Corona-Krise / Durch die Kontrollen an der Mosel bekommt die Idee Europa einen Knacks
35 Jahre nach der Abschaffung der Grenzkontrollen in Schengen steht die Europäische Idee ziemlich verkatert da. Das geht aus Gesprächen in den Rathäusern entlang der Mosel hervor. Kopfschütteln gehört angesichts der deutschen Kontrollen an den Grenzen während der Corona-Krise noch zu den moderateren Reaktionen.
„Ich fand es beschämend, als luxemburgischer Bürgermeister meinem deutschen Kollegen aus Langsur einen Passagierschein ausstellen zu müssen“, sagt Jérôme Laurent (LSAP) im Rathaus von Mertert-Wasserbillig. In dieser Region haben viele Anwohner auf der deutschen Seite Felder oder Weinberge, die bestellt werden müssen. Er zuckt mit den Schultern, was so viel heißt wie: Wem oder was muss man eigentlich noch erklären, was seit Jahrzehnten an der Mosel gelebt wird?
Der Frust über das, was sich in Coronazeiten abspielt, ist groß. „Wir verstehen nicht, warum die belgischen und holländischen Grenzen anders behandelt werden als die nach Luxemburg“, sagt Laurent. Der 46-Jährige ist im Rathaus einer Moselgemeinde als LSAP-Politiker eher die Ausnahme und eigentlich recht besonnen. Beim Thema Grenzschließungen und -kontrollen allerdings kennt er kein Pardon.
Frust über die Grenzkontrollen
„Das muss man sich mal vorstellen“, sagt er. „Im November 2017 erst haben wir die Sankta Maria II eingeweiht, die zu einem Großteil mit europäischen Fördergeldern gebaut wurde.“ 40 Prozent der Kosten für den Bau der 1,5 Millionen teuren Autofähre stammen aus EU-Töpfen. Eine deutsche Gemeinde, Oberbillig, und eine luxemburgische, Mertert-Wasserbillig, teilen sich Kosten und Ertrag des Betriebs, der seit Mitte März ruht.
Hinzu kommt: Die Touristinfo in Mertert-Wasserbillig ist deutsch-luxemburgisch ausgelegt. Kooperationen wie diese gibt es etliche entlang der Mosel. Am 9. Mai, dem zum Feiertag erkorenen „Europatag“, jährt sich zum ersten Mal die Übereinkunft von insgesamt zwölf deutschen, französischen und luxemburgischen Gemeinden, bei der touristischen Vermarktung des Dreiländerecks künftig eng zusammenzuarbeiten. Die Kommunen zwischen Schengen und Remich klären das Abwasser interkommunal in Perl. Das ist nur ein Auszug der existierenden grenzüberschreitenden Kooperationen.
„Meine Kinder, die Kontrollen an der Grenze gar nicht kennen, haben mich gefragt: Papa, was ist das?“, sagt wenige Kilometer weiter der CSV-Bürgermeister von Grevenmacher, Leon Gloden (47). „Die Bundespolizisten standen anfangs mit Maschinenpistolen bewaffnet an der Grenze.“ Die Entrüstung darüber steht ihm immer noch ins Gesicht geschrieben – wie auch die Verärgerung darüber, dass sich die für die Großregion zuständige Ministerin Corinne Cahen (DP) zunächst gar nicht und dann in seinen Augen viel zu spät eingeschaltet hat.
Erhebliche Auswirkungen
Mit dem Chaos durch die Kontrollen standen er und seine Kollegen ziemlich alleine da. Die Brücke, die Grevenmacher mit Wellen und Temmels verbindet, war zwar nicht geschlossen, aber es gab unendliche Staus. 15.000 Verkehrsbewegungen in eine Richtung gibt es an normalen Tagen. „Allein schon das Wort ‚Passagierschein’“, sagt Gloden. „Man weiß ja, wo das herkommt. Ich finde das verwerflich.“ Die Konsequenzen sind erheblich. Sie betreffen nicht nur Grenzgänger, die seit den Kontrollen ihre Fähigkeiten als Pfadfinder ausbauen müssen, um den vor allem zeitlich kürzesten Weg zur Arbeit zu finden.
