/ Ein Leben mit Behinderung: Wie Familie Wotipka den Alltag meistert
Familie Wotipka aus Esch ist alles andere als gewöhnlich. Beide Töchter leben mit einer geistigen Behinderung. Eine Schwangerschaft haben die Eltern aufgrund eines positiven Fruchtwassertests abgebrochen. Ihre Erfahrungen haben Marco und seine Frau Corinne auf mehr als nur eine harte Probe gestellt – und ihre Sicht auf das Leben verändert.
Hinter der roten Fassade eines gewöhnlichen Einfamilienhauses in Esch lebt Familie Wotipka den ganz normalen Alltagswahnsinn. Vater Marco macht typische „Dad-Jokes“, Hund Juma muss noch erzogen werden und Mutter Corinne streicht ihrer Tochter Xena liebevoll durchs Haar. Sohn Ken verlässt erst nach dem dritten Rufen sein Zimmer und seine Schwester Kyra kommt erschöpft von der Arbeit nach Hause.
„Wie war dein Tag?“, fragt Marco seine Tochter Kyra, als sie in die Küche kommt. „Was sagt Ben?“ „Dem geht’s gut“, antwortet die 27-Jährige. Ihr Vater erklärt, dass Ben ihr fester Freund ist. Kyra ist kein gewöhnliches Mädchen. Sie ist ein „Wutzekand“, wie die Familie sie liebevoll nennt. Sie lebt mit dem Down-Syndrom. Eines ihrer Chromosomen hat ein „Wutz zevill“, wie Opa es einmal ausgedrückt hat. Ihre Schwester Xena, das Nesthäkchen, ist geistig schwer behindert. Die Leichtigkeit, die an diesem Dienstagabend in der Familie Wotipka herrscht, gab es nicht immer.
Als Kyra 1992 zur Welt kommt, wissen ihre Eltern nicht, dass sie Trisomie hat. Eigentlich wollten Marco und Corinne zu Beginn der Schwangerschaft eine Fruchtwasseruntersuchung machen lassen. Diese wurde ihnen jedoch verwehrt, mit dem Argument, sie seien noch zu jung. „Ich weiß nicht, wie wir reagiert hätten, hätten wir es gewusst“, gibt Marco Wotipka zu. Heute ist er im Vorstand der „Trisomie21 asbl“. Bis 2018 war er Präsident der Elternvereinigung von Kindern mit spezifischen Bedürfnissen.
Schwerer Herzfehler
Kyra kommt mit einem schweren Herzfehler zur Welt. Nichts Untypisches bei einer Trisomie. Mitten in der Nacht erklären die Ärzte Marco und seiner Frau Corinne, was das alles bedeutet. Das Neugeborene muss ins Krankenhaus nach Nanzig. Mit nur fünf Monaten wird sie in einem spezialisierten Krankenhaus in Paris am Herzen operiert.
Heute ist Kyra eine fröhliche junge Frau. Sie arbeitet in einer Behindertenwerkstatt. Am Dienstag hat sie Puppen angefertigt. Davon erzählt sie ganz begeistert und zeigt, wie das geht. Als ihr Vater mühselig vom Stuhl aufsteht, um Kaffee zu kochen, neckt sie ihn: „Alter Mann“, ruft sie mit frechem Blick in seine Richtung. Die Familie lacht.
Nach Kyras Geburt leidet ihre Mutter stark unter der Situation. Den frischgebackenen Eltern wird nahegelegt, ein zweites Kind zu bekommen. Das helfe besonders Corinne wieder auf die Beine. Das Paar befolgt den Rat und es dauert nicht lange, bis Corinne erneut schwanger wird. Nach einer Fruchtwasseruntersuchung im sechsten Monat dann der Schock: Die Ärzte vermuten, dass das Kind eine noch schwerere Behinderung hat als Kyra. Es sei wahrscheinlich gar nicht überlebensfähig, lautet die Diagnose. Sie raten den werdenden Eltern dringend dazu, die Schwangerschaft abzubrechen.
Als Marco und Corinne das erfahren, sind sie gerade im Urlaub. Sie kommen an einem Sonntag nach Hause. „Wenn die Ärzte einem das so sagen und einem keine Option lassen, macht man das eben“, sagt Marco. Die jungen Eltern fühlen sich durch die Autorität der Ärzte förmlich gezwungen, ihren Rat zu befolgen.
Sein Name wäre David gewesen
Am Montag wird das Kind abgetrieben. Weil die Schwangerschaft bereits zu weit fortgeschritten ist, muss die Geburt eingeleitet werden. Corinne bringt ihren Sohn zur Welt. Sein Name wäre David gewesen. Marco darf ihn nach der Geburt kurz halten. Die Ärzte haben sich geirrt. „Er war vollkommen gesund“, sagt Marco, „und er ist in meinen Armen gestorben.“ Er hätte noch nicht einmal mehr gerettet werden können. Die Medikamente, die Corinne verabreicht wurden, hätten eine schwere Behinderung verursacht. „Was für eine absurde Situation“, sagt der Vater heute.
