Coronakrise / Ein Jahr Pandemie – das bedeutete nicht für jeden eine Luxusquarantäne
Die Coronapandemie zieht uns seit einem Jahr in ihren Bann. Wie aber verläuft der Alltag von Menschen mit geistiger Behinderung, die die Situation nicht verstehen? Oder von Kindern und Jugendlichen, die keine Ausgleichsmöglichkeiten mehr haben? Oder von Opfern häuslicher Gewalt, wenn es heißt: „Bleif doheem“? Fünf Experten „vum Terrain“ haben sich in einer digitalen Diskussionsrunde darüber ausgetauscht und nach Lösungen gesucht.
Seit einem Jahr müssen sich die Menschen einschränken. Für jene, die aufgrund einer geistigen Behinderung die Situation nicht verstehen, ist der Zustand einer Pandemie nur schwer zu ertragen. Sie verdienen besondere Aufmerksamkeit. Für Opfer von häuslicher Gewalt kann ein Lockdown viel gravierendere Konsequenzen haben als für Menschen, die in einer familiären Harmonie leben und das Familienleben zu Hause genießen. Kinder und Jugendliche müssen mit ansehen, wie über ihre Köpfe hinweg Entscheidungen, die sie betreffen, getroffen werden. Die für ihre Entwicklung so wichtige Partizipation wurde in der Pandemie teils komplett fallengelassen. In der vom nationalen Referenzzentrum für die Förderung der affektiven und sexuellen Gesundheit Cesas am Dienstag organisierten Diskussionsrunde haben sich fünf Experten über diese Problematik ausgetauscht.
Im neuen Büro des OKaJu („Ombudsmann fir Kanner a Jugendlecher“) im Menschenrechtshaus habe man sich so eingerichtet, dass 99 Prozent der Gespräche vor Ort geführt werden können, sagt der Ombudsmann für Kinderrechte Charel Schmit. „Es lässt sich nicht alles über Videokonferenz besprechen.“ Schmit teilt das Coronajahr in verschiedene Phasen ein. Die erste sei jene des Lockdowns im Frühling gewesen. Für viele Kinder und Jugendliche sei dies eine sogenannte „Quality time“ gewesen. Viele hatten endlich Zeit, gemeinsame Tage in der Familie zu genießen. „Dennoch war es nicht für jeden eine Luxusquarantäne“, betont er. Je nach Situation, zum Beispiel, ob die Eltern Home-Office machen durften oder nicht, habe diese Zeit auch eine große Belastung für die Kinder sein können.
Catherine Capelle ist Psychologin und Verantwortliche von „Alternatives“ (Stiftung Pro Familia), einem Konsultationszentrum für Kinder und Jugendliche, die Opfer von häuslicher Gewalt wurden. Sie schließt sich den Aussagen von Charel Schmit an. Der enge Familienkreis zu Hause bedeutet für Capelle eigentlich eine gewisse Sicherheit, in der sich die Mitglieder wohlfühlen und entwickeln können. „Kommt es zu häuslicher Gewalt, wird dieses Konzept zeitweise zerrüttet, was für die Kinder eine Quelle von Angst und Gefahr darstellt“, sagt sie. „Wir haben feststellt, dass wir diese Familien unterstützen und für sie da sein müssen.“ Zusammen müsse man nach Lösungen suchen, um weitere Gewalt zu verhindern. Im Verlauf der Pandemie habe das Zentrum mehr Anfragen als üblich bekommen, um die Belastung der Kinder in diesen Familien aufzufangen.
Die Situation nicht verstanden
Martine Schaul ist eine von drei Rechtsmedizinern der „Unité médico-légale de documentation des violences“ (Umedo) im „Laboratoire national de santé“ (LNS). Volljährige Opfer von häuslicher Gewalt können Umedo kontaktieren, um sich ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen. Das Angebot ist vorgesehen für Opfer, die noch keine Anzeige erstatten wollen, dies aber zu einem späteren Zeitpunkt eventuell in Betracht ziehen wollen. Die Daten werden für zehn Jahre archiviert. Im Falle einer Anklage können die Opfer dann auf diese Beweise zurückgreifen. Rein zahlentechnisch habe man keine Änderung im Vergleich zu den Vorjahren feststellen können, sagt Schaul. Dennoch seien die Anrufe in den vergangenen zwölf Monaten leicht angestiegen. Der Grund könne aber auch darin liegen, dass Umedo langsam bekannter werde.
Fernande Dahm ist Sexpädagogin und Verantwortliche des „Day Center“ der „Ligue HMC“. Sie vertritt das Tageszentrum und den „Espace famille“. Letzterer ist eine Struktur der „Ligue HMC“, die vor allem den Auftrag hat, Affektiv- und Sexualbildung bei geistig Behinderten zu machen. Im „Day Center“ bieten sie Workshops zur affektiven und sexuellen Gesundheit an. Sämtliche Ateliers und andere Aktivitäten mussten während des ersten Lockdowns und teils darüber hinaus geschlossen werden. Dahm sagt, dass geistig behinderte Menschen Gewohnheiten, Strukturen und Rituale brauchen, die sie immer wieder machen können. Diese seien zum Teil ganz weggefallen. „Sie waren isoliert, hatten viel Angst und haben die Sachen nicht verstanden.“ Für verschiedene von ihnen sei es schwierig gewesen, eine Maske zu tragen. „Jene, die eine stärkere Beeinträchtigung haben, vertragen das ganz schlecht.“ Die Behinderten hatten zudem viele Probleme, die Leute zu verstehen, da mit Maske nicht mehr alles so eindeutig vermittelt werden konnte. „Man merkt, dass sie einen Teil ihrer Autonomie verloren haben, weil das, was sie bislang tun konnten, nicht mehr möglich war. Sie wurden unzufrieden und frustriert. Sie haben ‚déck d’Flemm‘.“ Eine der wenigen Sachen, worauf sich diese Menschen freuen würden, seien kleine Feiern, Geburtstage. Doch diese werden ihnen seit einem Jahr verwehrt.