Das Geschäft mit den Tankstellen an der Mosel
Viele Gemeinden an der Mosel haben Tankstellen, die sowohl vom Transitaufkommen – Luxemburg ist Transitland – als auch von den Grenzgängern leben. Allein in Mertert-Wasserbillig gibt es innerorts elf. An den Remicher Tankstellen ist der Betrieb reduziert. Viele kleinere Tankstellen sind geschlossen. Der „Groupement pétrolier luxembourgeois“ (GPL) rechnet damit, dass der Umsatz der Tankstellen im Land um 70-90 Prozent eingebrochen ist. Der größte Einbruch wird an den Grenztankstellen verzeichnet, heißt es in der Antwort auf eine Anfrage des Tageblatt. Zu Normalzeiten nimmt der Staat nach Angaben des GPL rund zwei Milliarden Euro an Steuern durch den Verkauf von Mineralölprodukten, Tabak und Alkohol ein. „Die Maßnahmen der Regierung im Bezug auf die Covid-19-Epidemie könnten einen Verlust von bis zu 330 Millionen Euro an Steuereinnahmen bedeuten“, heißt es in der Antwort des GPL weiter.
Sie betreffen auch Lebensgemeinschaften und Familien, die dies- und jenseits der Grenzen leben. Oder Luxemburger, die vor Jahren ihren Lebensmittelpunkt ganz nach Deutschland verlegt haben, weil Wohnen und Bauen im Großherzogtum zu teuer geworden ist, die aber weiterhin im Land arbeiten. Nationale Grenzen hatten an der Mosel längst den Rang einer Nebensache.
Dem Wormeldinger CSV-Bürgermeister Max Hengel (42) platzt als Erster der Kragen. Es ist nicht nur der Rückstau, unter dem Wormeldingen und die anderen Moselgemeinden mit offenen Grenzübergängen zu leiden haben. „Meine deutschen Kollegen waren regelrecht verzweifelt angesichts der Tatsache, dass seit Jahrzehnten grenzüberschreitende Freundschaften gepflegt wurden und dass das jetzt durch eine Entscheidung aus Berlin gefährdet und infrage gestellt ist“, sagt er. „Wir leben hier jeden Tag unkompliziert Europa.“
Der Brief der Rathauschefs
Hengel hat einen Brief mit einem Appell an den saarländischen Ministerpräsidenten Tobias Hans (CDU) und dessen rheinland-pfälzische Kollegin Malu Dreyer (SPD) initiiert, der am 14. April das Großherzogtum verließ. Darin machen sieben deutsche und sechs luxemburgische Bürgermeister entlang der Mosel ihrer Enttäuschung über den „Umgang mit dem europäischen Gedanken“ Luft. Er endet mit dem Hinweis: „Die derzeitigen Einschränkungen und sanitären Maßnahmen sind das beste Mittel, um die Verbreitung des Covid-19-Virus auszubremsen, eine Schließung der Grenzen der Großregion gehört allerdings nicht dazu.“
Auf Anfrage unserer Zeitung verweist die Staatskanzlei in Saarbrücken in dieser Frage mit einem Satz auf die Zuständigkeit des Bundesinnenministeriums in Berlin. Dessen Pressesprecher Björn Grünewälder begründet, wie nicht anders zu erwarten, die Kontrollen mit der Eindämmung des Coronavirus. Die Antwort des Ministeriums schürt allerdings Befürchtungen, dass sie verlängert werden könnten: „Eine Verlängerung der bestehenden Binnengrenzkontrollen auf Grundlage des Art. 28 des Schengener Grenzkodex ist angesichts der weiterhin bestehenden fragilen Lage der Ausbreitung des Coronavirus und einer Vielzahl zu berücksichtigender und dynamischer Faktoren (…) weiterhin erforderlich“, heißt es auf Tageblatt-Anfrage aus Berlin. Der Termin 15. Mai steht laut Grünewälder im Raum und ist Gegenstand von Beratungen in diesen Tagen. Bis Redaktionsschluss (gestern) gab es noch keine definitive Entscheidung.
Die nächsten Projekte in Remich
Zu den Hauptprojekten in der Zukunft gehört die Aufstockung des „Parking Grein“, der aktuell rund 300 Plätze bietet. Für die Umgestaltung des Stadtkerns soll der Architektenwettbewerb ebenfalls demnächst anlaufen. Gleiches gilt für den Neubau des Schulkomplexes „Gewännchen“. Bleibt noch die ewige Geschichte „Moselpromenade“. Bei dem Teil, der keinen Hochwasserschutz braucht, könnten nach Rathausangaben nächstes Jahr die Bagger rollen. Auch wird daran gearbeitet, das Alten- und Pflegeheim „Josefshaus“ auf intersyndikale Basis zu stellen.
