Gesellschaft / Drei Schritte vor und zwei zurück – eine gefährliche Phase für den Feminismus
Ihr Ziel im Leben sei es, etwas aufzubauen, um es anschließend an andere, jüngere Nachfolgerinnen zu übergeben. Das will Claudine Speltz (75) auch beim „Conseil national des femmes du Luxembourg“ (CNFL), dessen Präsidentin sie seit Juni 2022 ist. Sie ist erfahren darin, Vereinigungen aufzubauen, die Gleichberechtigung zu ihrem Thema machen. Vor dem globalen Kontext bescheinigt sie dem Kampf um gleiche Rechte für Männer und Frauen aktuell eine „gefährliche“ Phase.
Tageblatt: Warum brauchen wir im Jahr 2023 Feminismus?
Claudine Speltz: Wir brauchen Feminismus im Jahr 2023 und darüber hinaus, weil wir noch nicht am Ziel sind: gleiche Rechte für Männer und Frauen. Es hat sich schon viel geändert, aber es bleibt noch viel zu tun. Ich komme aus einer Generation, die kein Bankkonto ohne die Erlaubnis des Mannes eröffnen konnte, nicht ohne seine Erlaubnis arbeiten durfte. Die Abhängigkeiten waren groß, ich spreche von den siebziger Jahren. Das ist 50 Jahre her. Heute ist der Feminismus ein anderer.
Wie ist er denn?
Heute ist vieles festgeschrieben, wie gleiches Gehalt oder Zugang zu Positionen mit Verantwortung. Trotzdem geht es aktuell in meinen Augen immer drei Schritte vor und zwei zurück und ich finde diese Phase gefährlich.
Inwiefern?
Pandemie, Energiekrise, wechselnde Mehrheiten wie in den USA, die Wahlen hier nächstes Jahr, es gibt große Unsicherheiten. Hinzu kommt, dass ich den Eindruck habe, dass die jungen Frauen von heute denken, es ist gar nicht so schlecht, zu Hause zu bleiben. Das ist eine Tendenz, die unserem jahrelangen Kampf für wirtschaftliche Unabhängigkeit widerspricht. Das finde ich frustrierend.
Was ist die Rolle des CNFL vor diesem Hintergrund?
Wir müssen wachsam bleiben. Bei der Gründung des CNFL war ich Mitglied der „Femmes Socialistes”. Meine Vorstellung war, alle diese verschiedenen Organisationen, die für Gleichberechtigung kämpfen, unter einem Dach zu vereinen. (Aktuell sind es 12, Anm. d. Red.) Als eine starke Stimme sollte der CNFL über die Durchsetzung der Gleichberechtigung wachen und gleichzeitig ein konstruktiver Gesprächspartner für die Regierung und andere Institutionen sein. Das ist auch so gekommen. Das ist seine Rolle.
Haben Sie da nicht mit Vorurteilen zu kämpfen?
Doch. Es herrscht immer noch die Meinung vor, wir mögen die Männer nicht. Das stimmt überhaupt nicht. Wir wollen nur die gleichen Rechte wie sie und – je nach individuellen Fähigkeiten und Kompetenzen – den gleichen Zugang zu allen Berufen. Eine Person muss eingestellt werden können, wenn sie die Qualifikation und das Interesse für den Job mitbringt – völlig unabhängig vom Geschlecht.
Die Medien stärken Vorurteile. Der letzte „Global Media Monitoring Project“-Bericht von 2020 zeigt, dass nur 24 Prozent der Berichterstattung in den Medien weltweit sich mit Frauen beschäftigen oder sie als Expertinnen zitieren. Was ist Ihrer Meinung nach die Ursache?
Es ist eine kulturell tief verankerte Gewohnheit. Redaktionen haben immer noch nicht ausreichend den Reflex, Frauen zu beteiligen. Die Konditionierung beginnt im jungen Alter in der Familie und in der Schule. Als mein elfjähriger Enkel erfahren hat, dass seine Cousine in einem Fußballverein spielt, hat er gesagt: „Das ist doch nichts für Mädchen.“ Ich habe ihn vom Gegenteil überzeugen können, aber erst nach langen Diskussionen. Was sehr früh festgelegt wird, hält sich lange.
Dem will die Aktion „la rue au féminin“ etwas entgegensetzen. Reicht es, Straßen nach Frauen zu benennen?