Was den Behinderten bei ihren Strukturen am meisten fehle, sei der körperliche Kontakt, sagt Dahm. Jemanden in den Arm nehmen oder einfach nur ein Küsschen geben. Die Partizipation bei Behinderten während der Pandemie zu steigern, sei schwierig, sagt Dahm. „Wir haben versucht, das, was machbar war, zu tun.“
Für viele Kinder, die in ihrer Familie diesen partizipativen Gedanken nicht mitkriegen, ist es sehr wichtig, dass sie dies im sozialen Leben, in der Schule und in der Freizeit erfahren und leben könnenOmbudsmann für Kinder und Jugendliche
Auch die Rechte der Kinder seien im Laufe der Coronapandemie stark eingeschränkt worden, sagt Charel Schmit. Eine der Grundideen der Kinderrechtskonvention ist die partizipative Beteiligung. Mit steigendem Alter werden die Kinder immer mehr in die Entscheidungen mit einbezogen, die sie selbst betreffen, erklärt Schmit. „Für viele Kinder, die in ihrer Familie diesen partizipativen Gedanken nicht mitkriegen, ist es sehr wichtig, dass sie dies im sozialen Leben, in der Schule und in der Freizeit erfahren und leben können.“ Und genau da befinde sich der massive Einschnitt, weil gerade in diesen Bereichen Entscheidungen, die die Kinder betreffen, ohne sie getroffen wurden. „Da machen wir uns Sorgen. Gerade in dem Alter, wo wir das fördern wollen, geht es uns verloren, ihnen diese Ideen mit auf den Weg zu geben.“
Tsunami der Digitalisierung
Das andere sei das Recht der Kinder und Jugendlichen auf Erholung, Freizeit und Zugang zu Kultur. Alle diese Aktivitäten seien massiv zurückgefahren worden, sagt Schmit. „Das sind gerade Aktivitäten, die den Kindern gutgetan hätten.“ Neben der sanitären Pandemie gibt es laut Ombudsmann auch eine Digitalisierungspandemie. Er nennt es einen Tsunami der Digitalisierung, der auf die Kinder und deren Familien zugekommen sei. „Wenn der Tsunami weg ist, dann sehen wir, was er angerichtet hat“, sagt Schmit. „Aber da sind wir noch nicht.“
Wir sehen, dass sich sehr viel auf den Bildschirm fokussiert wird und dass sich viele Kinder und Jugendliche ziemlich isolierenPsychologe und Sexologe des Konsultations- und Mediationszentrums der Stiftung Pro Familia
Elie Gottlieb, Psychologe und Sexologe des Konsultations- und Mediationszentrums der Stiftung Pro Familia, stimmt Schmit zu und sagt: „Wir sehen, dass sich sehr viel auf den Bildschirm fokussiert wird und dass sich viele Kinder und Jugendliche ziemlich isolieren.“ Dies sei nicht einfach eine Wahl, sondern passiere notgedrungen in Situationen, wo die Schulen zu sind und keine Aktivitäten mehr außerhalb oder nach der Schule stattfinden. „Der Ausgleich ist nicht mehr gegeben“, sagt er. Gottlieb hat Lösungen parat, die er anwendet. Vor allem probiere er, die Kinder und Jugendlichen so weit wie möglich zu stärken, beispielsweise über die Plattformen, über die sie eh schon in der Schule arbeiten. Er nennt das Programm Teams. Gottlieb versucht, dass die jungen Menschen über diese Plattform ihre sozialen Kontakte pflegen, gemeinsam ihre Hausaufgaben machen und sich austauschen. Zwar sei auch Teams virtuell, aber das übergeordnete Ziel sei es, darüber die Jugendlichen für andere Aktivitäten zu animieren, die auch in der Pandemie möglich seien, bzw. als Vorbereitung, sobald erste Lockerungen kommen.
Laut Charel Schmit ist die stationäre Jugendpsychiatrie zurzeit überbelegt. Er spricht von einer 150-prozentigen Belegung. Es gebe einen Mangel an Personal und Fachkräften. Die Jugendpsychiatrie sei keine permanente Lösung, und auch nur die letzte Möglichkeit, wenn die anderen ausgeschöpft seien. Deshalb ist es laut Ombudsmann wichtig, ambulante Angebote in diesem Bereich zu machen. Die Einweisung in die Psychiatrie müsse verhindert werden, indem man den Zugang zu Therapeuten und Psychologen für Kinder und Jugendliche verbessern sollte. Man sei dabei, dies voranzutreiben.
- Was Jugendliche im Internet treiben: Bericht zeigt Nutzungsverhalten auf digitalen Geräten - 8. Februar 2023.
- Kritik am FDC: Die „schmutzigen“ Investments des „Pensiounsfong“ - 7. Februar 2023.
- Ein Plan für mehr Naturschutz in Luxemburg - 3. Februar 2023.
Wir die Alten , haben uns im Krieg lange 5 Jahre ein bisschen « einschränken « müssen ! Viele ob jung oder alt mussten sogar ihr Leben hingeben. Sogenannte Experten für eine Lösung gab es damals noch nicht .
Die heutigen « Unglücklichen ».mit ihren Experten für „ ALLES UND NICHTS « können sich also überglücklich schätzen und ich gönne es ihnen von ganzen Herzen . Denn nicht viele von ihnen würden heute die von uns Alten damals ertragenen Leiden und Prüfungen überleben , oder ?