Menschenrechte / Die vernünftige Utopie: Gilbert Pregno zu Corona-Krise, Nachholbedarf in Luxemburg und Ausreißer in der EU
Wegen Corona empfängt Gilbert Pregno (67) bei sich zu Hause in Differdingen. Inmitten der vielen Bücher in seinem Arbeitszimmer ist der Psychologe und Familientherapeut schnell bei dem Thema, das ihn seit 20 Jahren umtreibt: den Menschenrechten. Entmutigung oder Rückschläge lässt der Präsident der „Commission consultative des droits de l’Homme“ (CCDH) nicht gelten.
Tageblatt: Was sind die Menschenrechte für Sie? Eine Art Definition abseits von Charten und Konventionen?
Gilbert Pregno: Ich habe die Menschenrechte immer als eine „vernünftige Utopie“ bezeichnet. Wir werden sie nie erreichen, aber der Weg dorthin ist das Bestmögliche, was wir tun können, damit sie respektiert werden.
Den Weg geht die Kommission gerade, in dem sie das aktuelle Corona-Gesetz (Nr. 7733) kritisiert. Was stört Sie?
Regierung und Parlament haben vieles geleistet. Wir kritisieren aber seit Beginn der Pandemie die Verhältnismäßigkeit und die fehlende wissenschaftliche Begründung für die Art der Maßnahmen. Das tun wir aktuell wieder. Warum bleiben Supermärkte offen und Kulturzentren nicht? Warum ist die Ansteckungsgefahr in Geschäften, die offen bleiben, nicht so groß wie im Theater? In unserem Gutachten heißt es: „Kulturelle Rechte sind ein integraler Bestandteil der Menschenrechte.“
Interessiert das angesichts der Dringlichkeit, die Infiziertenzahlen mit allen Mitteln reduzieren zu wollen?
Sollte es. Wir als Kommission sind der Ansicht, dass Kultur eine wesentliche Quelle für das psychische Wohlbefinden ist. Das geht seit Beginn der Krise unter. Außerdem zielen die bisher getroffenen Maßnahmen zuerst darauf, die körperliche Gesundheit schützen. Die psychischen Folgen werden vernachlässigt – vor allem bei Kindern und alten Menschen.
Wird heute mehr über Menschenrechte gesprochen als bei der Gründung der CCHD vor 20 Jahren?
Ja. Es gibt heute viel mehr Menschen, die sich dafür interessieren. Das gilt auch für die Politik: die Regierung, das Parlament und die politischen Parteien.
Es passiert aber zu wenig, oder?
Das will ich nicht so stehen lassen. Fortschritte kommen nur mittel- und langfristig zustande, nie kurzfristig. Um Menschenrechte durchzusetzen, braucht es einen langen Atem. Die Erfahrung zeigt, neue Ideen werden immer zuerst ignoriert. Dann werden sie belächelt und schließlich bekämpft. Und irgendwann werden sie übernommen und als die eigenen ausgegeben. Dann passiert etwas.
Das heißt, in den Ländern, wo Aktivisten, Rechtsanwälte und Journalisten verschwinden, bedroht oder getötet werden, ist man über die Ignoranz der Menschenrechte hinaus. Das Stadium des Kampfes hat begonnen …
Ja. Für viele Aktivisten ist es lebensgefährlich. In den letzten Jahren sind weltweit über 4.000 dieser Menschen getötet, gefoltert und inhaftiert worden. Da bin ich persönlich froh, in Luxemburg zu sein.
Das Land kandidiert für einen Sitz im UN-Menschenrechtsrat ab 2022. Eine Sache des Prestiges?
Ich hoffe, dass es das nicht ist. Ich persönlich unterstütze diese Kandidatur unter anderem deshalb, weil ein Sitz einen großen Einfluss auf die Diskussion über Menschenrechte hier im Land haben wird.
Dann sollte es ja nicht so schwierig sein, ein nationales Lieferkettengesetz einzuführen …
Wir hätten gerne, dass sich die Regierung mehr dafür einsetzt. Sie balanciert gerade zwischen dem Willen, ansässige und ansiedlungswillige Unternehmen damit nicht zu sehr zu verstören, und andererseits dem Willen, die Menschenrechte zu respektieren. Wir gehen eher davon aus, dass ein solches Gesetz den luxemburgischen Unternehmen Vorteile gegenüber der Konkurrenz verschafft.
Sitzt die Regierung das nicht aus? Das Außenministerium, in dessen Verantwortung das fällt, verhält sich abwartend …
Unser Außenminister argumentiert damit, dass wir auf eine europäische Initiative dazu warten sollen. Da warten wir aber lange.
