Gesundheitswesen / Eine bittere Pille: Das Leiden der Betroffenen und der ökonomische Irrsinn
Es gab eine Zeit, da kannten Ärzte ihre Patienten noch mit Namen, sie wussten um die Familienverhältnisse und Krankengeschichten. Es gab noch Ärzte, die Hausbesuche machten, egal ob am Tag oder während der Nacht. Sie hörten sich die Probleme ihrer Patienten an und nahmen sich die Zeit, eine adäquate Antwort auf die an sie gestellten Fragen zu geben. In den Kliniken gab es Personal, das über die nötige Zeit verfügte, Menschlichkeit an den Tag zu legen. Und heute?
„Ich kenne nur wenige Kolleginnen und Kollegen, die aktuell mit ihrer Arbeit zufrieden sind“, so die erschütternde Aussage einer Krankenpflegerin, die nicht namentlich genannt werden möchte. Die Angst, die sie hat, bezieht sich nicht nur allein auf ihre Person, sondern auch auf ihren Arbeitsplatz. „Bitte schreiben Sie nicht, in welcher Klinik ich arbeite. Ich möchte nicht als Verräterin abgestempelt werden und sowieso tut der Name der Klinik nichts zur Sache, denn das Pflegepersonal steht überall massiv unter Druck. Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass die Motivation auch darunter leidet. Und nichts ist gefährlicher in unserem Beruf. Pflegepersonen können das nicht mehr umsetzen, was sie eigentlich zu leisten bereit sind. Das frustriert. Und es macht längerfristig krank. Körperlich und psychisch.“
Das ist doch ein ernstzunehmender Hilferuf, oder? Und was noch schlimmer ist: Das Pflegepersonal schreit seit Jahren um Hilfe, doch so richtig Gehör findet es kaum.
„So hatte ich mir das nicht vorgestellt“
Wo auch immer man sich in diesen Tagen im Gesundheitssystem umhört: Es ist immer der gleiche Tenor. Etliche Pflegende geben an, diesen Beruf wohl nicht bis zur Rente ausüben zu wollen. „Einerseits können wir unseren Beruf nicht so ausüben, wie uns das einmal gezeigt wurde, andererseits sind wir die Blitzableiter der Mitmenschen geworden, die zum Beispiel Stunden und Stunden in Warteräumen oder auf den Gängen ausharren müssen, bevor nach ihrem Leiden geschaut wird.“
Auf den Stationen sieht es ähnlich aus. Es fehlt an Personal, es fehlt an Zeit, es fehlt stellenweise an medizinischem Material. „Wir verbringen mehr Zeit am Computerschirm als am Krankenbett. Wir entfernen uns zunehmend von einem menschlichen, am Patientenwohl orientierten Gesundheitssystem“, so ein sichtlich entmutigter Stationschef. „Corona hat natürlich die Situation in den Kliniken noch weiter verschärft, doch wir haben auch vor der Pandemie auf zahlreiche Missstände aufmerksam gemacht, ohne dass sich etwas wesentlich verändert hat.“
In den Reihen der Ärzteschaft sieht die Lage ähnlich aus. Die Rede geht von einem akuten Ärztemangel, was unter anderem dazu führe, dass Patienten oft viel zu lange Wartezeiten in Kauf nehmen müssen, bevor sie einen Termin bei einem Haus- oder Facharzt bekommen. Dies belegt auch eine Statec-Studie, laut der Luxemburg 90 Ärzte auf 100.000 Einwohner zählt, während diese Zahl in der Großregion bei 166 pro 100.000 liegt.
Beurteilung der Arbeitsanforderungen
Im Abschlussbericht (Januar 2022) der Studie „LetzCare“ der Universität Luxemburg, die in Zusammenarbeit mit der „Association nationale des infirmières et infirmiers du Luxembourg“ (ANIL) gemacht wurde, steht zum Thema „Beurteilung der Arbeitsanforderungen im luxemburgischen Pflegesektor“ unter anderem Folgendes zu lesen:
Was die Absicht anbelangt, den Pflegeberuf zu verlassen, gaben 21,87 Prozent der insgesamt 735 an der Umfrage teilnehmenden Pfleger*innen an, in den letzten zwölf Monaten nie darüber nachgedacht zu haben, ihre Tätigkeit in der Pflege aufzugeben, 17,35 Prozent selten, 30,32 Prozent manchmal, 26,38 Prozent oft und 4,08 Prozent immer.
