Klangwelten / Dunkel und komplex: „The Ascension“ von Sufjan Stevens ist ein Meisterwerk
Seit dem weltweiten Erfolg von „Carrie & Lowell“ wartet die Musikwelt gespannt auf Sufjan Stevens’ nächsten Schritt. Für einen Künstler gibt es fast nichts Schwierigeres als das Werk nach dem Opus magnum. Die Zeit nach dem Meisterwerk ist wie die Leere nach einer Trennung: Auf intensive und laute Momente der Schönheit folgt Abwesenheit, Stille, Unsicherheit.
„Carrie & Lowell“ war eine traurige Platte über Stevens’ Beziehung zu seiner psychisch erkrankten Mutter, auf der er die eigenen Unsicherheiten und Pathologien akribisch thematisierte. Das Album, das der Musiker teilweise auf seinem iPhone aufnahm, erinnerte an die akustischeren Arbeiten von Stevens, wie man sie auch von „Seven Swans“ (2004) kannte. Auf dieser nackten, ehrlichen Platte zeichnete Stevens ein intimes Selbstporträt, verpackt in musikgewordener Zerbrechlichkeit, die den Songs eine fast schon beklemmende Emotionalität verlieh. Nach dem orchestralen Avantgarde-Elektro vom (ausgezeichneten) Vorgänger „The Age of Adz“ war dies sowohl unerwartet als auch mutig.
Nach „Carrie & Lowell“ wirkte es so, also wolle Stevens seine künstlerische Überschwänglichkeit vorerst in One-Night-Stands oder kurzweilige Affären evakuieren: Er veröffentlichte ein Mixtape („The Greatest Gift“), schrieb zwei grandiose Songs für Luca Guadagninos Spielfilm „Call Me by Your Name“, arbeitete mit Mitgliedern der Indie-Rockband The National an einer Platte über das Sonnensystem („Planetarium“), schrieb Klaviermusik für ein Ballett („The Decalogue“) und nahm zusammen mit Stiefvater und Asthmatic-Kitty-Label-Betreiber Lowell Brams eine vorwiegend instrumentale, elektronische Platte auf, die des Genres der New-Age-Musik huldigte („Aporia“).
Nur wenige Monate nach der Veröffentlichung von „Aporia“ kündigte Sufjan Stevens den Nachfolger zu „Carrie & Lowell“ an – und veröffentlichte mit dem schlicht betitelten „America“ den längsten Track des Albums vorab. Auf „America“ verzahnen sich in wenigen eindringlichen Versen Sufjans Privatleben, seine Auseinandersetzung mit dem Glauben und das düstere Schicksal seines Heimatlandes: „I have loved you / I have grieved / I’m ashamed to admit I no longer believe / Don’t do to me what you did to America“, singt Stevens, seine Stimme ein trauriges, echogetränktes Hauchen inmitten einer elektronischen Klangwelt, die ihr Halt spendet. Der Song ist düster, wird von ätherischen Backing-Vocals, flächigen Synthies und Beats getragen. In der Mitte bricht er fast zusammen, mündet in eine elektronische Kakofonie, am Ende stehen eine schöne Synthiemelodie und ein Chor als fast schon versöhnliche Antwort auf Sufjans Selbstzweifel. Wer sich im Juni „America“ anhörte, wusste: „The Ascension“ wird zwar keine leicht verdauliche Kost, dafür aber sehr wahrscheinlich Stevens’ nächste Großtat.
„America“, das Stevens noch während der „Carrie & Lowell“-Sessions schrieb, verdeutlichte zudem eines: Wer Sufjan Stevens mit „Carrie & Lowell“ entdeckte und sich auf eine weitere akustische Platte einstellte, sollte lieber zu gewöhnlicheren Singer-Songwritern überwechseln. Gitarren stehen hier (abgesehen von einem schiefen Solo auf „Landslide“, der an Lows letzte Platte erinnert) weitestgehend im Hintergrund. Stevens ist und bleibt ein Freigeist: Er schreibt keine Musik, um Erwartungen zu bedienen, sondern um seinem inneren Zustand Ausdruck zu verleihen. Und obwohl Stevens nach „Carrie & Lowell“ meinte, er hätte sich eine Last von der verwundeten Seele geschrieben, geht es Stevens 2020 nicht besser: „The Ascension“ ist nicht nur Sufjan Stevens längste Platte – bedenkt man, dass viele Alben des Musikers eine Spielzeit von über 70 Minuten haben, ist dies allein schon bemerkenswert –, es ist auch sein unzugänglichstes Werk.
„The Ascension“ ist sowohl textlich als auch musikalisch unbequem. Es ist eine kaputte, kranke Platte, die den kaputten, kranken Zustand der Welt gnadenlos einfängt. „The Ascension“ verstört und fordert – es ist ein Werk, das seine hoffnungsspendende Schönheit tief in Schichten der Hoffnungslosigkeit vergraben hat. Würde es „The Ascension“ nicht geben, man hätte sich kaum vorstellen können, dass man so viel Trauer und Selbstzweifel auf eine einzige Platte pressen könnte.
