Hinterhof-Abtreibung / Ein Film zum genauen Hinsehen: „L’événement“ von Audrey Diwan
Das preisgekrönte Abtreibungsdrama „L’événement“ der Regisseurin Audrey Diwan exponiert die Höllenfahrt einer ungewollt schwangeren Studentin in der Französischen Republik der Sechziger Jahre.
Sagt Ihnen der Name Gerri Santoro etwas? Geraldine „Gerri“ Santoro, geboren 1935, war eine US-Amerikanerin, die in den Sechziger Jahren vor ihrem gewalttätigen Ehemann floh. Sie kehrte gemeinsam mit ihren beiden Töchtern in ihr Elternhaus in Kalifornien zurück und nahm einen Job an einer Schule an, wo sie einen Mann namens Clyde Dixon kennenlernte. Die beiden begannen eine Affäre – und Santoro wurde ungewollt schwanger. Wegen der strikten Anti-Abtreibungsgesetze, die es Ärzten (und auch anderen Personen) untersagten, Schwangerschaftsabbrüche durchzuführen, entschied sich das Paar dazu, den Eingriff selbst vorzunehmen: in einem Hotelzimmer, mithilfe von chirurgischen Instrumenten und Informationen, die sie einem Lehrbuch entnahmen.
Als Santoro stark zu bluten anfing, flüchtete Dixon aus dem Hotel. Santoro starb noch in der Nacht an ihren inneren Verletzungen, eine Hotelangestellte fand die Leiche am nächsten Morgen zusammengesunken auf dem Fußboden. Bekannt wurde der Fall, weil ein Foto der Toten knapp zehn Jahre später in einem feministischen Magazin veröffentlicht wurde. Darauf zu sehen ist Santoros nackter Körper, neben dem Bett liegend, mit angewinkelten Knien und einem blutdurchtränkten Tuch zwischen ihren Beinen. Das Foto ging um die Welt und beeinflusste stark die Pro-Choice-Bewegung in den Vereinigten Staaten und in Übersee – bis zum heutigen Tag tut es das.
Auf einer wahren Geschichte basierend
Was hat dieser Fall mit dem Film „L’événement“ zu tun? Nun, direkt nichts, und doch sehr viel. Denn in „L’événement“ wird die Not einer ebenfalls ungewollt Schwangeren erzählt. Auch sie, im Stich gelassen von ihrem Partner, ihrem Freundeskreis, den Ärzten und schlussendlich einer konservativ-religiösen Gesellschaft, muss sich heimlich einer riskanten wie qualvollen Prozedur unterziehen, um ihr Schwangerschaft zu beenden. Die Hauptfigur von „L’événement“ und die zweifache Mutter Santoro verbinden die gleiche Pein, die gleiche Verzweiflung, die gleiche Furcht und die gleiche mit Tabus und moralischen Geboten ummantelte Einsamkeit. Trennen tut sie nur ein einziger, aber alles entscheidender Unterschied: Die junge Studentin im Film überlebt knapp den Schwangerschaftsabbruch, Santoro ließ leider ihr Leben dabei.
„L’évenément“ beruht auf dem autobiografischen Roman der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux, in der sie das Schicksal von Annie Duchesne, das eigentlich das ihre ist, schildert. Die 23-jährige Annie Duchesne studiert Literaturwissenschaft in der nordfranzösischen Stadt Rouen. Ihre besonderen Leistungen lassen eine Karriere als Intellektuelle – als Professorin und Schriftstellerin – schon früh erahnen. Für Annie, die aus einfachen Verhältnissen stammt, hängt ihre Zukunft jedoch davon ab, dass sie die kommenden Examen besteht. Im Film wird deutlich gemacht, dass Annie (Anamaria Vartolomei), die sich nicht sehr um die Meinungen anderer schert, im gutbürgerlichen Studenten-Milieu als leichtes Mädchen verschrien wird, doch Rückendeckung bekommt sie zunächst von ein paar guten Freunden: Hélène (Luàna Bajramí), Brigitte (Louise Orry-Diquéro) und Jean (Kacey Mottet Klein).
Unversehens auf sich alleine gestellt
Annie leidet plötzlich unter Bauchkrämpfen und besucht deswegen einen Arzt. Er stellt eine Schwangerschaft fest – ein Schock für die junge Frau. „Helfen Sie mir“, fleht sie ihr Gegenüber an, als sie noch auf der Pritsche liegt. Er verbietet ihr den Mund. Ob sie wolle, dass sie beide im Gefängnis landeten oder sie, sollte sie versuchen, selbst abzutreiben, unter furchtbaren Schmerzen stürbe. Nach der Hiobsbotschaft des Arztes beginnt für Annie eine unaussprechlich leidvolle Odyssee. Zunächst sucht sie einen Gynäkologen auf, den sie ebenfalls um Hilfe bitte. Er verschreibt ihr widerwillig ein Mittel, das „ihre Periode zurückbringen soll“ und wirft sie dann kurzerhand aus seiner Praxis. Annie spritzt sich das Medikament, doch nichts passiert. Die Studentin, die um ihre Existenz fürchtet, greift daraufhin zu einer radikalen Methode und führt sich eine Stricknadel, die sie zuvor in der Flamme eines Feuerzeugs sterilisiert, ein.
