/ Ein verwilderter Garten ist „sexy“: Wie Insekten unser Überleben sichern
Am liebsten packt Andreas Segerer (58) das Insektensterben in ein Bild. Es ist das Bild der geknoteten Hängematte, deren Halt immer brüchiger wird, je mehr Knoten sich mit jeder Art, die ausstirbt, lösen. Irgendwann landet der Benutzer auf dem Boden. Dann ist das Ökosystem, wie wir es kennen, zusammen- gebrochen. Seit er das Buch „Das große Insektensterben“ veröffentlicht hat, ist der Biologe vom Forscher zum Vortragsreisenden mutiert. Nach Luxemburg hat ihn das „Mouvement écologique“ eingeladen.
Die Zahlen sind dramatisch. 41 Prozent der Insektenarten sind rückläufig. Das geht aus mittlerweile 75 Studien zum Thema hervor, auf die Andreas Segerer in seinem Vortrag hinweist. In absoluten Zahlen ist eine Million der Insektenarten weltweit von der Ausrottung bedroht.
Allein in Bayern, wo Segerer als Wissenschaftler an der Zoologischen Staatssammlung in München arbeitet, sind zwischen 1971 und 2000 mehr Arten verschollen als in den 200 Jahren zuvor. Für Luxemburg gibt es mangels Beobachtungen und fehlenden Studien nicht viel Zahlenmaterial. Nur so viel: 1981 gab es noch 108 Arten von Tagfaltern im Großherzogtum, heute sind es nur noch 86. Das berichtet Marcel Hellers, ehrenamtlicher wissenschaftlicher Mitarbeiter des hauptstädtischen „Naturmusée“.
Die Ursachen sind seit langem bekannt und benannt: Veränderung der Lebensräume der Insekten, intensive Landwirtschaft und Versiegelung der Flächen durch Straßen und Besiedelung, um nur die schwerwiegendsten zu nennen. Die Konsequenzen sind drastisch. Ein Gespräch über Artenschutz, Naturschutzzonen und was jeder von uns tun kann, um das Insektensterben zu verhindern.
Tageblatt: Herr Segerer, haben Sie eigentlich ein Lieblingsinsekt?
Andreas Segerer: Ja, das Rote Ordensband. Dieser Schmetterling ist mit einer Kindheitserinnerung verknüpft. Im Alter von elf Jahren hat mich mein Onkel nachts mitgenommen, es war eine Mondfinsternis und da ist der große Nachtfalter mit der schönen Flügelfärbung an den Köder geflogen. Das vergisst man nicht.
Naturschutzzonen, denken viele, reichen. Sie sagen, das reicht überhaupt nicht. Warum?
Das hat mehrere Gründe. Aus der Vogelperspektive betrachtet wirken Naturschutzgebiete wie „Inseln“ in einem Meer aus intensiv bewirtschafteten Feldern und Beton. Die Arten bleiben deshalb isoliert, haben keinen Zuzug von anderen Individuen. Durch Inzucht bricht die Population dann irgendwann zusammen. Noch schlimmer aber ist, dass die Naturschutzzonen trotz aller Schutz- und Pflegemaßnahmen durch Pestizide und Stickstoffverbindungen in der Luft beeinträchtigt sind. Sie machen an den Grenzen der Schutzgebiete nicht halt und das verändert die dort lebenden Gemeinschaften.
Bei der Pharmaindustrie sind Sie nicht so beliebt, oder?
Das könnte sein. Da geht es um Milliardenumsätze mit Düngemittel, Saatgut, Pestiziden. Ich habe diese zutiefst umweltschädliche Wirtschaftsweise nicht erfunden. Und angenehm sind Begegnungen nicht, aber die Hornhaut wird dicker …
Sie sprechen von der „konventionellen“ Landwirtschaft als einem der Hauptverursacher …
Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals eine Konvention, die deren Wirtschaftsweise festlegt, unterschrieben hätte.
In Luxemburg soll bis 2025 ein Fünftel der landwirtschaftlich genutzten Fläche biologisch bewirtschaftet werden. Reicht das?
100 Prozent wären natürlich besser. Das ist ein mühsamer Weg, weil man nicht von heute auf morgen auf „Bio“ umstellen kann. Ich finde das hier sehr sportlich. In der BRD sollen es 20 Prozent bis 2030 sein.
Was antworten Sie Menschen, die denken: Insektensterben? Endlich weniger Läuse, Flöhe und Motten!
Ob uns das gefällt oder nicht, spielt keine Rolle. Insekten sind ein elementarer Bestandteil unserer Umwelt und sind für das Funktionieren unserer Ökosysteme unentbehrlich. Insekten sind als Bestäuber von rund 90 Prozent der Pflanzenarten zuständig, sie verwerten Aas und Kot viel schneller als Pilze und Bakterien und bewahren uns vor Fäulnis und Seuchen. Und sie sind die Nahrung für viele andere Tiere, die auch wiederum ihre Aufgabe im Ökosystem haben.