Sicher nicht, doch jeder Schritt, der gemacht wird, ist ein Fortschritt in Richtung Anerkennung von Frauen. Warum soll man dem nicht Rechnung tragen? Straßen nach Frauen zu benennen, hilft, die gesellschaftliche Sichtbarkeit zu stärken. 17 Prozent aller Straßen in Luxemburg sind nach Männern benannt. Mit unserer Aktion haben wir es geschafft, den Anteil der nach Frauen benannten Straßen immerhin von 1,5 auf 2,6 Prozent zu steigern. Damit treten Frauen auch aus der Vergessenheit. Ich hoffe, dass es für kommende Generationen kein Thema mehr ist, Straßen nach Frauen zu benennen.
Wo gibt es denn in Luxemburg den größten Nachholbedarf in Sachen Gleichberechtigung?
Wenn man sich die letzten Zahlen auf europäischem Niveau anschaut, ist Luxemburg gar nicht so schlecht positioniert, was die Gleichberechtigung angeht. Was aber fehlt, ist beispielsweise eine Definition, was „Femizid” bedeutet. Es gibt in der Gesetzgebung noch keine Definition davon. In Belgien wird gerade daran gearbeitet, in Frankreich gibt es sie schon.
Noch etwas?
Beim Thema Wohnen muss etwas passieren. Immer noch haben alleinstehende Frauen, Opfer häuslicher Gewalt oder Alleinerziehende, unglaubliche Schwierigkeiten, eine Wohnung zu bekommen. Da spielt das Einkommen eine Rolle, aber es gibt auch ein Misstrauen der Vermieter gegenüber einer alleinstehenden Frau. Ich weiß von Fällen, wo ein Topgehalt vorhanden war und die Frau die Wohnung trotzdem nicht bekommen hat, weil sie alleinstehend ist. Das ist Diskriminierung. Die zweite Baustelle ist Zugang zu Führungspositionen und Gehältergerechtigkeit. Die Zahlen bei den Gehältern sehen in den Statistiken zwar gut aus, aber es wird nicht zwischen Beamtinnen und Frauen, die in der freien Wirtschaft arbeiten, unterschieden. Bei den Beamtinnen ist die Gerechtigkeit geregelt, aber nicht in der freien Wirtschaft.
Apropos Frauen und Verantwortung: 2023 stehen gleich zwei Wahlen vor der Tür. Auf kommunaler Ebene hört man immer wieder, dass es schwierig sei, Frauen als Kandidatinnen für eine Parteiliste zu gewinnen. Warum eigentlich? Das wäre doch eine Chance, Einfluss zu gewinnen …
Was sind die Konditionen ihrer politischen Arbeit, wenn sie gewählt werden, Mann und Kinder haben? Versammlungen oder Treffen sind am Abend oder an Wochenenden. Es ist schwierig, Haushalt – auch wenn die Männer helfen –, Kinderbetreuung, Freizeitaktivitäten mit der Familie, mit den zusätzlichen Aufgaben in der Kommunalpolitik unter einen Hut zu bringen. Das bremst sie. Und es kommt noch etwas hinzu. Frauen fragen sich viel eher, ob sie dafür geeignet sind. Männer fragen sich das nicht.
Fünf Jahre nach Metoo, Harvey Weinstein sitzt hinter Gittern. Was hat es sonst noch gebracht?
Ein Bewusstsein für die Problematik. Vor allem, was die Belästigung am Arbeitsplatz angeht. Das existiert überall, auch in Luxemburg, und es darf nicht so weitergehen. Das gilt auch für die Belästigungen auf der Straße. Das ist ein Mangel an Respekt gegenüber der Hälfte der Bevölkerung.
Als Präsidentin des CNFL vertreten Sie viele Frauen in Luxemburg. Haben Sie Vorbilder?
Simone Veil, Rosa Parks und Gisèle Halimi.
Die Vorbilder
Simone Veil (1927-2017) war eine französische Politikerin und Holocaust-Überlebende. Sie bekleidete unter anderem das Amt der Gesundheits- und Sozialministerin (während der Präsidentschaft Valéry Giscard d’Estaings) und war sowohl Mitglied des Europarlaments als auch dessen Präsidentin. In ihrer Funktion als Gesundheitsministerin brachte sie das Gesetz zur Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs durch. Rosa Parks (1913-2005) war eine farbige US-amerikanische Bürgerrechtlerin, die sich für das Ende der Rassengesetze einsetzte. Gisèle Halimi (1927-2020) war eine tunesischstämmige Anwältin in Frankreich, die sich mit Prozessen für die Menschenrechte hervorgetan hat. Mandanten waren unter anderem Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir, Françoise Sagan oder Henri Cartier-Bresson.