Auch das hat nicht den gewünschten Erfolg. Annie findet sich bald beim ersten Arzt wieder, der ihr mitteilt, dass der Gynäkologe wohl der Meinung gewesen sei, Frauen dürften nicht abtreiben, und ihr deshalb in Wirklichkeit ein Mittel verschrieben habe, das den Embryo stärkte. „Mademoiselle, vous devez l’acceptez, vous n’avez pas le choix“, sagt ihr der Arzt mit einem Lächeln. Ein Satz, auf den Annie nur eine Antwort kennt: „Nein“. Irgendwann wolle sie ein Kind, aber sie wolle kein Kind anstelle eines Lebens.
Sie interessieren sich dafür, wie sich Filme des schwierigen Themas „Abtreibung“ annehmen? Lesen Sie auch: Abtreibung, unter allen Umständen – „Never Rarely Sometimes Always“ von Eliza Hittman
Als Annie ihren Freunden beichtet, dass sie schwanger ist, wenden sie sich von ihr ab. „Ça ne nous regarde pas“, sagt Brigitte, mehr zu Hélène als zu Annie gewandt, weil diese zunächst Anteil am Schicksal ihrer Freundin nimmt. Auch Jean reagiert kalt auf die Nachricht: Annie solle ihn damit in Ruhe lassen. Später fragt er sie dann, wo sie den Vater des Kindes getroffen habe und ob der Sex gut gewesen sei. Nachdem er Annie mit diesen Fragen in die Ecke gedrängt hat, sagt er, dass auch sie miteinander schlafen könnten. Riskieren würden sie nichts, Annie sei ja schon schwanger.
An das Wohlwollen anderer gebunden
Die 23-Jährige findet schließlich den Weg zu der Engelmacherin Madame Rivière. Um den Eingriff zu bezahlen, muss sie fast ihren ganzen Besitz verkaufen – unter anderem eine Goldkette, die sie davor immer getragen hat. Bei der Prozedur, die bei der Frau zu Hause gemacht wird, darf Annie keinen Ton von sich geben. Irgendwann zittern ihre Beine vor Schmerz und am Ende gibt sie einen leisen Schrei von sich.
Selbst nach dieser Tortur will Annies Leid kein Ende nehmen. Denn schon bald merkt sie, dass die Abtreibung nicht geklappt hat und sie noch immer schwanger ist. Sie geht zur Engelmacherin zurück und lässt alles noch einmal über sich ergehen. Wegen Komplikationen landet Annie, deren Körper den Fötus schließlich abstößt, kurz darauf im Krankenhaus. Der behandelnde Arzt wird von einer Krankenschwester gefragt, was sie in die Krankenakte schreiben solle. „Fausse couche“, sagt der Arzt. Hätte er „avortement“ geantwortet, wäre das Schicksal von Annie besiegelt gewesen und man hätte ihr den Prozess gemacht. So kommt sie knapp davon und kann am Ende die Examen mitschreiben.
Erschütternder und ehrlicher Film
Die Regisseurin Audrey Diwan hat mit „L’événement“ einen Film geschaffen, der in der Darstellung des Leids von ungewollt Schwangeren keine Kompromisse eingeht. Manche Szenen mögen die Zuschauer schockieren, doch eben diese unverhüllten Bilder vermitteln eine starke Botschaft: Anti-Abtreibungsgesetze verhindern keine Abtreibungen. Sie führen nur dazu, dass Betroffene sozial isoliert und geächtet werden. Sie führen dazu, dass Frauen, die es sich nicht leisten können, sich die nötige Hilfe zu erkaufen, womöglich ins Prekariat rutschen, lebensgefährliche Hinterhof-Abtreibungen durchführen lassen müssen und Menschen zum Opfer fallen, die nur darauf aus sind, ihre Notlage auf die eine oder andere Art auszunutzen.
Wann läuft der Film?
„L’événement“ kann man am Dienstag (8.2.) um 16.30 Uhr und um 18.45 Uhr im Kino „Utopia“ sehen.
Die Reaktionen von Annies Umfeld drehen einem schließlich den Magen um. Die junge Frau wird im Stich gelassen von all jenen, denen sie vertraut hat. Jean versucht sogar, sie auf perfideste Weise zum Sex zu überreden, weil er sie in dem Augenblick nicht mehr als Menschen, sondern als Stück Fleisch sieht. Annie ist vom guten Willen Einzelner abhängig, weil das Rechtssystem – und der Film übt Kritik an gesellschaftlichen Strukturen, nicht an Individuen – den Frauen das Entscheidungsrecht über ihren eigenen Körper abspricht. Aktueller könnte der Film nicht sein: In den USA sorgte das Thema vergangenes Jahr für heftige Diskussionen, als ein strenges Abtreibungsgesetz – allgemein als „Heartbeat Bill“ bekannt – in Texas eingeführt wurde. Nach diesem ist es Frauen nur noch bis zur Erkennung des Herzschlags des Embryos (der mitunter schon nach sechs Wochen erkennbar ist) erlaubt, ihre Schwangerschaft zu beenden.
In Deutschland möchte die Ampelkoalition hingegen den Paragrafen 219a aus dem Strafgesetzbuch streichen, damit sich Frauen, wie Medien berichten, „umfassend informieren dürfen, was Schwangerschaftsabbrüche angeht“. Aktivistinnen und Aktivisten fordern das schon lange – unter anderem demonstrierten sie mit Schildern, auf denen Gegenstände wie Kleiderbügel und der Spruch „Never Again“ zu sehen waren. Diese Abbildungen sind eine klare Anlehnung an alle, um es zynisch zu formulieren, „Do-it-yourself“-Abbrüche, die Frauen wie Santoro das Leben (fast) gekostet haben. Für sie bricht auch die Regisseurin Diwan mit „L’événement“ eine Lanze. Nur weil der Film eine grausame Realität als solche auch zeigt, ist er so aussagekräftig.
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