Traurig und kaputt
Im Gegensatz zu „Carrie & Lowell“ ist „The Ascension“ keine leise Platte. Die Gitarren wurden durch Synthies ersetzt, die Stevens allesamt selbst spielt und die er wie Pinselstriche einsetzt, die warme und kalte Farbkleckse zeichnen. „The Ascension“ ist die noch traurigere Weiterführung von „The Age of Adz“. Die Platte ist bewusst unfokussiert, hyperaktiv, die Songs sind überbordend vor Ideen, die Stevens manchmal brachliegen lässt, um sie etwas später wieder aufzunehmen. Die strukturierenden Gesangsmelodien sind, wie auf Lows „Double Negative“ der einzige Halt in Songs, die ihre Klangschichten teilweise wild übereinanderlegen.
Opener „Make Me an Offer I Cannot Refuse“ ist die säkuläre „The Godfather“-Variante von Blaise Pascals Glaubenswette, der pluckernde Track erinnert an elektronische Postrock-Bands wie Vessels oder 65daysofstatic. „Lamentations“ und „Ursa Major“ lassen Sufjans Stimme inmitten gesampelter Radiostimmen und hektischen Beats schwirren, das Tandem „Death Star“ und „Goodbye to All That“ ist Elektro-Avantgarde vom Feinsten, auch wenn es einige Anläufe braucht, bis man sich im klanglichen Chaos wiederfindet.
„Die Happy“ ist gleichzeitig von einer fassungslosen Trauer – und einer ergreifenden Schönheit. Gebetsmühlenartig wiederholt Sufjan „I wanna die happy“, während ein betrübliches Synthie, ein Background-Chor und ein Wirrwarr an gesampelten Stimmen irgendwann von einem kaputten Beat aufgerüttelt werden. Der einzige Trost liegt in dem Satz, den Stevens immer und immer wieder singt: Solange Sufjan so unglücklich klingt, wird er der Welt noch etwas erhalten bleiben. Das darauffolgende „Ativan“ erinnert an die elektronischen Experimente von The Notwist (man vergleiche dazu deren Song „Alphabet“) – inklusive der Elektrojams, mit denen diese ihre Studioaufnahmen auf der Bühne tanzbar gestalten. Auf „The Ascension“ schreibt Stevens Elektro, zu dem niemand tanzen will, weil sich die Platte trotz ihrer verkopften, energischen Beats wie ein Tritt in die Magengrube anfühlt.
Inmitten dieser Unruhe stehen eine Reihe elegischer, ruhiger Tracks, in denen Sufjan sich als naiver Romantiker zeichnet: „Run Away With Me“ und „Tell Me You Love Me“ sind schöne, schlichte Liebeslieder – wenn Sufjan „My love, I’ve lost my faith in everything / Tell me you love me anyway“ singt, klingt er gleichzeitig hoffnungsvoll und verzweifelt. Die dritte Single-Auskopplung „Sugar“ ist der vielleicht schönste Song der Platte: Eine lange elektronische Intro, die die Handschrift von „Aporia“ trägt, mündet in einen tanzbaren R’n’B-Track, im Zentrum dessen eine unvergessliche, vor Sehnsucht nur so strotzende Gesangsmelodie steht.
Auch textlich ist „The Ascension“ das dunkle, abstrakte Pendant zu „Carrie & Lowell“: So klar und deutlich, so intim und autobiografisch die Texte auf dem Vorgängeralbum waren, so enigmatisch sind sie auf „The Ascension“. Ob Sufjan hier über eine Glaubenskrise oder über eine zerflossene Liebe singt (oder gar beides zeitgleich), ist oftmals unklar. Klar ist allerdings, dass er sich hier hauptsächlich in der Negativform definiert: Im cleveren Elektropopsong „Video Game“ sagt er nicht nur dem digitalen Zeitalter, sondern auch jeder Form der Charakterisierung von Außenstehenden ab („I don’t wanna be a puppet in a theatre / I don’t wanna play your video game“). Stevens bleibt auch hier ein musikalisches Chamäleon, ein Verweigerer, dessen Stilsuche immer auch eine Selbstsuche ist.
Wie relevant Sufjans neues Werk wirklich ist, wird sich erst mit der Zeit sagen können. Bereits jetzt steht allerdings fest: „The Ascension“ ist überlang, komplex, fordernd, unbequem, düster, traurig, kaputt, alles andere als homogen und ungefähr so deprimierend, größenwahnsinnig und ungeschliffen wie David Foster Wallaces „Infinite Jest“. Kurz: Es ist die perfekte Platte zu diesem durch und durch schrecklichen Jahr. (Jeff Schinker)
Bewertung: 9/10
Anspieltipps: Sugar, America, Video Game, Ativan
Artverwandte: „Anima“ von Thom Yorke, „Close to the Glass“ von The Notwist
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