Im Krankenhaus sagt man den Eltern, dass eine derartige Fehleinschätzung der Mediziner äußerst selten vorkommt. Aber es ist passiert – und die Familie muss damit leben. „Es war eine sehr schwere Zeit“, sagt Vater Wotipka. Corinne ist fast daran zerbrochen. In den Köpfen der Eltern fühlt sich ein später Schwangerschaftsabbruch wie Mord an, sagen sie. „Die meisten können sich noch nicht einmal entscheiden, welche Farbe ihr Auto haben soll. Wie sollen sie dann plötzlich darüber entscheiden, ob ihr Kind leben soll oder nicht?“, fragt Marco. Mit der Schuld müssen er und seine Frau bis heute leben. Werdende Eltern müssten sich darüber im Klaren sein, dass ihre vermeintlichen Probleme mit einem Schwangerschaftsabbruch nicht verschwinden.
Die Ärzte raten dem Paar erneut, es noch einmal zu versuchen. Nach anfänglichen Zweifeln wird Corinne dennoch wieder schwanger. Die Eltern entscheiden sich wiederholt dafür, alle möglichen Tests zu machen. „Wir hatten einfach Angst, dass wir ein zweites Kind mit Behinderung nicht schaffen“, sagt der Vater. Im Dezember 1994 erblickt Ken das Licht der Welt. Die Familie atmet auf, der Junge ist kerngesund.
„Vielleicht ein bisschen verrückt, aber ansonsten gesund“, neckt der Vater seinen Sohn, der neben ihm sitzt und den Familienhund streichelt. Der 24-Jährige befindet sich gerade in der Ausbildung zum Krankenpfleger. Dass er diesen Beruf gewählt hat, wundert seinen Vater: „Er ist mit zwei behinderten Schwestern aufgewachsen, muss sich bis heute um sie kümmern und wählt einen Job, in dem er sich auch um andere sorgen muss.“
„Ich glaube, wir haben ein Problem.“
Die Wotipka-Männer unternehmen viel zusammen. Besonders gerne fahren sie gemeinsam Fahrrad. „Wir haben so viel Stress, wir müssen jede freie Minute nutzen“, sagt Marco. Nach Kens Geburt sind die Wotipkas zu viert – und das wollen sie eigentlich auch bleiben. Bis Corinne vier Jahre später sagt: „Ich glaube, wir haben ein Problem.“ Eigentlich hatte das Paar verhütet. Das Risiko war ihnen zu groß. Auch bei dieser Schwangerschaft lassen die Eltern alle möglichen Tests machen – und alle Tests ergeben, dass ihre zweite Tochter gesund ist.
Xena kommt per Kaiserschnitt zur Welt. Die Ärzte bemerken, dass ihr die Mittelfingerknochen an der linken Hand fehlen. Für die Eltern keine dramatische Nachricht. „Damit wird sie leben können“, denken sie sich. Aber Xena weint. „Sie hat einfach nicht damit aufgehört. Sie hat geweint und geweint und geweint“, sagt Corinne. Das ging zwei Jahre lang so – Tag und Nacht.
Nach unzähligen Arztbesuchen und Tests wird bei Xena eine schwere Form von Autismus festgestellt. Im Alter von fünf Jahren beginnt sie, heftige epileptische Krisen zu erleiden. „Dabei ist sie drei Mal fast gestorben“, sagt Marco. Corinne verzieht das Gesicht zu einer Grimasse. Das Paar hält sich an den Händen.
Xena ist drei Mal fast gestorben
Heute wird Xena von Erzieherin Sylvia betreut, die sich ausschließlich um sie kümmert. In der Behindertenwerkstatt wurde die 20-Jährige abgelehnt. „Das Argument war, dass sie nicht produktiv genug ist“, sagt ihr Vater. Absurd, findet er.
Bis heute wissen Marco und Corinne Wotipka nicht, was sie getan hätten, hätten sie früher von der Behinderung ihrer Kinder gewusst. Durch ihre Erfahrungen haben sie eine klare Meinung zu pränatalen Tests. Besonders zum nicht-invasiven pränatalen Bluttest. Für Marco ist dieser eine Verneinung dessen, dass Behinderungen zu unserem Leben gehören. „Wir brauchen eine inklusive Gesellschaft. Perfektionieren wir alles, verlieren wir unsere Menschlichkeit“, sagt er. Es sei einfach nicht möglich, immer den einfachen Weg zu wählen. Er versteht, dass Eltern ein gesundes Kind wollen. „Es gibt keinen natürlicheren Wunsch.“ Trotzdem hat alles seine Grenzen. Zwar sind die Wotipkas Atheisten, sie sind dennoch der Überzeugung, dass niemand sein Leben beeinflussen kann. „Wir können nur das Beste aus dem machen, was wir haben.“
Wer ein gesundes Kind zur Welt bringt, hat keine Garantie dafür, dass es auch gesund bleibt. „Wo fangen wir an und wo hören wir auf?“, fragt er. Der Blick auf das Leben ist für die Wotipkas nicht mehr derselbe. Marco, Corinne, Kyra, Ken und Xena versuchen, so normal wie möglich durchs Leben zu gehen. „Meine Töchter sind glücklich“, erzählt Marco. Die Gesellschaft müsste nur ein wenig öfter in ihrer Welt leben. Und nicht immer nur verlangen, dass behinderte Menschen in unserer klarkommen. Ihren Töchtern wollen Marco und Corinne die Möglichkeit bieten, sich so zu entwickeln, wie ihr Körper es ihnen erlaubt. „Leider ermöglicht unsere Gesellschaft das nicht immer“, bedauert der dreifache Familienvater.
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