Als Grund gaben 48,16 Prozent das Arbeitsvolumen an, 29,25 Prozent die Behandlung durch Kollegen oder Kolleginnen und Vorgesetzte, 27,89 Prozent den Arbeitsinhalt, 26,39 die Arbeitszeiten, 17,14 Prozent die Bezahlung und Zusatzleistungen, 12,24 Prozent die Karriere- und Weiterbildungsmöglichkeiten, 10,20 Prozent Sonstiges, 10,07 Prozent private Gründe und 4,90 Prozent die Jobsicherheit. (roi)
Nur ein Beispiel von vielen
Ähnliches stellt auch Marie-Lise Lair, die frühere Leiterin der Abteilung Öffentliche Gesundheit am „Centre de recherche public de la santé“ (heute Luxembourg Institute of Health), in einem Land-Artikel vom Oktober 2019 fest: „Die Hälfte der Mediziner ist 53 oder älter. Von den im Jahr 2017 laut CNS 2.088 aktiven Ärzten könnten in den kommenden 15 Jahren 1.233 bis 1.437 in Rente gehen, bis zu 69 Prozent. Um sie zu ersetzen, sind pro ausscheidendem Arzt 1,2 bis 1,5 neue nötig, da, ganz abgesehen von der zunehmenden ‚Feminisierung‘ des Berufs, junge Ärzte generell viel weniger bereit sind, ‚zu leben, um zu arbeiten‘, als ihre älteren Kollegen.“ Für manche Facharztdisziplinen sagte die Studie von Marie-Lise Lair sogar einen noch größeren Bedarf an Nachwuchs voraus – je nach Disziplin würden bis zu 87 Prozent der im Jahr 2019 aktiven Fachärzte bis 2035 ausscheiden.
„Das Problem ist also längstens bekannt, umso schlimmer ist es, dass wir uns heute noch immer mit demselben Problem herumschlagen müssen“, so ein Arzt in einem hauptstädtischen Krankenhaus in einer seltenen Pause. „Wir laufen gegen die Wand. Und was die Bereitschaftsdienste der Ärzte in den Kliniken anbelangt, gab es in letzter Zeit genügend Fälle, die belegen, dass dieser Dienst für Kollegen und Kolleginnen, die auch noch eine Privatpraxis betreiben, sehr stressig, um nicht zu sagen, unmöglich geworden ist. Natürlich spielt auch der Verdienstausfall eine Rolle, warum viele Ärzte keinen Krankenhaus-Notdienst übernehmen möchten. Aber dies ist nur ein Beispiel von vielen. Hebel müssten an vielen Stellen angesetzt werden.“ Beim Weggehen meinte er noch: „Schauen Sie doch mal genauer in die Gesichter der Ärzte und des Pflegepersonals. Dann sehen Sie Enttäuschung, Müdigkeit, Stress …“
In der Nähe eines überfüllten Wartebereichs beschwert sich eine ältere Dame bei ihrem Pfleger, dass ihr Termin beim Urologen nun bereits zum dritten Mal vertagt wurde. „Ich habe im August dieses Jahres um einen Termin gebeten, heute stehen wir kurz vor Weihnachten. Finden Sie das normal …?“, so die Dame beim Verlassen des „Service urologie“.
Personalmangel löst sich nicht von selbst
Auf die Arbeitsanforderungen des Pflegepersonals angesprochen, gibt Tina Koch, Generalsekretärin der „Association nationale des infirmières et infirmiers du Luxembourg“ (ANIL) zu verstehen, dass der Personalmangel im Pflegebereich nach der Corona-Pandemie größer als je zuvor ist. „Wie dieses Problem kurz- bis mittelfristig gelöst werden kann, weiß zurzeit keiner so recht. Die vakanten Stellen werden wohl ausgeschrieben, doch es werden nicht genügend, um nicht zu sagen keine Leute gefunden. Nicht hier in Luxemburg und auch nicht im benachbarten Ausland. Dazu sollte man auch wissen, dass Luxemburg ein WHO-Abkommen unterschrieben hat, das besagt, dass nur maximal 30 Prozent des in Luxemburg tätigen Pflegepersonals aus dem Ausland herangezogen werden dürfen. Weiter wissen wir, dass in unseren Nachbarländern heute bereits während der Ausbildung Verträge mit den Auszubildenden ausgehandelt werden, die sie an Arbeitsstellen in ihrem eigenen Land binden.“
