/ „Die Welt verändern“: Warum vor 100 Jahren das allgemeine Wahlrecht in Luxemburg eingeführt wurde
Sie ist Expertin für Geschlechtergeschichte und hat vor kurzem das Buch „1919: Ein Kontinent erfindet sich neu“ veröffentlicht: Die Historikerin Birte Förster war am Mittwoch zu Gast in Luxemburg, um über die Einführung des allgemeinen Wahlrechts in Luxemburg zu reden. Das Tageblatt hat sich mit der Historikerin über den „steinigen Weg“ hin zur Gleichstellung von Mann und Frau unterhalten.
Tageblatt: Im Jahr 1919 – vor genau 100 Jahren – ist das Frauenwahlrecht in Luxemburg eingeführt worden. Warum hat das eigentlich so lange gedauert?
Birte Förster: Das hat sehr viel damit zu tun, wer in den Vorstellungswelten im 19. Jahrhundert bei Demokraten und Liberalen als politisches Subjekt galt. Und damit auch wählen konnte. Ein politisches Subjekt musste eine unabhängige Person sein, sowohl wirtschaftlich als auch geistig, um frei bei der Wahl entscheiden zu können.
Und das waren Frauen nicht?
Nein, diese Vorstellung schloss Frauen ebenso wie niedere soziale Schichten aus, die in abhängiger Erwerbsarbeit waren. Deshalb bestand auch in sehr vielen europäischen Staaten lange Zeit das Zensuswahlrecht, also ein an Besitz gebundenes Wahlrecht.
Warum galten Frauen nicht als politische Subjekte?
Frauen wurden auf zwei Weisen ausgeschlossen: Sowohl der Code Napoleon, zu dessen Wirkungsgebiet auch Luxemburg gehörte, als auch das Bürgerliche Gesetzbuch des Deutschen Kaiserreiches sahen vor, dass Ehefrauen durch ihren Mann rechtlich nach außen vertreten werden. Das bedeutet, dass verheiratete Frauen als Rechtspersonen aufhörten zu existieren. Sie waren demnach sehr weit entfernt, ein unabhängiges Subjekt zu sein – sie waren gar kein Subjekt.
Aber es gab noch einen Grund.
Ja, als politisches Subjekt musste man in der Lage sein, seine Gefühle zu kontrollieren. Und da in der Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts Männer mit Kultur und Verstand assoziiert wurden, Frauen hingegen mit Gefühlen und Natur, gab es hier eine klare Sphärenteilung. Männer waren prädestiniert für das öffentliche Leben, Frauen, auch durch das Kinderkriegen, für das Private und die Familie.
Wie ist es Frauen gelungen, vor dem Hintergrund dieser klaren Vorstellungswelt als politische Subjekte mündig zu werden?
Die bürgerliche Frauenbewegung sowohl in den Vereinigten Staaten, in Deutschland, aber auch in Luxemburg versuchten ständig zu beweisen: „Wir sind Staatsbürgerinnen-fähig. Wir können Verantwortung übernehmen.“ Die amerikanische Historikerin Paula Baker nennt das „Domestication of politics“: Die Frauenbewegung hat genuin weibliche Themen wie Kindererziehung, Schulbildung, Kinderschutz, Hygiene und Gesundheit sowie Armenfürsorge zu politischen Themen gemacht. Und sie haben argumentiert, dass sie aufgrund ihrer Weiblichkeit besonders dafür geeignet sind, diese politischen Themen zu bearbeiten. Das ist ein Prozess, der auch in Luxemburg um 1900 einsetzt mit dem „Verein für die Interessen der Frau“, dem „Katholischen Frauenverband“ oder auch dem „Dienstmädchenverband“.
Sie betonen sehr stark die Rolle der Frauenbewegung. Hat sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht auch ein gesellschaftlicher Wandel abgezeichnet, der günstig für die Ausweitung des Wahlrechts war?
Ja, es gibt zum Beispiel eine Veränderung der Wahlpraxis: geschlossene Urnen, Wahlgeheimnis, Identitätsnachweis. Laut Historikerin Hedwig Richter setzt sich das Bewusstsein durch, dass Wählen erlernbar ist. Und das öffnet den Prozess für alle Schichten und auch für Frauen. In der Parlamentsdebatte nach dem Krieg um die neue Verfassung in Luxemburg gibt es einen ganz interessanten Moment. Dort führt jemand das Argument an, dass man doch nicht einem Arzt das Wahlrecht gewähren könnte und es gleichzeitig einer Frau mit den gleichen Universitätsstudien und Abschlüssen verweigert. Durch Bildung fällt also die Schranke.
In der Luxemburger Verfassung von 1868 steht jedoch „alle Luxemburger sind vor dem Gesetz gleich“. Nirgends geht die Rede vom Erreichen eines gewissen Bildungsgrads, um bürgerliche Rechte zu erlangen. Wie passt das zusammen?
Ja, aber nehmen Sie die amerikanische Verfassung. Auch dort steht: Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Doch was ist denn ein Mensch? Ein Afroamerikaner ist 1776 kein Mensch, eine verheiratete Frau auch nicht, da sie ihre Rechte an den Mann übertragen hat. Dass alle gleich geschaffen sind und vom Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind, bedeutet demnach noch nicht, dass jemand ein politisches Subjekt ist.
