Großbritannien / „Ein Super-Resultat bringt schwierige Fragen mit sich“: Politologe über die Aussichten für die neue Regierung
Stewart Wood, 56, war außenpolitischer Berater des Labour-Premiers Gordon Brown (2007-10) und gehörte zum engsten Kreis des anschließenden Labour-Vorsitzenden und neuen Energieministers Edward Miliband. Im Interview spricht er über die Herausforderungen, die nun vor der neuen Regierung liegen.
Tageblatt: Lord Wood, am vergangenen Wochenende waren Sie in Spanien. Wollten Sie nicht den Sieg Ihrer Labour Party in Ruhe genießen?
Stewart Wood: Wie viele andere auch wurde ich von der Wahlankündigung des bisherigen Premiers Rishi Sunak überrascht. Längst zuvor hatte die Band, in der ich Gitarre spiele, ein Konzert in Barcelona vereinbart, das konnte und mochte ich nicht absagen. Aber die Wahlnacht habe ich immerhin hier in London erlebt und gehörte zu einer Kommentar-Riege im BBC-Radio. Da bekam ich die Freude bei uns und die tiefe Enttäuschung bei den Konservativen doch hautnah mit.
Werden Sie denn jetzt für die neue Regierung arbeiten?
Mindestens einstweilen nur auf informeller Basis für ein paar Leute, die ich seit langem kenne. Ich mache ja recht viel im House of Lords und unterrichte in Oxford. Da muss ich diese Woche gleich mal ein Seminar halten zur Interpretation des Wahlergebnisses
Können Sie uns daran teilhaben lassen?
Zunächst mal: Es lief vieles sehr gut für Labour. Unser Ziel war es, die Tories loszuwerden. Das hat die Bevölkerung geteilt: Es kam überall zu Bündnissen gegen die Regierungspartei, viele Menschen haben taktisch abgestimmt.
Wozu das Mehrheitswahlrecht die Leute zwingt: In jedem der 650 Wahlkreise wird nur je ein Mandat vergeben.
Auf diese Weise kamen unsere Kernwählerschaft plus neue überzeugte Labour-Wähler, plus taktisch Abstimmende zusammen. Das war kein Zufall! Sondern Morgan McSweeney …
… Labours Wahlkampfchef …
… gab regelmäßig detaillierte Anweisungen aus: Bitte fahrt in diesen oder jenen Wahlkreis und unterstützt den dortigen Labour-Ortsverein. Im Lauf der Kampagne schickte er uns in immer unwahrscheinlicher scheinende Bezirke.
Zum Beispiel?
Als ich hörte, wir sollten nach Banbury in Oxfordshire zum Flugblätter-Verteilen, dachte ich: Banbury, ernsthaft? Ein Wahlkreis, der seit 102 Jahren stets Konservative ins Unterhaus geschickt hat? Aber ja, die Daten waren so, und das Ergebnis gab McSweeney recht.
Der Abgeordnete für Banbury gehört nun zu 412 Labour-Menschen im Unterhaus, 63 Prozent aller Sitze. Dies gelang des Wahlrechts wegen mit 33,8 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Das sieht jetzt alle Welt als Schwäche. Ich würde es aber auch als Stärke interpretieren: Im bestehenden Wahlsystem haben wir optimal abgeschnitten. Schon jetzt kann man absehen, was für die nächste Wahl wichtig sein wird, nämlich die Frage, wie wir unseren Stimmanteil konsolidieren können.
Tatsächlich gewann Labour viele Bezirke nur mit geringen Mehrheiten. Das kann beim nächsten Mal ganz anders aussehen.
Das ist sicher eine entscheidende strategische Frage für die Regierungsarbeit: Welche Wählergruppe will man unbedingt bei der Stange halten, selbst wenn man damit einen anderen Teil der Gesellschaft vor den Kopf stößt? Das Dilemma ist ja klar: einerseits Wähler in der Mitte, die eigentlich normalerweise eher nach rechts tendieren, aber diesmal unbedingt die Tories loshaben wollten. Andererseits jene städtischen Sitze, wo Grüne, Liberaldemokraten und Unabhängige schon diesmal stark abgeschnitten haben und uns beim nächsten Mal gefährlich werden könnten. Es ist ganz normal, dass ein Super-Resultat schwierige Fragen mit sich bringt.
Labour verlor in angestammten Bezirken viele Stimmen. Beispielsweise stimmten in dessen Londoner Wahlkreis statt knapp 37.000 nur noch knapp 19.000 Menschen für den neuen Premierminister Keir Starmer.
Solche Ergebnisse gab es reihenweise. Das hat mit den Umfragen zu tun, die von vornherein einen klaren Labour-Sieg suggerierten.
Die Demoskopen verzeichneten einen Labour-Stimmanteil um 40 Prozent, mit riesigem Abstand zu den Tories.
