/ Ein prägendes Erlebnis: Verein aus Luxemburg organisiert Reisen nach Auschwitz
Die luxemburgische Organisation „Témoins de la 2e génération“ setzt sich seit mehr als 20 Jahren dafür ein, die Erinnerung an Auschwitz im kollektiven Gedächtnis zu bewahren. Dafür organisiert der ehrenamtliche Verein einmal pro Jahr eine Reise ins ehemalige Konzentrationslager.
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Schüler, Studenten, aber auch Privatleute nehmen an den Exkursionen ins polnische Oswiecim teil. Die Reisen nach Polen sind freiwillig. Es handelt sich auch nicht um eine schulische Aktivität – ein Großteil der Teilnehmer sind dennoch junge Menschen. Dabei ist auch immer ein Überlebender – oder ein Mensch, der Familie und Freunde durch den Holocaust verloren hat.
„Vor Ort lässt sich die Dimension der Shoah besser verstehen. Das nennt man Gedenkstättenpädagogik: Das Lernen an historischen Orten“, sagt Marc Schoentgen, der Vizepräsident der „Témoins de la 2e génération“. „Auschwitz war eine Todesfabrik und die Reise dorthin fordert einen emotional und intellektuell heraus.“ Die Exkursionen haben einen Effekt auf die Menschen. „Wenn ich Teilnehmern wiederbegegne, sagen sie immer: Das hat mich geprägt“, erzählt Schoentgen. Außerdem werden die Besucher der Gedenkstätte wiederum zu Erinnerungsträgern – in gewisser Weise zu „Témoins de la 2e génération“.
Doch wie sieht es für die Zukunft aus? Die Befreiung des Konzentrationslagers in Auschwitz liegt mittlerweile über 74 Jahre zurück. Was ist, wenn es irgendwann keine Zeitzeugen mehr gibt? Schoentgen ist, was die Erinnerungskultur anbelangt, zuversichtlich: „Es bleiben Videos, Tonaufnahmen und Schriftzeugnisse der Überlebenden, die man sich vor Ort in den Museen der Gedenkstätten ansehen und anhören kann.“
Abgesehen von der historischen Dimension des Antisemitismus bleibt das Thema auch heute noch hochaktuell in Luxemburg und in Europa. Das sieht auch Schoentgen so. Ob die Tendenz zu Antisemitismus in unserer Gesellschaft allerdings zugenommen hat, das sei schwierig zu sagen. Es fehle an Analysen zu Antisemitismus, Judenfeindlichkeit und Rassismus. Auch die typischen Vorurteile über Juden sind noch nicht ganz verschwunden. „Deshalb ist unsere Arbeit noch immer wichtig – wir müssen sensibilisieren und informieren.“
„Die Erinnerung an die Shoah ist immer noch sehr wichtig“, betont Schoentgen. Und es gab nach dem Holocaust noch andere Genozide. Und darüber müsse gesprochen werden, um die Mechanismen dahinter zu verstehen. Es gehe aber auf keinen Fall ums Aufwiegen der Gräueltaten nebeneinander.
Gegründet wurde „Témoins de la 2e génération“ von dem EU-Abgeordneten und heutigen Vereinspräsidenten Charles Goerens (DP). Marc Schoentgen ist 1999 das erste Mal als Lehrer mit Schülern nach Auschwitz gefahren und ist im Anschluss in den Verein eingetreten.
Eine Reise nach Auschwitz
Ein Erfahrungsbericht von Greta Hansen
Heute vor genau 76 Jahren, am 17. Juni 1943, wurden die letzten zehn Menschen von Luxemburg in die Konzentrationslager des Ostens (Theresienstadt und Auschwitz) deportiert – zwei Menschen überlebten. Was empfinden Menschen heute, wenn sie das Todeslager in Auschwitz besuchen? Wie wirkt sich das bei ihnen aus? Greta Hansen, Psychologie-Studentin an der Universität Luxemburg, war im Oktober letzten Jahres dort und schildert nun ihre Erfahrungen.
