Argentinien / Dreißig Jahre nach dem Anschlag auf jüdisches Gemeindezentrum herrscht noch immer Straflosigkeit
Bei einem Sprengstoffanschlag auf ein Zentrum der jüdischen Gemeinschaft in Buenos Aires am 18. Juli 1994 kamen 85 Menschen ums Leben, etwa 300 weitere wurden verletzt. Dabei handelte es sich um das schwerste Bombenattentat in der argentinischen Geschichte. Die Hintergründe sind bis heute nicht vollständig geklärt.
Es ist 9.53 Uhr Ortszeit, als mindestens 300 Kilogramm Sprengstoff, der sich in einem auf die Asociación Mutual Israelita Argentina (AMIA) zufahrenden Renault-Lieferwagen befindet, explodiert. Das Gebäude, eine Zentrale der jüdischen Gemeinschaft in Argentinien, die sich in der Calle Pasteur in dem Stadtviertel Once befindet, wird völlig zerstört. Der Bombenanschlag war einer der schwersten antisemitischen Angriffe auf Juden seit dem Holocaust, wenn nicht der schlimmste – bis zum Massaker von Hamas-Terroristen in Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres.
Als Auftraggeber werden schnell die islamistische Hisbollah-Miliz und der Iran ausgemacht. Doch der Selbstmordattentäter, ein 21-jähriger Libanese namens Ibrahim Hussein Berro, wird nach Angaben der Tageszeitung La Nación im November 2005 identifiziert. Das argentinische Berufungsgericht hält es erst im April 2024 für erwiesen, dass der Iran und die Hisbollah den Anschlag geplant respektive ausgeführt haben, und bezeichnet diesen als „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Es soll eine Vergeltung dafür gewesen sein, dass Argentinien ein Abkommen über eine Atom-Kooperation mit Teheran aufgekündigt hatte. Berro war ein Mitglied der Hisbollah.
Bereits am 17. März 1992 war es zu einem Bombenattentat auf die israelische Botschaft in Buenos Aires gekommen, bei dem 29 Menschen getötet und etwa 240 verletzt wurden. Dies sollte ein Racheakt für die angeblich gezielte Tötung des Hisbollah-Generalsekretärs Sayyid Abbas al-Musawi – eines Drahtziehers des Anschlags auf den US-Stützpunkt in Beirut 1983, bei dem 299 französische und US-Soldaten starben – bei einem israelischen Hubschrauberangriff im Februar 1992 gewesen sein.
Allerdings wurde lange Zeit vermutet, dass Mitglieder der argentinischen Armee und Polizei, die bereits während der Militärdiktatur (1976-1983) aktiv und ausgeprägt antisemitisch waren, in den AMIA-Anschlag verwickelt oder dessen Urheber waren. Ein Gerichtsverfahren gegen 22 frühere Polizisten der Provinz Buenos Aires endete im September mit einem Freispruch aller Angeklagten.
Während der Ermittlungen hatte es mehrere Vertuschungsversuche und zahlreiche Pannen gegeben. So wurden an den menschlichen Überresten am Tatort keine ordnungsgemäßen Autopsien, geschweige denn DNA-Tests, durchgeführt. Besonders schockierend: Nach einem BBC-Bericht hatten Polizisten den Kopf des Attentäters in der Nähe des Tatorts gefunden und ihn einfach in eine Mülltonne geworfen.
Die Spur nach Teheran
Im November 2006 ging bei Interpol ein Ersuchen der argentinischen Behörden auf Grundlage der Ermittlungsergebnisse der beiden Sonderermittler Alberto Nisman und Marcelo Martinez Burgos auf Festnahme von zuerst neun, später nur noch sechs Personen ein: dem ehemaligen Hisbollah-Anführer Imad Fayez Mughniyah, dem früheren iranischen Geheimdienstchef Ali Fallahijan, dem ehemaligen iranischen Kulturattaché in Argentinien, Mohsen Rabbani, dem Dritten Botschaftssekretär Ahmad Reza Asghari, dem ehemaligen Leiter der Al-Quds-Einheit und späteren iranischen Innenminister Ahmad Vahidi sowie dem Leiter der Iranischen Revolutionsgarde, Mohsen Rezai. Von der Liste gestrichen worden waren Irans Ex-Präsident Akbar Haschemi Rafsandschani, Ex-Außenminister Ali Akbar Velayati und der frühere Botschafter in Buenos Aires, Hadi Soleimanpour.
Unter anderem wurde auch Anklage gegen den zur Zeit der Anschläge argentinischen Präsidenten Carlos Menem, den Ex-Geheimdienstchef Hugo Anzorreguy und den damaligen Bundesrichter Juan José Galeano wegen Behinderung der Ermittlungen, Fälschung von Akten und Bestechung von Zeugen erhoben. Zwar wurde Menem später von dem Vorwurf freigesprochen, Galeano und Anzorreguy wurden jedoch – erst 2019 – zu Gefängnisstrafen verurteilt. So hatte Galeano nachweislich dem Gebrauchtwagenhändler, der das Auto, in dem die Bombe detoniert war, verkauft hatte, nach dem Anschlag 400.000 US-Dollar dafür gezahlt, dass dieser die Polizeibeamten beschuldigte.