Eines der schwarzen Schafe sitzt in Luxemburg, die Socfin. Es gibt eine Allianz der Opfer, die massiven Landraub in Kambodscha beklagt und juristisch dagegen vorgeht …
Ja und es gibt den Versuch der Gegenseite, sie durch Klagen mundtot zu machen. Aber diese Spielchen hören auch irgendwann auf. Davon bin ich überzeugt.
Zurück nach Luxemburg: Die CCDH kritisiert den Umgang mit Behinderten in Luxemburg. Wo ist der Ausweg?
Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass Menschenrechte besonders Beachtung finden müssen, wenn es um Menschen geht, die in einer großen Abhängigkeit stehen. Senioren, Kranke, Behinderte oder Kinder brauchen im Alltag einen besonders hohen Schutz ihrer Würde. Deswegen hätten wir gerne, dass der Ombudsman auch Zutritt zu Trägern, in denen diese Menschen untergebracht sind, bekommt. Nicht als Polizist, sondern als Ansprech-, Diskussions- und Sensibilisierungspartner. Das hat viele Diskussionen ausgelöst.
Die Kommission mischt sich auch beim Jugendschutz ein. Warum?
Ich hätte nicht gedacht, dass ich noch mal erlebe, dass es dazu ein neues Gesetz gibt. Im Moment ist ein Vorschlag in Arbeit, der ein Jugendstrafrecht schaffen soll. Wann wird ein Jugendlicher in der „Unité de sécurité“ (Unisec) inhaftiert und auf welcher gesetzlichen Basis? Aktuell werden dort auf richterliche Anordnung Jugendliche untergebracht, die Straftaten begangen haben, und welche, die über lange Zeit die Schule geschwänzt und Regeln nicht eingehalten haben oder aus der Familie oder der Wohngruppe ausgebrochen sind. Das kann nicht sein. Ich hoffe, dass das neue Gesetz auch das Mindestalter für eine Inhaftierung festlegt.
Vor Menschenhandel macht die CCDH ebenfalls nicht halt. Sie kritisieren vor allem mangelnde Statistiken. Immer noch?
Ja. Die Staatsanwaltschaft hat ein anderes System der Datenerhebung als die Polizei. Deswegen gibt es kaum verlässliche Statistiken. Außerdem sind die Strafen für Menschenhandel in Luxemburg immer noch zu gering. Trotzdem hat sich einiges getan. Es gibt Einrichtungen, wo Opfer unterkommen, auch dank der Arbeit der Polizei, und Fortschritte bei der Sensibilisierung in der Öffentlichkeit. Aber es fehlt immer noch an Personal.
Ein anderes Thema der CCDH ist die Bioethik. Künstliche Befruchtung, Leihmutterschaft …
Wir erarbeiten gerade ein Gutachten dazu, das keine fertigen Antworten liefern wird. Tatsache ist aber, dass es hier in Luxemburg keine Gesetzgebung dazu gibt, sondern lediglich ein „Projet de loi“. Wir wollen eine offen geführte Diskussion zu diesen Themen anregen, schon allein um möglichen Missbrauch zu vermeiden. Und wir wollen, dass Kinder von Leihmüttern dieselben Rechte haben wie alle anderen Kinder auch.
Die Forderung nach Respekt der Menschenrechte wird auf der politischen Ebene gerne mit dem Verweis auf „Einmischung in innere Angelegenheiten“ abgeschmettert. Haben sie angesichts solcher Totschlagargumente überhaupt eine Chance?
Ja. Die Situation ist in vielen Länder eine Katastrophe. Ich bin aber optimistisch. Wenn NGOs und andere Länder auf Regierungen Druck ausüben, wird es Resultate geben – auch wenn man die nicht immer direkt sieht. Menschenrechte sind nicht verhandelbar, nirgends auf der Welt.
Offenbar doch: Bis jetzt gibt es keine Reaktion der EU auf die Behandlung von Flüchtlingen an der bosnisch-kroatischen Grenze. Trotz EU-Menschenrechtscharta …
Das, was da passiert, ist hoch problematisch. Es beschädigt die Werte Europas, weil das kroatische Verhalten bislang keine Konsequenzen hat. Außerdem zeigt sich einmal mehr, dass politische Kompromisse in der EU oft zugunsten ökonomischer Interessen ausgehandelt werden. Diese Kompromisse sind kompromitierend.
Das geht ja noch weiter. Polen und Ungarn: Auch da tut sich die EU schwer …
Ich finde es unerträglich, dass Länder, die die Frauenrechte und die Gemeinschaft der Lesben und Homosexuellen so mit Füßen treten und die unabhängige Justiz zersetzen, Mitglieder der EU sind. Ich hoffe, dass es angesichts der Proteste irgendwann kippt. Diese mutigen Menschen, die in den Straßen protestieren, sind für mich die wahren Menschenrechtler.
