Interview / Direktorin des Literaturarchivs Nathalie Jacoby: „Nicht alle Autoren sind tot“
Als Ende Mai bekannt wurde, das Claude D. Conter die Leitung der BNL übernehmen sollte, zeigte sich der Literaturbetrieb verwirrt – keineswegs, weil man sich fragte, ob Conter dieses Postens würdig wäre, sondern weil jeder Conters Engagement und Leidenschaft für sein Literaturarchiv kannte. Als die neue Direktorin am letzten Donnerstag nominiert wurde, konnte man die Erleichterung förmlich spüren: In der Person von Nathalie Jacoby wurde eine fachlich kompetente, engagierte, literaturbegeisterte Nachfolgerin gewählt. Das Tageblatt hat sich mit der neuen Leiterin des „Centre national de littérature“ unterhalten.
Tageblatt: Haben Sie damit gerechnet, als Nachfolgerin von Claude D. Conter nominiert zu werden?
Nathalie Jacoby: Nein, überhaupt nicht. Ich arbeite seit fünf Jahren hier, es war bisher aber nur eine Teilzeitarbeit, da ich „Professeure détachée“ war. Die Nachricht, dass Claude weggehen würde, musste erst mal verdaut werden, da hat sich anfangs wohl keiner Gedanken über die Nachfolge gemacht.
Wie hat sich sein Weggang angefühlt?
Wir sind ein Team, das sehr eng zusammenarbeitet. Claude hat diesem Team angehört. Er war kurze Zeit davor wieder bestätigt worden, sodass wir uns alle darauf eingestellt hatten, noch lange mit ihm zusammenzuarbeiten – zumal er eine ganze Reihe von Projekten initiiert hat. Folglich gingen wir nicht davon aus, dass er das Archiv verlassen würde. Gleichzeitig sieht man aber auch, wie gut Claude und Germaine (Götzinger, die vor Claude Conter Direktorin des CNL war, Anm. d. Red.) dieses Haus geleitet und das Team zusammengestellt haben, denn im Endeffekt war der Übergang nicht so traumatisch, wie wir uns das vorgestellt hatten. Pierre Marson hat übernommen und die Arbeit ist mit der gleichen Ernsthaftigkeit und Begeisterung weitergegangen.
Sind es persönliche Projekte von Claude Conter gewesen oder Projekte, die in der Mission des CNL verankert sind?
Es sind Projekte, die in unserer Mission verankert sind, darunter viele Publikationsprojekte. Die Ausstellung „Zweiter Weltkrieg“, an der Claude maßgeblich mitgearbeitet hat, hat begonnen, als er das CNL bereits verlassen hatte. Wir arbeiten in der Kontinuität: Ich denke beispielsweise an Reihen, die unter Claude oder Germaine begonnen wurden und die wir auch weiterführen werden – wie die „Lëtzebuerger Bibliothek“. Wir arbeiten zurzeit am nächsten „Fundstücke“-Band, eine wichtige Publikation, die einerseits zusammenfasst, was verstreut publiziert worden ist und gleichzeitig auch jede Menge spannender Anfänge beinhaltet – oft findet man da den Beginn längerer wissenschaftlicher Projekte. Man sieht hier sehr gut, in welcher Richtung sich das CNL betätigt.
Wie fühlt es sich an, in die Fußstapfen von Germaine Götzinger und Claude Conter zu treten?
Sehr beunruhigend. (lacht) Auf der einen Seite hinterlassen sie etwas, das so gut aufgestellt ist, dass es dann schon wieder beruhigend ist. Es ist schön, in einer Institution zu arbeiten, in der man nicht gleich am ersten Tag mit Problemen konfrontiert wird. Auf der anderen Seite ist es klar, dass das Vermächtnis von Germaine und Claude riesig ist und sie als Integrationsfiguren der luxemburgischen Literatur gelten.
Alle Arbeit, die wir leisten, ist im Dienst der Literatur. Oftmals entsteht bei jungen Menschen der Eindruck, Autoren wären entweder unglaublich weit weg oder unglaublich tot. Für mich ist das CNL auch da, um zu vermitteln, wie lebendig die hiesige Literatur eigentlich ist – und dass jeder daran partizipieren kann.Direktorin des CNL
Sie haben wissenschaftliche, erzieherische und verlegerische Erfahrungen gesammelt – inwiefern sind diese nützlich für den neuen Job?
All diese Dinge passen ja sehr gut zum CNL. Im Herzen sind wir ein Archiv. Alles, was wir tun, geht von diesem Herzen, von der Archivarbeit aus: unsere wissenschaftliche Arbeit, unsere Ausstellungen, unsere Veröffentlichungen. Ausgehend von dieser Archivarbeit ist das Wissenschaftliche, was mich seit meinem Studium begleitet, sehr wichtig. Als ich zum CNL kam, war es mir eine große Freude, dort die Möglichkeit zu haben, wieder verstärkt wissenschaftlich arbeiten zu können.
Seitdem ich wieder in Luxemburg bin, habe ich mich als Lehrerin ausbilden lassen, die letzten Jahre dann auch als Lehrerin gearbeitet und so meine didaktischen Kenntnisse vertieft und ins CNL eingebracht. Seitdem ich hier eingestellt wurde, arbeite ich auch an einem Projekt, bei dem didaktisches Material entwickelt und publiziert wird. Dieses Material ist ganz besonders für die Verwendung deutsch-, französisch-, und englischsprachiger Texte an luxemburgischen Schulen gedacht. Dies ist eines meiner Hauptaufgabenbereiche und Interessen und ich würde das auch gerne weiterverfolgen.