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„Hinzu kommt, dass ich den Eindruck habe, dass die jungen Frauen von heute denken, es ist gar nicht so schlecht, zu Hause zu bleiben. Das ist eine Tendenz, die unserem jahrelangen Kampf für wirtschaftliche Unabhängigkeit widerspricht.“ Die Männer haben nun mal kapiert, dass es schöner ist wirtschaftlich unabhängig zu sein und trotzdem zuhause zu sitzen. „17 Prozent aller Straßen in Luxemburg sind nach Männern benannt. Mit unserer Aktion haben wir es geschafft, den Anteil der nach Frauen benannten Straßen immerhin von 1,5 auf 2,6 Prozent zu steigern.“ Sehr wichtig, ich schau mir die Schilder immer genau an, genau wie den Nagellack der Frauen. „Frauen fragen sich viel eher, ob sie dafür geeignet sind. Männer fragen sich das nicht.“ Unterstellung, die absolut nicht auf alle Männer zutrifft.
“ Es hat sich schon viel geändert, aber es bleibt noch viel zu tun.“
Also nach meinem Berufsleben habe ich nicht einen einzigen Fall von Belästigung auf dem Arbeitsplatz erlebt oder davon gehört. Nach all den letzten Jahren wo Frauen doch in Amt und Würden in Politik,Justiz usw. Spitzenposten bekleiden hätte sich doch etwas ändern müssen. Immerhin haben wir der „Women’s Lib“ im Amerika der 20er die Prohibition zu verdanken.Die übrigens nicht funktioniert hat und tausende Menschenleben gekostet hat. Also ich möchte nicht missverstanden werden.Frauen und Männer müssen gleichgestellt sein,unbedingt. Kein Mann möchte die Hürden die eine Frau zu überbrücken hat übernehmen wollen. Und Mann sollte alles tun(tut er ja auch normaler Weise) um Frau in der Bewältigung der Lasten zu unterstützen.Wenn Übergriffe gegen Frauen stattfinden sollte man diese aufs schärfste verurteilen.Aber Achtung. Ich habe mittlerweile das Gefühl als täte ich besser daran die Straßenseite zu wechseln,wenn mir eine Frau entgegen kommt. Nicht um sie zu diskriminieren,sondern aus Angst.Soweit sollte es nicht kommen.
Lulling,Schëppeschnëss,Reding,Polfer,Merkel,AKK,Welfring,Schmidt,Baerbock,May,Meloni,Le Pen,Leyen(von der),,,die Liste ist unendlich. Eigentlich müsste es den Frauen heuer besser gehen. Und? Sie scheinen den Umschwung nicht zu schaffen.Oder geht es den Frauen tatsächlich besser als vor X Jahren? Natürlich geht es ihnen besser.Aber man kann nie genug klagen. Ein Blick nach Fern-Ost ernüchtert ungemein.
In den Monaten September und Oktober wurden in Luxemburg mindestens zwei Frauen von ihren Lebenspartner oder ehemaligen Lebenspartnern ermordet. Nimmt man allein diese Zahl und rechnet sie für unsere Nachbarländer Belgien und Frankreich hoch, so käme man auf 35,91, bzw. 210,22 ermordete Frauen. Es sind aber « nur » 19, bzw. 89 Frauen, die seit Beginn dieses Jahres, in unseren beiden Nachbarländern, nachweislich Opfer eines Feminizids, der Ermordung von Frauen aufgrund ihres Geschlechts, wurden.
Anders als in unseren Nachbarländern gibt es hierzulande weder offizielle Zahlen, noch Zahlen von Nichtregierungsorganisationen. Die brutale Ermordung von zwei Frauen in eimem Abstand von nur wenigen Wochen löste keinen öffentlichen Aufschrei aus. Lediglich einige JournalistInnen, wie beispielsweise Madalena Queiros trauten sich zu fragen, wie viele Frauen denn noch sterben mûssten, bevor endlich gehandelt werde.
Angesichtts dieser brutalen Realität mutet dieses Interview wie harmloses Geplänkel an. An keiner einzigen Stelle wird frau konkret und denunziert himmelschreiende Missstände, z.B., bei der Unterbringung von Gewaltopfern und behördliche Ignoranz.
Und beim Thema « la rue au féminin » geht es nicht etwa darum, dass Frauen sich ungestört im öffentlichen Raum aufhalten können, sondern um eine eher symbolische Aktion, die wohl vor allem Frauen der gehobenen Mittelschicht anspricht.
Ohne Zweifel brauchen wir Feminismus, aber einen Feminismus, der auf die Strasse geht und sich nicht in informellen Austausch mit staatlichen Institutionen erschöfpt.
@Sandra: Ihr zwingt die Männer nur mit eurem Feminismus, sich für eine Seite zu entscheiden. Und das ist echt traurig. Besonders für die Männer und Frauen, die nie eine Seite als überlegen empfunden haben.