Da dachten natürlich viele Menschen: Meine Stimme braucht es nicht, die Labour-Kandidaten werden sowieso gewählt. So etwas hörte ich beim Gespräch mit Wählern an deren Haustüren immer wieder. Unter anderem daher stammen die vielen Stimmen für Liberaldemokraten, Grüne oder Unabhängige.
Kann man zusammenfassend sagen: Die Tories haben die Wahl verloren, Labour profitierte vom Frust und Zorn der Menschen?
Gewiss gab es eine weithin geteilte Stimmung gegen die konservative Regierung, nicht unbedingt Begeisterung für das Labour-Programm. Eher so das Gefühl: Sollen es die anderen mal versuchen, und zwar mit einer klaren Mehrheit im Unterhaus. Keir Starmer spricht von einem „Mandat“ für seine Regierung. Das beinhaltet nicht unbedingt die Befürwortung von dieser oder jener konkreten Idee, sondern das Gefühl: Das Land ist mit dem bestehenden Zustand unzufrieden, wir brauchen eine fundamentale Veränderung.
Das Mehrheitswahlrecht ist eigentlich auf zwei große Parteiblöcke ausgerichtet. Finden Sie es angesichts der neuen Vielfalt im Unterhaus noch angemessen?
Die Menschen kennen dieses System und haben es sehr geschickt genutzt, sonst gäbe es die Vielfalt nicht. Ich selbst finde die Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht für den Deutschen Bundestag sehr gut. Aber ich würde für so eine Reform nicht auf die Straße gehen. Und ich sage zu meinen Parteifreunden, die sich besonders eifrig fürs Verhältniswahlrecht starkmachen: Ihr lauft Gefahr, zu Hebammen für Nigel Farages Reform-Party zu werden.
Diskutiert wurde im Wahlkampf auch wieder einmal über eine Reform des Oberhauses. Was sagen Sie als dessen Angehöriger dazu?
Das Oberhaus leistet gute Arbeit, und zwar jene genaue Durchleuchtung von Gesetzesvorhaben, die in anderen Parlamenten von Fachkomitees der zweiten Kammer geleistet wird. Es sind dort eminente Fachleute versammelt, die Parteizugehörigkeit spielt eine viel geringere Rolle, vieles geschieht im Stillen.
Das Unterhaus stellt der ungeschriebenen britischen Verfassung gemäß eher eine Verlängerung der Exekutive dar. „The King in Parliament“, wie das so schön heißt.
Im Unterhaus wird die Regierungsarbeit nicht genau genug geprüft, also braucht es im derzeitigen System das Oberhaus. Ich selbst wäre für Wahlen. Aber die Ironie der Geschichte lautet doch: Die entsprechenden Reformen werden stets vom Unterhaus gestoppt, weil die gewählten Abgeordneten kein durch Wahlen gestärktes Gegenüber haben wollen.
Labour strebt eine Reihe von weniger grundsätzlichen Reformen an.
Na ja, wir sollten die 92 Erblords loswerden, die bei der letzten Reform vor 25 Jahren übriggeblieben sind. Die Rede ist auch davon, die über 80-Jährigen in den Ruhestand zu versetzen. Zukünftig soll es außerdem gewisse Anwesenheitspflichten geben: Wer sich nie blicken lässt, fliegt raus. Das halte ich alles für richtig.
Wie bewerten Sie die ersten außenpolitischen Schritte der neuen Regierung?
Ich fand die erste Reise von Außenminister David Lammy sehr gut: Deutschland, Polen, Schweden, allesamt gute Verbündete und klare Unterstützer der Ukraine.
Wo gleichzeitig Verteidigungsminister John Healey zu Gast war.
Der Premierminister selbst nimmt diese Woche in Washington am NATO-Gipfel teil und trifft separat auch den US-Präsidenten Joe Biden. Und kommende Woche trifft sich die Europäische Politische Gemeinschaft (EPG) hier in England mit Keir Starmer als Gastgeber.
Lammy will im September auch am EU-Außenministertreffen teilnehmen – die diesbezügliche Einladung hatten die Tories stets abgelehnt.
Aus all diesen Treffen geht das klare Signal hervor: Die neue Regierung will enger an die EU rücken, ohne den Brexit selbst infrage zu stellen.
Starmer wurde zitiert, „zu seinen Lebzeiten“ werde es nicht zu einer neuerlichen EU-Mitgliedschaft kommen.
Diese Worte hat er so gar nicht gesagt. Aber wie auch immer: Ich fand eine Äußerung der neuen Finanzministerin Rachel Reeves im Wahlkampf interessanter. Sie sprach davon, dass die Leute, die für den Austritt gestimmt hatten, sicher nicht der britischen chemischen Industrie Steine in den Weg legen wollten. Anders gesagt: Da kann es zu einer pragmatischen Annäherung in der Regulierung von Branchen und Berufsgruppen kommen, die im beiderseitigen Interesse liegen müsste.
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