bestimmt auch andernorts beobachten können. Das macht alle großen Bücher aus – sie haben eine Verankerung da, wo sie herkommen, gehen aber darüber heraus. Als ich Luxemburg 1983 verlassen habe, gab es keine richtige Universität, es gab kaum literarische Verlage, alles steckte in den Kinderschuhen. Dass es seitdem eine nennenswerte Entwicklung gab, liegt nicht unbedingt daran, dass man jetzt von offizieller Seite so ausgiebig unterstützt worden wäre, sondern daran, dass einige Leute unfassbar viel Idealismus hatten und unfassbar viel da reingesteckt haben.
Entblößen die aktuellen Schließungen von Kultur- und Theaterhäusern nicht, wie gering der gesellschaftliche und politische Stellenwert von Kultur eigentlich ist?
Diese Pandemie ist keine Krise des Virus, sondern eine Krise des Managements. Dass die Theaterhäuser wieder zugemacht wurden, grenzt wirklich an Hohn. Es gibt überhaupt kein Argument für diese Schließungen. Was das Virus anbelangt, basiert unser ganzes Denken auf einer Wahrscheinlichkeitsrechnung – wenn so und so viele Leute sich infizieren, dann könnte in so und so vielen Wochen unser Gesundheitssystem überlastet sein. Das Argument der Politik lautet, dass man 75 Prozent der Infizierten nicht mehr nachverfolgen kann. Das mag sein – aber es gab Monate, da hätte man es tun können. Zu dem Zeitpunkt wäre diese Wahrscheinlichkeitsrechnung für den Kulturbereich möglich gewesen. Das wurde nicht gemacht, es wurde komplett verschlafen – weil Politikern Kunst nicht wichtig ist. An die Stelle der Wahrscheinlichkeitsrechnung tritt dann die Vorschlaghammerpolitik – man macht alles zu. Damit kann die Politik sich sehr gut schützen, weil nachher nicht behauptet werden kann, man habe nicht genug gemacht. Die Theater sind zu, weil die Politiker sich selbst schützen. Das ist ein Hohn, eine Verachtung der Kunst und eine Bankrotterklärung des Managements. Ich verlange von Politikern, die sich ja alle für so schlau halten, dass sie differenzierter arbeiten.
Diese Verachtung ist also nicht rein luxemburgisch?
Kurz nach der Lunghi-Affäre präsentierte die Kölner Kulturdezernentin und amtierende Bürgermeisterin einen neuen Intendanten fürs Schauspielhaus. Gewählt wurde jemand, von dem ganz klar war, dass er kein zeitgenössisches Theater, sondern ein Wohlfühltheater für den Mittelstand machen wird. Die Botschaft war klar: Wir haben mit der zeitgenössischen Kunst nichts zu tun und suhlen uns in der klassischen Moderne. Die Politik schaltet damit die kritischen Stimmen aus. Sie tut dies aber eher unbewusst, weil sie Kunst nicht als gesellschaftliche Kritik wahrnimmt – für sie sind wir Künstler bloß Hampelmänner. Deswegen will der Premier in meinem Buch immer nur Musicals sehen.
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Es wundert mich viele Schriftsteller der heutigen Zeit die Migration in ihren Fokus stellen, Völkervertreibung , Völkermord in der Welt fast gänzlich ignorieren. In Zeiten eines Böll und Genossen hätte ein Aufschrei der Schriftstellerzunft die Welt durchhallt , wenn wie in Kurdistan, Bergkarabach,Libyen, Mali, ….fremde Staaten ihre unmenschliche Expansionspolitik durchsetzen oder wie rezent im Iran ein Attentat mit von künstlicher Intelligenz betriebenen Waffen durchgeführt wurde. Die Migration als Trend der Zeit wird von den Medien , den Kunstschaffenden ausgeschlachtet. Pervers jedoch ,die Ursachen der Migration , die Folgeschäden von Völkervertreibung Völkermord , Kriegen,Expansionsplänen und Einflussnahme von Macht verschiedener Staaten größtenteils im täglichen Medienrummel und Kunstbetrieb untergehen, der heilen Polit- und Konsumwelt verschwiegen werden. Mir scheint als wollen weder Schriftsteller noch andere Kunstschaffende mit ihren Werken beim Publikum anecken.Sie vermeiden Konfrontationen im Bewusstsein schnell auf das Abstellgleis der Bedeutungslosigkeit des Kulturbetriebes abgeschoben , zur „ Persona non grata“ erklärt zu werden.Ich meinerseits resümiere das heutige Kunstschaffen nach Pestalozzo: „ Der Grund der Unterwerfung ist Selbstsorge.“
Brauchen keine Theater , die Komödien und Dramen werden vor laufender Kamera von Berufskommedianten in einer Staatskammer und in Gemeidesälen aufgeführt …….
@ Herr J.Scholer.
Das heutige Kunstschaffen hat mit dem grossen Schweitzer Kinderfeund PESTALOZZI , aber auch.gar nichts am Hut !
Resumieren Sie also bitte das heutige Kunstdenken nach wem Sie wollen, aber lassen Sie bitte den guten alten Pestalozzo wie Sie ihn nennen aus dem Spiel.
Si taquisses usw……….
Die Theater sind ganz einfach zu, weil in geschlossenen Räumen , unabhängig von ihrer Grösse, ab einer bestimmten Anzahl von Menschen, die Ansteckungsgefahr sehr hoch ist.
Auf diese Selbstdarsteller können wir in diesen Zeiten verzichten!
@GB:Ob es ihren Ansichten entspricht oder nicht, ich gerne andere Meinungen respektiere , lasse ich mir weder vorschreiben wen ich zitiere, noch was ich unterlassen soll. Nun mag der verstaubte Kinderfreund Pestalozzi nichts mit dem heutigen Kulturschaffen etwas gemein gehabt haben , doch besser könnte man das heutige Kunstschaffen nicht resümieren .
Jeder Hirni glaubt er sei systemrelevant.