50 Joer „Ro’d Wullmaus“ / Eine andere Geschichtsschreibung des politischen Luxemburgs
Die späten 60er und die 70er des vergangenen Jahrhunderts waren auch in Luxemburg eine bewegte Zeit mit ansatzweise revolutionärem Charakter. Zwei Veteranen der linken bis extrem-linken Jugendszene, die eine ihrer frühen Ausdrucksformen in der Schülerzeitung „Ro’d Wullmaus“ (RWM) hatte, sammelten Material über eben diese spannende Periode: Robert Soisson und André Gilbertz gaben ein Werk heraus, das es auf beeindruckende 2,5 Kilogramm Gewicht bringt, zahlreiche Dokumente zeigt und viele Zeitzeugen zu Wort kommen lässt.
Auch wenn die Autoren in Kapitel 3 „Die RWM und die Medien“ schonungslos und nicht nur rückblickend behaupten, die Journalisten in den bürgerlichen Presseorganen (wozu sie auch das Tageblatt zählen) würden zwar nicht bewusst lügen, würden aber „undifferenziert, wie es die politische Ausrichtung ihres Blattes vorgibt“ schreiben und gar „der kalte Krieg wird rhetorisch immer noch weitergeführt“.
Und weiter: „Das Tageblatt, das auch gar nichts mit der LSAP zu tun haben will, funktionierte und funktioniert heute noch nach fast dem gleichen Schema. Es unterstützt keine reaktionären Parteien und Regierungen, aber tat alles, um die Politik der Sozialdemokraten in Europa und der Welt zu beschönigen.“ Wir überlassen es unseren Lesern, einzuschätzen, ob diese wenig freundliche Analyse der publizierten Realität unserer 110 Jahre alten Zeitung entspricht oder je entsprach und enthalten uns eines Kommentars …
Solchermaßen definiert, braucht es allerdings schon ein recht dickes Fell, um unbeeindruckt und so objektiv wie möglich über das 540 Seiten starke, großformatige Buch zu berichten, das von der FGIL („Fédération générale des instituteurs luxembourgeois“) großzügig finanziell unterstützt wurde. Versuchen wir es trotzdem. Immerhin wird unsere Zeitung öfters in dem Werk als Quelle genutzt, was denn doch als Anerkennung gesehen werden dürfte.
30 Nummern plus acht
Die Ro’d Wullmaus wurde ursprünglich vom sozialistischen Schülerbund CLAN, der seinen Namen mehrmals ändern sollte, herausgegeben und die Schülerzeitung rivalisierte (aus heutiger Sicht eigentlich kaum vorstellbar) mit mehreren Print-Produkten anderer linker Schülerorgansationen, wie der „Schülerfront“ (LCR); aber auch die „Rote Fahne“ („Gauche socialiste et révolutionnaire“) oder der „Stodent“, das Blatt der UNEL („Union nationale des étudiants luxembourgeois“), die KSZ (kommunistische Studentenzeitung) und die „Voix“ (Assoss), in der viele spätere RWM-Autoren erste Beiträge veröffentlichten, erschienen zeitgleich bzw. unwesentlich früher oder später.
Die Wullmaus, von der zwischen 1970 und 1975 30 Ausgaben erschienen, hatte allerdings zweifellos die begabtesten Karikaturisten und die einfallsreichsten Autoren und stach damit aus der Vielzahl ähnlicher Produkte hervor, von denen die meisten nach kurzer Zeit wieder eingestellt wurden. In den Jahren ’78 und ’79 wurden weitere acht Ausgaben als „Nei Ro’d Wullmaus“ publiziert.
„50 Joer Ro’d Wullmaus, 1970-2020“ ist weit mehr als eine Beschreibung dieser erfrischend frechen, oft radikalen und vielfach bis dahin übliche Grenzen des guten, sprich des bürgerlichen Geschmacks sprengenden Schülerzeitung. Das Werk beleuchtet Zeitgeschichte, die so kaum dokumentiert ist und damit einen Einblick in eine Welt politischer Vorstellungen, Meinungen, Überzeugungen, Aktionen und wohl auch teils naive Ideale und Wunschvorstellungen liefert, die den meisten Zeitgenossen, besonders jenen außerhalb der damaligen politischen Hochburgen im Süden des Landes und teils in Diekirch und der Hauptstadt, vollkommen fremd waren.
Die „Wullmaus“ und ihre Epoche
In 20 Kapiteln, zu umfassend, um sie an dieser Stelle ausgiebig resümieren zu können, beschreiben die Autoren und Ko-Autoren die diversen gesellschaftlichen Bereiche und Themenfelder, mit denen die damalige Schülerschaft konfrontiert war, stritt und kämpfte.
Selbstredend nimmt das Kapitel „Die RWM und die Schule“ dabei einen breiten Raum ein. Proteste gegen reaktionäre Lehrer, Streikaktionen, Beschreibungen zahlreicher damaliger Lehrkräfte, aber auch Anekdotenhaftes ist auf den 72 Seiten, die allein diesem Themenbereich reserviert sind, nachzulesen oder in dem reich illustrierten Werk zu betrachten.
Die RWM und die Sexualität, der RWM-Prozess, der tatsächlich am 6. und 7. Mai 1971 gegen die Schülerzeitung angestrengt worden war, Kultur, Religion, Frauen, Staatsgewalt, „Gastarbeiter“, Betriebe und auch schon Umwelt, aber auch Monarchie und Bourgeoisie lauten die Titel weiterer Kapitel, die sich mit den Hauptanliegen der Schüler und Studenten einer bewegten Zeit beschäftigen. Anliegen, die im Übrigen wohl auch heute noch aktuell sind, nur nicht mehr oder kaum in der Offenheit und Radikalität angegangen werden (müssen?), wie dies vor 50 Jahren geschah.
„50 Joer Ro’d Wullmaus“ bietet demnach politisch Interessierten, besonders den Älteren, die Gelegenheit, viele bekannte Gesichter wiederzuentdecken, für die Jüngeren ist es ein spannendes Zeitdokument, das Einblicke in eine Epoche liefert, ohne die Luxemburg heute ein gutes Stück reaktionärer und rückständiger wäre. Lesenswert ist es allemal.
Das Buch kann bei der FGIL, 1, rue Jean-Pierre Sauvage, L-2514 Luxembourg, bestellt werden (Tel.: 48 58 86, Mail-Adresse: fgil@fgil.lu). Der Preis beträgt 55 Euro plus Porto-Kosten.
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„das von der FGIL („Fédération générale des instituteurs luxembourgeois“) großzügig finanziell unterstützt wurde.“
Braucht jemand Geld?
Das Buch sollte für alte Wullmäuse gratis sein.