Alle, die sich für die Menschenrechte einsetzen, müssen mit Rückschlägen rechnen. Entmutigt Sie das manchmal?
Ich habe irgendwann entschieden, mich nicht entmutigen zu lassen. Punkt. Ein Erfolg kann auch darin liegen, dass es nicht schlimmer wird.
Zur Person
Gilbert Pregno stammt aus Differdingen und hat 34 Jahre lang das Kinderheim „Kannerschlass“ in Zolver geleitet. Er ist Gründer der „Eltereschoul“ und ein Urgestein in der CCDH. Er ist seit der Gründung im Jahr 2000 deren Mitglied. Seit 2014 ist er ihr ehrenamtlicher Präsident. Sein Engagement für die Menschenrechte begründet er mit den Erfahrungen, die er während seiner Arbeit mit Kindern gemacht hat. „Es reicht nicht, nur ein ‚guter’ Psychologe im Heim sein zu wollen“, so sein Statement. „Man muss gleichzeitig das Umfeld verbessern, in dem Kinder und Jugendliche groß werden. Und dazu gehören auch Kinderrechte, die respektiert werden sollen.“
Die CCDH und die Unabhängigkeit
Die CCDH ist eine Kommission, die die Regierung berät. Sie ist interdisziplinär besetzt und besteht aus 21 Mitgliedern aus allen Teilen der Gesellschaft. Seit ihrer Gründung im Jahr 2000 hat sie 115 Gutachten verfasst, 14 allein in diesem Jahr. Die schriftlichen Stellungnahmen sind vorrangig Aufgabe des Sekretariats, das mit zwei Juristen und der Generalsekretärin besetzt ist. Neue Mitglieder wählt die Kommission selbst. Sie sichtet Bewerbungen und leitet sie an ein externes Gremium weiter, das aus fünf Vereinigungen besteht. Das sind Caritas, Conseil national des Femmes, Amnesty International, Aktion der Christen für die Abschaffung von Folter (ACAT) und Croix-Rouge. Sie überprüfen, ob die Kandidaten über das passende Profil verfügen, und reichen ihr Gutachten an den Premierminister weiter. Der Regierungsrat ernennt anschließend formell die neuen Mitglieder der Kommission. Aktuell sind vier Plätze frei.
Socfin
Socfin ist eine agro-industrielle Gruppe, die auf die Gewinnung von Palmöl und Kautschuk spezialisiert ist. 39 Prozent der Anteile gehören der französischen Bolloré-Gruppe, 54,2 Prozent dem belgischen Unternehmer Hubert Fabri. Das teilt die „Action Solidarité Tiers Monde“ (ASTM) in ihrem letzten Bericht mit. Das in Luxemburg ansässige Unternehmen steht wegen massiven Landraubs zugunsten der Kleinbauern in der Kritik. Zwischen 2010 und 2017 hat sich der Anteil an Land, das die Socfin kontrolliert, von 323.198 Hektar auf 402.344 Hektar erhöht. Laut „Le Monde“ hat die Bolloré-Gruppe allein im Jahr 2019 Verleumdungsklagen gegen Journalisten und Medien verloren und wurde Berichten zufolge bereits zweimal wegen „missbräuchlichen Vorgehens“ verurteilt. Das geht ebenfalls aus dem ASTM-Bericht hervor.
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Die Eindämpfung des Virus , der Schutz vor Krankheit, Tod ist Menschenrecht. Wer in diesen Krisenzeiten glaubt , Menschenrechte, die demokratischen Freiheiten in den Vordergrund zu stellen ,der nicht bereit ist auf begrenzte Zeit , der Situation angepasst , Verzicht zu üben , handelt individualistisch, egoistisch, unverständlich.
Das Beispiel von den neuen Ideen, ignoriert, belächelt, bekämpft und dann als die eigenen ausgegeben, trifft auf sehr viele Politiker aber auch auf andere Zeitgenossen zu. Ganz typisch. Der Bürgermeister einer Zentrumsgemeine, der behauptet, das Regieren werde immer schwieriger, tut dies seit über 30 Jahren. Die Vorschläge der Opposition werden scheinbar nicht wahrgenommen um dann später für die eigenen verkauft und umgesetzt zu werden. Der Erfolg wird sich als Trophäe an den eigenen Hut gesteckt.
Zum Thema Verhältnismässigkeit wäre es interessant zu wissen, was schlimmer ist: ein Monat strenger Lockdown mit anschliessend besserer Luft, oder drei, vier, fünf, oder mehr Monate Pseudo-Lockdown mit ungewissen Ausgang, einerseits in Bezug auf den Handel und die Wirtschaft, und auch andererseits bezüglich Wohlbefinden und Menschenrechte.