Ohne Insekten kein funktionierendes Ökosystem?
Ohne Insekten bricht das System in seiner jetzigen Form zusammen. Mein Kollege Edward O. Wilson von der Harvard-Universität vertritt die These, dass die Menschen in einer Welt ohne Insekten maximal zehn Jahre überleben könnten.
Viele Luxemburger haben einen Garten. Was könnten Sie tun, um dem Insektensterben vorzubeugen. Drei praktische Beispiele …
Das wichtigste sind einheimische Pflanzen: einheimische Kräuter säen, einheimische Pflanzen anbauen, einheimische Bäume. Gewächse wie die Saalweide oder Weißdorn sind sehr hilfreich für die Artenvielfalt. Selten mähen, wäre das zweite Beispiel. Zwei Mal im Jahr reicht. Rasenroboter sind ein Tabu, sie töten nicht nur die Igel. Und ein bisschen was liegen lassen im Garten wie Ziegel oder Holz, damit sich andere Tiere ansiedeln können.
Da kennen Sie aber den sozialen Druck nicht. Ein ungemähter Rasen gilt als „schlampig“ …
Ich kenne viele Bürgermeister, die als gutes Beispiel vorangehen wollen und kommunale Grünflächen nicht mähen, die darunter leiden. Sie sind mit Beschwerden der Bürger konfrontiert, die das als „unordentlich“ oder „nicht gepflegt“ empfinden. Wenn man es schafft, dass ein verwildert aussehender Garten zukünftig „sexy“ ist, dann ist viel erreicht.
Landwirtschaft, Pestizide, Naturschutzzonen, die Zersiedelung der Landschaft kommt dazwischen ziemlich leise als Grund daher, die Wohnungsnot ist aber da …
Der Eindruck täuscht. Die Zersiedelung gehört zu den Faktoren, die das Insektensterben verursachen. Gewerbezonen wachsen, immer mehr Straßen und natürlich Wohnraum: Der Flächenverbrauch ist mit daran beteiligt, dass die Lebensräume der Insekten zerstört werden. Allerdings ist dieser Anteil in Deutschland mit 14 Prozent wesentlich geringer als der Anteil der landwirtschaftlich genutzten Fläche mit 51 Prozent an der Gesamtfläche des Landes. Der Dreh- und Angelpunkt des Ganzen liegt aber woanders.
Wo denn?
Die Frage ist für mich, ob wir es schaffen, Umweltschäden in Geld auszudrücken. Dann können bei allen Planungen, die der Artenvielfalt schaden, Gegenrechnungen gemacht werden. Das ist für mich der Schlüssel. Ein Beispiel: Die Nitratbelastung des Grundwassers zahlt der Deutsche separat über die Abwassergebühren, aber er spürt das nicht beim Preis für das Schweinefleisch aus intensiver Zucht. Klimagase, Antibiotika, Nitrate, Nährstoffe, Tierwohl: Wenn das alles mit eingerechnet würde, wären die Produkte aus konventioneller Landwirtschaft deutlich teurer als Bioprodukte.
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die letzten 2 jahre ist es wirklich schlimm aufgefallen:fast keine fluginsekten mehr in der windschutzscheibe oder der motorradbrille.eigentlich angenehm und doch besorgniserregend.schliesslich kennt man die bedeutung der insekten fuer das funktionieren des oekosystems in dem wir auch nur ein glied sind;doch dieses jahr das grosse aufatmen.sie sind wieder da,die kleinen plagegeister die man inzwischen lieben gelernt haben sollte.irgendwie besteht permanent das beduerfniss langsamer zu fahren um moeglichst wenige von ihnen zu toeten.aber jetzt die grosse frage:warum sind dieses jahr wieder so viele insekten in der luft?haben sie sich etwa dank ihres schnellen generationswechsels angepasst an all die gifte die wir so verspruehen?
@marc wollwert : Ihr Optimismus in allen Ehren, aber das Phänomen der „NichtmehrdieWindschutzscheibeoderMotorradbrilleverklebendenFluginsekten“ besteht nicht etwa seit 2 Jahren. In meiner Jugend in den 70er Jahren waren im Sommer sowohl Windschutzscheiben, wie auch die Gläser (nicht die billigen Plastikimitationen) der Scheinwerfer MASSIV von sogenannten Fluginsekten verklebt, und konnten bloss mit rauhem Schwamm oder Chemikalien entfernt werden. Heutzutage, und das gilt auch für dieses Jahr, genügt ein 2-maliger Scheibenwischerwisch mit simplem Wasser (als wenn es das noch gäbe) , und die letzten der Insektenmohikaner landen in der Abfallrinne, also da, wo wir Menschen sie am liebsten sehen.
Jetzt verstehe ich, weshalb der Garten meines Nachbarn so verwildert ist. Das ist sexy und meine Insekten haben auch was davon!