Alberto Nisman, von dem seit 2003 amtierenden argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner im Jahr 2005 zu Galeanos Nachfolger als Sonderstaatsanwalt ernannt, sorgte mit seiner Anklage gegen die Vertreter von Irans Regierung für großes Aufsehen. Doch Teheran lieferte die Beschuldigten nicht aus. Die argentinische Regierung suchte eine Lösung, etwa die Einsetzung einer „Wahrheitskommission“ und die Befragung der beschuldigten Iraner im Iran selbst. Doch Nisman ließ nicht locker.
Der Fall Nisman
Der Jurist beschuldigte Cristina Fernández de Kirchner, die Witwe und Nachfolgerin des 2010 verstorbenen Kirchner, die Verfolgung der Hauptverdächtigen und die Aufklärung des Attentats zu behindern, weil Argentinien damals mit dem Iran über Geschäfte verhandelte. Nisman klagte im Januar 2015 Cristina Fernández de Kirchner an. An dem Tag, an dem er seine Anklage vortragen wollte, wurde er im Zimmer seiner Wohnung in Buenos Aires tot aufgefunden – mit einer Schusswunde im Kopf, einer Pistole und einer Patronenhülse neben sich. Bis heute ist nicht völlig geklärt, ob es sich um Mord oder Suizid gehandelt hat.
Der in Deutschland lebende argentinische Journalist Roberto Frankenthal ist dem Fall Nisman auf die Spur gegangen. In einem Beitrag für das Nürnberger Menschenrechtszentrum macht er darauf aufmerksam, dass Nisman seine Schriftsätze der US-Botschaft in Buenos Aires vorgelegt habe, bevor er sie dem zuständigen Gericht einreichte – und dass er eng mit Antonio Stiuso zusammenarbeitete, einem Offizier des argentinischen Geheimdienstes SIDE sowie Kontaktoffizier der CIA und des Mossad. Stiuso wurde Ende 2014 entlassen, kurz vor Nismans Tod. Über Letzteren hat der Regisseur Justin Webster 2020 einen sechsteiligen Dokumentarfilm gedreht. Sein Titel: „Nisman – Tod eines Staatsanwalts“.
Argentinien hat die größte jüdische Gemeinde in Lateinamerika. Allein in Buenos Aires leben etwa 200.000 Juden. Vor allem Viertel wie Once und Villa Crespo sind von ihnen geprägt. Nach dem Gerichtsbeschluss vom April forderte die AMIA einmal mehr, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. „Die Straflosigkeit ist ein Schandfleck in der argentinischen Geschichte“, heißt es in einer Stellungahme des Gemeindezentrums. Dessen Gebäude in der Calle Pasteur hat seit einigen Wochen eine neue Fassade, ein aus Drei- und Vierecken bestehendes Wandgemälde. Es zeigt die Vielfalt der Aktivitäten der seit 130 Jahren bestehenden Einrichtung. Das Werk „Colors of AMIA“ des argentinischen Künstlers Daniel Peroni verbindet eine bereits vier Jahre nach dem Anschlag von 1994 enthüllte Skulptur mit einer „Wand der Erinnerung“ aus dem Jahr 2018.
„Es gibt Ereignisse, die den Kalender eines Lebens prägen und gleichzeitig eine ganze Gesellschaft für immer verändern“, schreibt die Journalistin Débora Campos von der größten argentinischen Tageszeitung Clarín. „Der Bombenanschlag von AMIA ist ein solches Ereignis.“ Eine Zeremonie zum Gedenken an den Anschlag beginnt an diesem Donnerstag um 9.53 Uhr. Ein gemeinsamer Aufruf der AMIA und des zweiten großen jüdischen Verbandes in Argentinien, der Delegación de Asociaciones Israelitas Argentinas (DAIA), hat das Motto: „Der Terrorismus geht weiter, die Straflosigkeit auch.“ Und der AMIA-Präsident Amos Linetzky wird mit folgenden Worten zitiert: „Die Wahrheit steht in den Akten. Was fehlt, sind Gerechtigkeit und konkrete Antworten.“
Bereits im Januar hat der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte Argentinien wegen Verletzung der Sorgfaltspflicht und Vertuschung verurteilt. Der aktuelle argentinische Präsident Javier Milei nahm laut einem Bericht von La Nación die „institutionelle Schwere“ des Urteils zur Kenntnis und kündigte die Ausarbeitung eines Gesetzentwurfs zur Wiederaufnahme der Ermittlungen an.
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