31.10.2018, 12.15 Uhr: Ich fühle mich wie in Trance. Fast 16 Stunden komatöser Schlaf haben mich in diesen Zustand versetzt. Und trotzdem fühle ich mich müde von der Reise, erschöpft von den Bildern, die sich in meinem Kopf ihren Platz suchen. Viele Fragen kommen auf. Viele Gefühle, die ich nicht einordnen kann. Die Erlebnisse der Reise legen sich wie ein grauer, durchsichtiger, trüber Schleier auf meinen Körper, auf mein Innenleben, über mich. Ich frage mich, ob ich alles vielleicht unterschätzt habe. „Mein Psychologiestudium wird mir schon helfen, mit den Eindrücken zurecht zu kommen“, sagte ich mir lautstark und überzeugt von meinen eigenen Worten vor der Reise. „Wird es wirklich so schlimm werden?“
Plötzlich bin ich nicht mehr so selbstsicher. Die Worte an Überzeugung schwinden. Ich fühle mich k.o. Offensichtlich habe ich wohl doch unterschätzt, was der Ort und die Erinnerungen, die in diesen Gemäuern stecken, mit mir machen. Warum wird dieser bedeutende Teil der Geschichte heutzutage noch immer zu wenig thematisiert? Nur Bruchstücke an Informationen bekam ich mit auf meinen Lebensweg. Jetzt nach der Reise gehöre ich zu den „témoins de la deuxième génération“.
Doch was bedeutet das überhaupt für mich? Vielleicht, dass Aufarbeitung der Geschichte nicht Vergessen bedeutet? Die Augen nicht zu verschließen? Das Gesehene an andere weiterzugeben? Ich frage mich nach dem tieferen Sinn dieser Erfahrung. Was ist es, das ich weitergeben kann? In mir wächst ein Bedürfnis nach tieferem, weitreichenderem Verständnis. Während ich mich mit den Gefühlen, die ich bei der Vorstellung an diesen Ort, die damalige Zeit und die Betroffenen habe, auseinandersetze, versuche ich, einen Gegenwartsbezug herzustellen: reich – arm; gebildet – ungebildet; Geschwisterkinder – Einzelkind; verheiratet – geschieden; arbeitende Mutter – Hausfrau. Wir kategorisieren. Schlimmer noch, wir werten nahezu willkürlich: Frau mit Kopftuch wird Antifeministin. Hausmann wird unmännlich. Junge mit Puppe wird Weichei, schwul! Frau, die auf ihr Äußeres achtet, wird Tussi.
Während jeder diese Liste in seinem Kopf weiter fortführen kann, möchte ich von meiner Reise erzählen, einer Reise, die mich – wie ich heute weiß – noch lange in meinen Gedanken und meiner individuellen Entwicklung begleiten wird.
26.10.2018, früher Nachmittag: Wir fahren von der Autobahn ab. Eine ruhige, fast schon idyllische Umgebung empfängt uns. Familienhäuser mit bunten Kinderrutschen und grünen Vorgärten. Das Wetter ist trüb. Wir fahren weiter. Im Bus spürt man, wie die Aufregung ansteigt. „Was erwartet uns?“ – diese Frage kann ich in den Gesichtern der anderen lesen. Nach einer Weile kommen wir in der Jugendherberge an und wrden sehr freundlich empfangen. Alle finden sich langsam in ihren Zimmern ein. Ich rauche eine Zigarette. Lasse den Ort, die lange Reise und das, was uns bevorsteht, auf mich einwirken. Ich versuche, mir vorzustellen, was mich während der nächsten Tage erwarten wird … Noch wirkt alles fern und nicht real. Ich spüre Distanz. Erst an den darauffolgenden Tagen werde ich mir auch nur ansatzweise der Wirkung des Ortes bewusst.
27.10.2018, 10.57 Uhr im Stammlager: Ordentlich nebeneinander gereiht stehen die Gebäude. Alles erinnert an eine Wohnsiedlung mit breiten und weniger breiten Wegen. Am Straßenrand stehen, sauber einer neben dem anderen, hohe Bäume. Die grünen Blätter haben schon teilweise ihre Farbe an den kühlen Herbst verloren, und doch verleihen sie dem so düster scheinenden Ort noch etwas Lebendiges. Ich versuche, den Gedanken zu unterdrücken, dass alles eigentlich sogar schön aussieht, ordentlich und wohnlich. Aber ich weiß, das ist und war es nie.
28.10.2018, früher Morgen in Auschwitz-Birkenau: Wir sitzen im Bus. Ich schaue auf die von der Morgendämmerung getrübten Straßen. Es regnet, es ist sehr kalt. Unsere große Gruppe geht langsam vom Busparkplatz auf das karge Gelände zu.