Aus der Staatskanzlei in Rheinland-Pfalz kommen verständnisvolle Töne. Man sei sich der Tatsache bewusst, dass die Kontrollen „in besonderem Maße die Menschen in den Grenzregionen“ betreffe. „In Luxemburg kam es aufgrund der Nähe zu Frankreich und des Risikogebiets der Region Grand Est zur Schließung einzelner Übergänge“, heißt es von dort weiter. Immerhin habe man durch Kontakte mit allen Verantwortlichen die Öffnung in Remich und Bollendorf erreicht. Zudem bestehe als größte Pendlerregion Europas „ein gemeinsames Interesse daran, wieder die grenzüberschreitende Realität in der Großregion zurückzugewinnen, um langfristigen Schaden für das Zusammenleben der Bürger in den Grenzregionen zu vermeiden“.
„Schaden für das Zusammenleben“
In Remich sitzt Bürgermeister Jacques Sitz (DP) in einem ebenfalls hermetisch abgeriegelten Rathaus und macht sich Gedanken. „Zwar ist es hier im Rathaus nicht mehr so hektisch wie vor Corona, aber ich frage mich, ob die Zukunft darin liegt, dass es keinen persönlichen Austausch mehr gibt“, sagt der 63-Jährige. Das betrifft nicht nur seine Verwaltung. Vier Wochen lang war die Grenzbrücke über die Mosel Richtung Perl geschlossen. Rund 13.000 PKWs und LKWs überqueren die Brücke täglich in Normalzeiten.
Die nächsten Projekte in Mertert-Wasserbillig
Unter normalen Umständen hätte der Bürgermeister von Mertert-Wasserbillig im September einen Einweihungsmarathon hinlegen müssen. Die beiden Schulneubauten in Mertert (Zyklus 1 für 80 Kinder) und Wasserbillig (Zyklus 2-4 für 300 Kinder plus Küche zur Essensversorgung) sollten dann fertig sein – genauso wie die neuen Gemeindeateliers, die an der N1 zwischen den elf dort ansässigen Tankstellen für rund 30 Mitarbeiter des „Service technique“ gebaut werden. Rund 110 Wohneinheiten, das Projekt „Neue Mitte“, sind im ebenso im Bau. Die Fertigstellung des Gebäudes mit Umkleide-, Garderobe- und Versammlungsraum neben den Tennisplätzen an der Mosel in Mertert wird nicht im Zeitplan bleiben.
Über die Kontrollen kann er nur den Kopf schütteln. „Hier gab es vorher keine Grenzen mehr in den Köpfen der Menschen“, sagt er. In dem Zusammenhang plagen den Remicher Bürgermeister noch andere Befürchtungen. Was, wenn die temporären Schließungen denen in die Hände spielt, die schon immer mit nationalistischen Ideen geliebäugelt haben? „Das Schengener Abkommen ist hier so mit den Füßen getreten worden, dass es schwer werden wird, den Menschen Europa zu erklären“, sagt er.
Am besten beschreibt wahrscheinlich der Post, den der Grevenmacher Bürgermeister am 21. April ins Netz entließ, die Stimmung auf beiden Seiten an der Mosel. Darin hat er ein Zitat des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan abgewandelt: „Mrs Merkel, Mr Seehofer, Mr Maas, Mrs von der Leyen, Mr Bettel, Mr Asselborn, Mrs Cahen, tear down the German border controls.“ Nach Lage der Dinge wird es noch dauern, bis aus diesem Wunsch Realität wird.