Bei „Black Fountain Press“ habe ich den Literaturbetrieb noch einmal von einer anderen Seite kennengelernt. Ich werde natürlich nicht weiter bei „Black Fountain Press“ arbeiten können, werde aber selbstverständlich die Gelegenheit haben, mit allen luxemburgischen Verlegern zusammenzuarbeiten – und weiß jetzt aus eigener Erfahrung, welchen Herausforderungen diese sich stellen müssen.
Was gedenken Sie, anders zu machen?
Erst mal wird meine Arbeit in der Kontinuität dessen sein, was bisher im CNL geleistet wurde. Ich halte nichts davon, Dinge, die man noch nicht richtig kennt, umzukrempeln. Gleichzeitig liegt es in der Natur der Sache, dass jeder seine eigene Persönlichkeit und Interessen einbringt, sodass sich vielleicht auf eine ganz natürliche Art gewisse Akzentverschiebungen ergeben werden. Ich kann jetzt nicht sagen, dass ich konkrete Änderungen plane – ich denke, dass sich so etwas natürlich ergeben wird. Ich werde mich in den nächsten Monaten mit jedem Mitarbeiter unterhalten und auch zuhören, was es im Literaturbetrieb an Vorstellungen und an Bedürfnissen gibt. Alle Arbeit, die wir leisten, ist im Dienst der Literatur. Nicht alle Autoren sind tot – auch wenn wir ein Archiv sind. Oftmals entsteht bei jungen Menschen der Eindruck, Autoren wären entweder unglaublich weit weg oder unglaublich tot. Für mich ist das CNL auch da, um zu vermitteln, wie lebendig die hiesige Literatur eigentlich ist – und dass jeder daran partizipieren kann.
Luxemburgische Literatur
Stichwort Schule: Luxemburgensia wurde früher an den Schulen kaum unterrichtet. Das hat sich in den vergangenen Jahren zwar geändert, in diesem Bereich herrscht trotzdem aber noch Nachholbedarf. Was macht das CNL, um Jugendliche zur luxemburgischen Literatur zu bringen?
Man muss einen langen Atem haben. Es gibt gute Gründe, wieso das Schulsystem und das Schulprogramm so sind, wie sie sind. Das Projekt der „Dossiers pédagogiques“ wurde initiiert, um langsam etwas an dieser Situation zu ändern. Es gibt einen Teufelskreis: Die Menschen, die heute Lehrer sind, haben luxemburgische Literatur an der Schule selbst nicht erfahren. Sie haben anschließend meist im Ausland studiert, wo luxemburgische Literatur auch kein Thema ist. Wenn diese Menschen dann nach Luxemburg zurückkommen und dort unterrichten, vermitteln sie die hiesige Literatur nicht weiter, weil sie diese schlicht und einfach nicht kennen. Aus genau diesen Gründen – und das soll beileibe nicht als Vorwurf am Lehrpersonal missverstanden werden – ist Sichtbarkeit sehr wichtig, ist es wesentlich, den Leuten Material an die Hand zu geben.
Alles, was an wissenschaftlicher Arbeit geleistet wird – am CNL, aber auch an der Universität und an anderen Instituten – ist unglaublich wichtig, weil die Luxemburger Literatur so ihre „Lettres de noblesse“ erhält. Ein Lehrer ist auch an Sekundärliteratur interessiert. Dadurch, dass wir einen Korpus an Sekundärliteratur schaffen, beispielsweise die Poetiken, die wir veröffentlichen, ändert sich langsam etwas. Sehr schön ist auch, dass viele Autoren gerne an Schulen gehen. Dies wird auch von anderen Institutionen gefördert. Ich habe den Eindruck, die Sichtbarkeitsarbeit ist ein Gesamtpaket, von dem das CNL ein wichtiger Bestandteil ist.
Neben der Archivarbeit gibt es die Ausstellungen und die Lesungen. Wie wichtig sind diese Events?
Die Events sind unser Schaufenster. So wenden wir uns an das Publikum. Es sind kleine Feste der Literatur. Wie wir das in den Zeiten, in denen wir gerade leben, weiterhin lebendig gestalten, ist eine große Herausforderung, die ich mir gerne erspart hätte. Events erlauben es uns zusätzlich, unser Archivmaterial zu valorisieren und zu wertschätzen. Zum einen nehmen wir Vor- sowie Nachlässe wissenschaftlich auf, sorgen dafür, dass sie adäquat gesichert werden und zum anderen ist es auch unsere Aufgabe, dieses Archivmaterial zu teilen. So bleibt auch das Werk verstorbener Autoren lebendig.
Gibt es konkrete Lösungsansätze für CNL-Events in der Pandemie?
Da ist zurzeit noch etwas in der Diskussion. Auch vor der Pandemie ist schon viel digital gelaufen, beispielsweise unsere virtuelle Ausstellung über die Sprachgesellschaften in Luxemburg. Zudem gibt es die monatliche Rubrik „Objet du mois“, in der ein Objekt aus unserer Sammlung besonders hervorgehoben wird – meist gibt es da sehr spannende Hintergrundgeschichten. Das Objekt steht physisch hier im CNL, befindet sich aber auch auf der Webseite, wo man das Projekt auch im Laufe der Jahre abrufen kann. Wie wir konkret Lesungen im Haus gestalten können – da müssen wir abwarten. Anfänglich wird es sich wohl eher um kleinere Events handeln – aber es wird durchaus möglich sein, die Literatur auch in der aktuellen Situation lebendig zu gestalten.
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