Um mich herum höre ich dumpfe Gespräche der anderen. Ich gehe schweigend den matschigen, nassen unebenen Weg entlang. Langsam, sehr langsam. So, als würde ich jeden einzelnen Schritt bewusst ausführen. Ich gehe weiter. Passe mich an die Schritte der anderen an. Versuche, mir vorzustellen, was durch die Köpfe der Einzelnen geht.
Ich spüre, wie die Kälte und Nässe dabei unter meiner dicken Jacke hindurchdringt. Das Wetter um uns herum ist unendlich ungemütlich. Der Besuch dieses Ortes macht alles noch einmal realer. Die Asche unter unseren Füßen erinnert an all die Menschen, die hier ihr Leben lassen mussten.
Um 16.00 Uhr finden wir uns in der Jugendherberge ein, die Worte von Paul Sobol (siehe EXTRA unten) brennen sich tief in mein Inneres ein. Seine sonst ruhige Stimme wird plötzlich laut und schallt durch den großen hohen Raum: „Ich habe bis heute nicht verstanden, WARUM! Ich habe einfach nicht verstanden, warum! Warum man das getan hat. Warum man meine Familie getötet hat. Warum? Wir sind Personen gewesen wie ihr. Ganz normal, anständig, haben nichts getan. Ich habe es bis heute nicht verstanden …“ (dt. Übersetzung der Autorin; Zitat wiedergegeben aus der Erinnerung).
Diese Worte trafen mich tief. Es ist der Moment, der mich auch jetzt noch fühlen lässt, wie stark der Schmerz der Überlebenden sein muss. Den Tränen noch immer nahe, sitzen wir anschließend in einer kleinen Gruppe von Schülern, Schülerinnen und Studierenden zusammen. Bei eisiger Kälte sitzen wir draußen. Alle haben Tränen in den Augen. Zunächst redet keiner. Eine Gruppe, in der wir einander nicht alle kennen, nicht unsere Namen. Uns verbindet ausschließlich die Reise. Wir haben alle ganz unterschiedliche Nationalitäten, Alter, Geschlechter, Sprachen, Interessen … Schließlich finden wir zusammen. Wir reden. Wir sitzen lange zusammen. In unseren Herzen verbinden uns die Worte von Herrn Sobol: „On n’est pas allemand, on est européen!“ In unseren Herzen vereinen sich alle Sprachen und rufen: „Wir dürfen so etwas nicht mehr zulassen, wir müssen diese Zeit noch immer aufarbeiten!“
EXTRA PAUL SOBOL
Paul Sobol wurde am 26. Juni 1926 in Paris geboren. Seine Familie zog zwei Jahre später nach Brüssel um. Nach der Invasion durch die Deutschen blieb die Familie in Brüssel.
Infolge der Registrierung jüdischer Familien durch die Behörden und des obligatorischen Tragens des jüdischen Sterns beschließt die Familie, sich zu verstecken. Paul Sobol nennt sich fortan Robert Sax. Doch am 13. Juni 1944 wird die Familie nach einer Denunzierung von der Gestapo verhaftet. Mit seinen Eltern, seiner 16-jährigen Schwester und seinem 14-jährigen Bruder wird Sobol in die Dossin-Kaserne in Mechelen verlegt. Am 31. Juli 1944 wird die Familie nach Osten deportiert. Als Teil des 26. Konvois, des letzten nach Auschwitz.
Flucht aus dem KZ
Nach der Ankunft in Birkenau wird Sobol für die Zwangsarbeit aussortiert. Anfang 1945 überlebt er den Todesmarsch ins Lager Groß-Rosen, wo er am 21. Januar ankommt. Zwei Tage später wird er nach Dachau transportiert, wo er in einem Nebenlager arbeiten muss. Während einer Bombardierung am 25. April 1945 gelingt es Sobol, zu entkommen. Er findet Zuflucht bei französischen Kriegsgefangenen. Am 1. Mai 1945 wird er von den Amerikanern befreit und nach Belgien zurückgeführt. Nur seine Schwester Betty kommt lebend aus Auschwitz zurück.
1947 heiratet er Nelly Vandepaer, die bereits vor der Deportation seine Freundin war. Er hatte es geschafft, ein Bild von ihr während seiner gesamten Reise bei sich zu behalten.
Quelle: Témoins de la 2e génération
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