Was das Vorhaben zur Erweiterung des Kompetenzbereichs des Pflegepersonals betrifft, sei in den letzten zwei Jahren viel Vorbereitungsarbeit geleistet worden, doch es bleibe bis dato noch immer nur ein Projekt. „Ein Vorhaben, das unsere Regierung aber spätestens bis Juni 2023 in die Realität umgesetzt haben soll“, gibt Tina Koch vorsichtig zu verstehen. „Im Moment warten viele Berufssparten aus dem Pflegebereich sehnsüchtig auf diese Kompetenzerweiterung, die nicht nur dafür Sorge tragen kann, dass das Pflegepersonal endlich das Gelernte voll und ganz in die Tat umsetzen kann, sondern es wird dem Personal auch einen gewaltigen Motivationsschub geben.“
Apropos Gelerntes: Zusammen mit Professoren der Universität Luxemburg sei man an der Ausarbeitung eines neuen Ausbildungsprogramms für die verschiedenen Pflegeberufe beschäftigt. Sollten diese neuen Ausbildungswege einmal in die Realität umgesetzt werden können, würden aber noch einige Jahre ins Land ziehen, bis das im Pflegealltag spürbar werde. (roi)
Klingeln um 5 Uhr in der Früh
Im Wartebereich unterhalten sich dann zwei Patientinnen über eine bevorstehende „kleinere“ invasive Operation. „Der Arzt hatte mir gesagt, dass er diese OP erst in vier Wochen machen kann. Der OP-Kalender sei proppenvoll. Ich solle mich in der Zwischenzeit um einen Termin beim Anästhesisten bemühen“, so eine der beiden Damen.
„Übermorgen ist es nun so weit. Ich soll am Tag der OP um 5 Uhr in der Früh in der Klinik sein. Mir wurde gesagt, ich solle klingeln, da die Eingangstüren der Klinik um die Zeit noch zugesperrt sind. Und man hat mir zudem eine Telefonnummer gegeben, die ich anwählen soll, wenn mir trotz Klingelns niemand aufmacht. Ich wohne im Ösling. Ich muss also übermorgen spätestens um 3 Uhr auf den Beinen sein, um rechtzeitig an der Krankenhaustür zu stehen“, erklärt sie auf Nachfrage.
Nächster Tag, nächste Klinik, nächster Warteraum. Ein Baby schreit, die Mutter entschuldigte sich dafür mit dem Satz: „Wir warten hier bereits seit zweieinhalb Stunden auf den Arzt.“ Daraufhin war dies das Hauptthema der Gespräche im Wartebereich. Jeder machte seinen Beschwerden in Sachen Gesundheitswesen Luft.
„Die Nadel ist nicht auf Lager“
Folgendes ist einer jungen Dame widerfahren: „Vor 14 Tagen war ich wegen einer Biopsie im Brustbereich bereits einmal hier. Doch zu meinem Entsetzen sagte man mir, die Art Nadel, die man für diese Biopsie brauche, sei im Moment nicht auf Lager. Ich musste mir einen neuen Termin nehmen. Das wollte ich am Freitag telefonisch machen, doch … mir wurde in einem sehr barschen Ton gesagt, ich müsste zuerst das zutreffende ärztliche Rezept einreichen, obschon dieses bereits seit dem ersten Termin in der Klinik vorlag. Ich soll das Original oder eben eine Kopie per Fax an den ‚Service mammographie‘ einsenden. Als ich aber zu verstehen gab, dass ich über kein Faxgerät verfüge, das ärztliche Rezept aber per Mail einreichen könnte, sagte mir die Stimme am anderen Ende der Leitung nur Folgendes: ‚Damit kann ich nichts anfangen, dann müssen sie das Rezept eben vorbeibringen!‘ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, legte die Person auf.“
Doch es geht noch weiter: „Am darauffolgenden Montag wurde ich mit meinem ärztlichen Rezept im Klinikum vorstellig, doch als hätte das oben Geschilderte nicht schon gereicht, gab man mir zu verstehen, dass ich das Rezept im ‚Service mammographie‘ abgeben muss, diese Abteilung jedoch an diesem Tag geschlossen sei. Ein Grund dafür wurde mir nicht genannt. So musste ich ein drittes Mal in der Klinik vorstellig werden, und das nur, um einen neuen Termin, in 14 Tagen, für die Biopsie zu bekommen“, so die sichtlich aufgebrachte junge Frau.