Nun setzt sich die Einführung des allgemeinen Wahlrechts unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg durch. Einige Historiker behaupten, dass den Frauen das Wahlrecht als eine Art „Belohnung“ erteilt wurde, für die Opfer, die sie an der Heimatfront während des Krieges erbracht hätten?
Im zeitgenössischen Diskurs wurde das tatsächlich oftmals als Argument angebracht, um es Männern schmackhaft zu machen. Ein strategisches Argument, um die Ausweitung zu verkaufen. Aber ich halte diese Deutung für wenig überzeugend. Die Frauenbewegung in Europa hat seit 1900 ganz klar auf das Wahlrecht hingearbeitet. Und sie kämpfte für ihr angestammtes Recht, Staatsbürgerinnen zu sein. Sie wollte ein Unrecht beseitigen.
Trotzdem war der politische Moment nach dem Zivilisationsbruch des Ersten Weltkriegs doch opportun?
Ja. In ganz Europa gibt es eine Demokratisierung der Wahlen: in den Niederlanden, in Deutschland, Österreich, Großbritannien, Italien – überall gibt es eine Ausweitung des Wahlrechts. Und eben auch in Luxemburg lässt sich nach dem Krieg im Zusammenhang ein klarer Dynamisierungseffekt erkennen. Neue Parteien werden gegründet, alte Allianzen aufgebrochen. Die Zeitgenossen waren sich bewusst, dass sie die Welt verändern können. Und das hat sich auch positiv auf die Einführung des allgemeinen Wahlrechts ausgedrückt.
Wer hat sich denn konkret für eine Ausweitung des Wahlrechts in Luxemburg ausgesprochen?
Es sind die Sozialisten und die Rechtspartei, die nach dem Krieg für eine Abschaffung des Zensuswahlrechts eintreten. Die Sozialisten haben die Einführung des allgemeinen Wahlrechts schon länger in ihrem Programm. Bei der Rechtspartei sind es eher strategische Gründe. Da Frauen als konservative Wähler gelten, rechnen sie mit einem Stimmenzuwachs. Die Liberalen sind klar gegen das allgemeine Wahlrecht. Sie sind auch die großen Verlierer, weil ihre Wählerklientel von der Besitzgebundenheit profitiert.
Das Argument, dass Frauen konservativer wählen, wird bis in die Gegenwart herangezogen, um zu erklären, warum sich die Luxemburger Bevölkerung beim Referendum 1919 über die zukünftige Staatsform sehr deutlich für eine Beibehaltung der Monarchie ausgesprochen hat. Wie sehen Sie das?
Das Ergebnis war in der Tat mit rund 80 Prozent sehr deutlich und auch bei den darauffolgenden Wahlen im Oktober 1919 gab es einen klaren Rechtsruck in Luxemburg. Aber ich halte die These der konservativ wählenden Frau dennoch für problematisch. Und zwar deshalb, weil uns die Daten fehlen. Wir können also nur spekulieren. Zudem ist mit rund 80 Prozent die Zustimmung für die Monarchie so stark, dass auch die Männer mehrheitlich dafür gewählt haben. Das Ergebnis wird also weniger eine Frage des Geschlechts gewesen sein. Übrigens gab es 1905 auch ein Referendum in Norwegen über die Staatsform mit einer vergleichbaren Mehrheit für die Monarchie.
Die Einführung des Frauenwahlrechts hat allerdings nicht zu einer Gleichstellung von Mann und Frau geführt. Woran lag das?
Zunächst einmal bedeutet, dass Frauen politische Rechte erhielten, nicht, dass sie auch die zivilen Rechte besaßen; also eigenständig Verträge unterschreiben, selber ein Konto eröffnen oder Scheidungen beantragen konnten. Das ist ein Prozess, der bis spät ins 20. Jahrhundert dauert. Zudem gab es keine wirtschaftliche Gleichstellung – einen Gender Pay Gap gibt es zum Teil bis zur Gegenwart. Und dann gab es auch in den 1930er Jahren eine Art „Backlash“. Damals wurden Frauen wieder aus Berufen gedrängt. Nur ein Beispiel: Das Lehrerinnenzölibat, das es Frauen verweigerte, im Staatsdienst zu heiraten und eigentlich 1919 abgeschafft wurde, wurde 1934 wieder eingeführt. Die Gleichstellung zwischen Mann und Frau war kein linearer Prozess, sondern ein steiniger Weg.
In Luxemburg wird gerade auch erneut über eine Ausweitung des Wahlrechts geredet. Immerhin sind 47 Prozent der Bevölkerung aufgrund ihrer Nationalität nicht wahlberechtigt. Was halten Sie von einem Residenzwahlrecht?
Das Staatsbürgerrecht ist noch in nahezu allen Staaten an die Nationalität gekoppelt. Die Frage stellt sich jedoch, wie ein Staat funktionieren kann, wenn nur die Hälfte der Bevölkerung wählen kann. Und ich denke, dass das Gemeinwesen davon profitiert, wenn möglich viele an der Gesellschaft partizipieren. Es spricht vieles in unserer globalen, postnationalen Welt dafür, das Wahlrecht an die Residenz zu koppeln. Mehr Partizipation heißt im Zweifelsfall aber auch: Ich muss Rechte teilen.
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Genau.
Und Leute, denkt daran, ehe Ihr wieder die Schweiz mit ihren dämlichen Referenden als Beispiel von Demokratie erwähnt.
Bei diesen tüchtigen Demokraten wurde den Frauen das Wahlrecht erst in den 70ern zugestanden, je nach Kanton auch erst in den 90ern.