Ukraine / Eine Schule und die Weltpolitik: Schengen-Lyzeum organisiert Hilfstransport
Eine Idee, eine bestehende Partnerschaft, und eine multinationale Schule: Aufgerüttelt von den Nachrichten aus der Ukraine, ergreift das Deutsch-Luxemburgische Schengen-Lyzeum im Dreiländereck die Initiative und startet eine in seiner Geschichte einzigartige Hilfsaktion. Seit fünf Jahren besteht die Partnerschaft zwischen der binationalen Schule und der Henryka-Sienkiewicza-Schule im polnischen Lancut. Seit Freitag sind zwei Schwerlaster dorthin unterwegs, mit insgesamt rund 80 Tonnen Hilfsgütern.
Drei Tage einer Spendensammelaktion von Eltern, Lehrern, Schülern und Firmen aus dem Dreiländereck, eine proppenvolle Aula, mehrere Tage Verpacken und zwei Tage Beladen der beiden Lkws mit Freiwilligen, liegen hinter den Helfern in Perl (D). Immer noch sind alle überwältigt davon, wie reibungslos alles geklappt hat. Alle haben ergreifende Erlebnisse hinter sich. In dieser Woche steht irgendwann eine ältere Dame im Foyer der Schule, Geburtsjahr 1939.
Sie hätte nicht gedacht, dass sie so etwas noch einmal erlebt, sagt sie statt einer Begrüßung. Viel hat sie nicht, aber sie will 10 Euro spenden. „Kauft damit, was gebraucht wird“, sagt sie und geht. Der Biologie- und Geographielehrer des Schengen-Lyzeums, Matthias Vogels (38), erzählt diese Geschichte am Freitagmorgen im Rückblick. Da haben die beiden Schwertransporter mit jeweils 40 Tonnen Ladekapazität den Schulhof bereits verlassen.
Er war es, der die Idee hatte, die Kontakte zur polnischen Partnerschule zu nutzen, um gezielt zu helfen. Mit der Henryka-Sienkiewicza-Schule im polnischen Lancut, die nur rund 80 Kilometer von den nächsten Grenzübergängen in die Ukraine, Medyka und Korczowa, entfernt liegt, gibt es seit fünf Jahren eine Partnerschaft. Man kennt sich von regelmäßigen gegenseitigen Schülerbesuchen.
Polen ist oft die erste Anlaufstelle
Polen ist derzeit das Flüchtlings- und Transitland für Menschen aus der Ukraine. Viele kommen dort mit nicht mehr als das an, was sie anhaben und tragen können. Es sind vor allem Frauen mit Kindern, erfahren sie vom zuständigen Landrat in Polen, der eine Bedarfsliste ins Dreiländereck schickt. Ein Kollege aus der Lehrerschaft stammt aus Breslau (Polen) und übernimmt die Übersetzungsarbeit.
Es ist Leszek Kurowski (44), der an der Schule Sport unterrichtet. Der ehemalige polnische Volleyballprofi trainiert in Esch die Mädchenmannschaft. 57 Paletten mit Hygieneartikeln, Matratzen, Klappbetten, Thermodecken, Batterien und Taschenlampen, vor allem aber Hygiene- und Nahrungsmitteln, sind über den Spendenaufruf der Schulgemeinschaft zusammengekommen. Das entspricht ungefähr dem Volumen von zwei Schiffscontainern.
Bleiben werden die Flüchtlinge nicht in der polnischen 17.500-Einwohner-Stadt. Sie werden registriert und es gibt eine Auffangstation für ein paar Tage. „Die meisten Flüchtlinge wollen, wenn alles vorüber ist, wieder zurück“, sagt Kurowski. „Und viele reisen sowieso in andere Länder weiter.“ Sprachliche Barrieren zwischen Polen und Ukrainern gibt es wenige. „Die beiden Sprachen sind sehr ähnlich“, sagt Kurowski. „Und schon vor dem Krieg sind viele Ukrainer nach Polen ausgewandert, um dort zu arbeiten.“
Er und sein Kollege Vogels sind seit Samstag 4.00 Uhr mit einem Kleinbus unterwegs und wollen am Abend in Lancut eintreffen. Sie stellen nicht nur die persönliche Übergabe sicher, sondern haben noch eine eigene Mission, die die Schule „nebenbei“ gestartet hat. Teile der Spenden gehen an das Kinderheim im ukrainischen Derno, in dem zwischen 30 und 40 Waisenkinder permanent leben. 19 Kinder sind gerade in den letzten Tagen aus Kiew dort eingetroffen und wollen versorgt werden. Einreisen in die Ukraine dürfen die beiden Lehrer nicht.
Bereits viele Ukrainer im Land – nicht nur wegen des Krieges
Sie werden die Spenden an der Grenze an Freiwillige, die schon länger in dem Kinderheim helfen, übergeben. Nebenbei eröffnet diese beispiellose Hilfsaktion den Blick auf eine Arbeitsmigration, die schon vor dem Krieg eingesetzt hat und erklärt, warum viele Ukrainer zuerst den Weg nach Polen suchen. Es gibt viele Verbindungen zwischen beiden Ländern. In Polen lebt eine große Community von „Expats“. Die Daten für das akademische Jahr 2016/2017 zeigen, dass an polnischen Universitäten im Studienjahr 2020/21 rund 38.400 ukrainische Studenten eingeschrieben waren.
Das zeigt ein Bericht des Deutschen Polen-Instituts vom 24. Februar 2022, knapp einen Monat vor dem Einmarsch der russischen Truppen in der Ukraine. Hinzu kommt: In Polen fehlen Arbeitskräfte. Statistiken zeigen laut einem Bericht von onet.pl, dem größten polnischen Internetportal, dass im Februar 2022 in Polen 308.500 Ukrainer mit einer gültigen Aufenthaltsgenehmigung leben. Das Medium beruft sich auf Angaben des polnischen Ausländeramtes. Diese Zahl entspricht 57 Prozent der Gesamtzahl aller in Polen lebenden Ausländer, die in der Datenbank des Amtes erfasst sind.
Darin erfasst sind nicht die Ukrainer, die mittlerweile die polnische Staatsangehörigkeit haben. Schätzungen auf Basis dieser Daten gehen davon aus, dass 1,3 Millionen Ukrainer in Polen leben, wie das Online-Portal weiter berichtet. Unabhängig von den Flüchtlingen dürften es mehr werden, denn die Regierung hat mit Zustimmung der Opposition erst kürzlich die Regeln für eine Arbeitsaufnahme von Ausländern in Polen erheblich gelockert, wie das Institut weiter berichtet.
Dem stehen laut Eurostat über eine Million polnischer Staatsbürger gegenüber, die 2020 in einem anderen EU-Mitgliedsstaat gearbeitet haben. An den Reiseplänen der beiden Lehrer werden diese Tatsachen nichts ändern. Sie wollen am Montagabend wieder zurück in Perl sein. Dann dürften nicht nur die Spenden im Kinderheim angekommen, sondern auch die Lkws in Lancut ausgeladen sein.
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