Die nächsten Projekte in Grevenmacher
Zu den nächsten Projekten, die für Grevenmacher anstehen, gehört die Fertigstellung der rund fünf Millionen Euro teuren Renovierung des Osburg-Hauses, das künftig die Musikschule beheimaten soll. An den Plänen für den 27 Millionen Euro teuren Neubau des „Centre culturel“ hält der Bürgermeister auch nach Corona fest. „Ein glasklares Ja“, sagt Gloden. Auf seine Initiative hin hat das alte „Centre“ an seinem Lebensende noch eine noble Aufgabe erhalten: Es beherbergt zurzeit ein „Centre de soins avancés“ für die ganze Moselregion, in dem nicht nur Corona-Patienten, sondern auch Menschen mit anderen Krankheiten behandelt werden. 740 Patienten wurden darin seit der Eröffnung am 27. März versorgt. Der Fitnessparcours für Senioren geht nach Corona ebenfalls weiter.
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Viele deutsche Bürger reagierten mit Kopfschütteln auf das Seehooferische Muskelspiel der Grenzschliessungen.Zumal der glorreiche Bavaria Stratege im Glauben, das Virus in Belgien, den Niederlanden sei anderer Art, minder infektiöser als das der Luxemburger,Franzosen,…,…die Grenzen dort offen ließ.Auch wenn ein saarländischer Herr Bouillon , diese nach AFD riechenden Berliner Maßnahmen beklatschte, wird der gesunde Menschenverstand zwischen Gut und Böse unterscheiden können, die Deutschen nicht mit Kollektivschuld belegen, zwischen europäischen Bürger und populistisch, national angehauchten Schwachkopf unterscheiden .Natürlich wird diese Grenzschliessungen ihre Spuren hinterlassen, alte Ressentiments wecken. Unser Völkchen wird da wohl nicht zur Ausnahme, einige Zeitgenossen werden „ den Praiss“ , wohl ihre Wut spüren lassen. An sie, der Aufruf , auf Dummheit, Arroganz nicht mit Dummheit, Arroganz zu antworten, aber den politischen Verantwortlichen dieser schändlichen Tat, die Berliner Machtriege ,den Kampf ansagen, den Anfängen wehren , dass das Nationale nicht wieder zum Leitmotiv wird.
Tja,Schwachköpfe haben eben auch in der Politik ihr Nest gebaut nd AFD-Mitläufer helfen beim Bau!
Das Europa der Regionen bleibt leider Utophie so lange es dort auch noch Nationalstaaten gibt. Schafft die Nationalstaaten ab und gebt den Regionen mehr Autonomie. Dann gibt es keine Grenze mehr und somit auch keine Grenzgänger. Die Steuereinnahmen werden regional aufgeteilt, alle Gemeinden der Region provitieren anteilmäßig davon. Der Tanktourismus wäre genauso Vergangenheit wie sonstige souveräne Steuergesetzgebung. Das wäre ein lebenswertes Europa, aber solange die Kleingeister meinen sie müssten von der Grenze provitieren, wird es sie geben.
„Mir sann mir.“ Nach der Kruzifix-Pflicht in der Öffentlichkeit,jetzt wieder Säbelrasseln an den Grenzen. Söder und Seehofer,die CSU Vollpfosten aus dem Freistaat sind sicher nicht die besten Aushängeschilder für Europa.
@Peter:Da wären wir einmal einer Meinung, allerdings auch die Renten, ,Löhne soziale Absicherung, Lebenshaltungskosten,… auf ein Niveau bringen, das Leben wieder für alle Bürger lebenswert wird.
@ Scholer, da bin ich ganz bei Ihnen. Wobei ich befürchte, dass mit den Grenzen auch einige Geschäftsmodelle wegfallen werden, die nicht unerheblich zum Wohlstand der Region beitragen. Und wo der Wohlstand schrumpft, gibt es auch weniger soziale Wohltaten zu verteilen.
@Peter: Wobei ich Wohlstand nicht definiere mit Reisen , dem Drang noch mehr zu konsumieren,…Ich bin mir sicher, wir das richtige Gleichgewicht finden, das Regionale fördern , sich neue Geschäftsmodelle auftun. Im Tanktourismus liegt sicher keine Zukunft , alleine der Umwelt wegen, das Bankgeschäft bietet die Möglichkeiten fairer und solidarischer Angebote ,….. allerdings werden Aktionäre und Wirtschaftsbosse , der Nimmersatt einer gerechten Region, wie Welt viele Steine in den Weg legen.Anna Seghers schrieb – das Glück auf Erden stärker zu machen auf mannigfache Art und zu vervollkommnen – , scheint mir dies wichtiger Aspekt, wie Wirtschaftskurven und Bilanzen .