Bessere Ausbildungsstufe, erweiterter Kompetenzbereich
Wir wollten von Michèle Wolter, Chief Nursing Officer im Gesundheitsministerium wissen, wie sie die jetzige allgemeine Stimmung in den Reihen des Pflegepersonals sieht. „Es ist sicherlich keine einfache Zeit für das Pflegepersonal. Dass es viele Probleme gibt, für die schnellstens eine Lösung gefunden werden muss, ist längstens bekannt. Ich denke da zum Beispiel an die Reformen in Sachen Ausbildung und Berufsinhalt, sprich Kompetenzen für alle Mitglieder des Pflegepersonals. Wir müssen die verschiedenen Pflegeberufe wieder interessanter gestalten und so versuchen, das Interesse junger Leute an diesen Berufen zu wecken“, so Michèle Wolter.
Was die Ausbildung anbelangt, so sollen, in Zusammenarbeit mit der Universität Luxemburg, im nächsten Jahren Bachelor-Ausbildungen in den Sparten „infirmier pédiatrique“, „infirmier psychiatrique“, „infirmier en anesthésie et réanimation“ und „Assistant technique médical en chirurgie“ geschaffen werden. Das Gleiche soll im darauffolgenden Jahr für die Sparten „infirmier en soins généraux“, „Assistant technique médical en radiologie“ und für Hebammen der Fall sein.
„Wir wollen dabei aber auch nicht die Ausbildung und Einstufung der Hilfskrankenpfleger (‚aide-soignant‘) vergessen, da auch sie eine wichtige Rolle im Pflegebereich spielen. Dank dieser Ausbildungsreformen und der geplanten Erweiterung der einzelnen Kompetenzbereiche hoffen wir kurzfristig auf einen Motivationsschub innerhalb des bestehenden Personals und mittelfristig auf mehr Interesse an den verschiedenen Pflegeberufen und somit auf eine Entschärfung des Personalmangels.“
Kurzfristig könnte das Arbeitsvolumen des Pflegepersonals aber bereits dank der Digitalisierung und auch der Arbeitsaufteilung besser aufgeteilt und für jeden machbarer gestaltet werden. „Hier müssen aber auch die Direktionen der einzelnen Krankenhäuser, um nur diese zu nennen, mithelfen.“
Auf der neu geschaffenen Webseite www.healthcareers.lu werden die einzelnen Gesundheitsberufe ausführlich vorgestellt. Hier können sich Interessenten unter anderem über die Berufsinhalte, die Weiterbildungs- und Karrieremöglichkeiten sowie Gehälterstrukturen in den einzelnen Sparten informieren. Diese Webseite, so Michèle Wolter, soll in Zukunft fortlaufend erweitert und stets auf dem letzten Stand der Dinge gehalten werden. (roi)
Im krassen Widerspruch
Aus den Verwaltungsetagen kommen lediglich beschwichtigende Antworten. Das seien alles nur Einzelfälle, es gäbe wohl Probleme, die aber immer schnell einer Lösung zugeführt werden könnten, man könne es nicht immer jedem recht machen, man tue doch schon alles für das Wohl der Patienten. Und was die Personal-, Behandlungs- und Materialkosten – um nur diese zu nennen – angeht, seien der Direktion die Hände gebunden. „Wir müssen jedes Jahr zusehen, dass am Ende die schwarze Null dasteht.“
Somit sind wir beim ökonomischen Irrsinn im Gesundheitswesen angelangt. Krankenhäuser werden heute durchrationalisiert wie Industriebetriebe. Der Trend der Zeit geht dahin, Ökonomie, Verwaltung und Controlling einen höheren Stellenwert beizumessen als der ärztlichen und pflegerischen Tätigkeit. Resultat: Die Kranken geraten zunehmend zugunsten schwarzer Zahlen in den Hintergrund. „Nur wenn die Entscheidungsträger in dramatisch kurzer Zeit erkennen, dass man dem Gemeinwohl dienende Einrichtungen nicht primär auf ökonomischer Basis führen kann, gibt es noch eine Chance, aber nur eine hauchdünne …“, betont Dr. med. Christoph Schöttes, Chefarzt der Medizinischen Klinik, Klinikum Emden, im Deutschen Ärzteblatt.
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“ Eine bittere Pille: Das Leiden der Betroffenen und der ökonomische Irrsinn.“
Stimmt und daran stirbt so mancher Patient! Habe das miterleben müssen.
Privatunternehmen wollen eins:Geld verdienen. Aber es gibt Bereiche wo man die Finger davon lassen sollte.Sicherheit,Bildung und eben Gesundheit kosten viel Geld aber sie sollten für jeden zugänglich sein. Wir sind also tatsächlich soweit,dass Menschen sterben weil die Pharmaindustrie und die Subunternehmen nicht genug Gewinne machen. Bravo.