Editorial / Eine Welt der Silhouetten: Le Pen, Keup und Capitani – das neue Gesicht des Rechtsextremismus?
Der europäische Rechtsruck geht weiter: Marine Le Pen steht näher als je zuvor vor einem möglichen Wahlsieg. Fred Keup und Tom Weidig veröffentlichen passend dazu ein Machwerk, welches das Sprichwort „Never judge a book by its cover“ ad absurdum führt – wer die politische Einstellung der Verfasser kennt und dieses Wissen geschickt mit dem Untertitel („Auflösungserscheinungen einer Nation“) kombiniert, braucht nicht das Orakel von Delphi zu sein, um zu wissen, was und wer in diesem Band angeprangert wird.
Unterdessen wird in Luxemburgs linken Kreisen zum großen Gegenschlag ausgeholt: Einen ganzen Monat nach ihrer Ausstrahlung veröffentlicht das kulturpolitische Kollektiv Richtung22 einen Beitrag über strukturellen Rassismus und Frauenfeindlichkeit in „Capitani“ – einer Serie, die den „rechtsextremen Diskurs“ favorisiere.
Die Argumentation des Kollektivs ist in großen Zügen durchaus legitim: Dass die Figur von Luc Capitani den White-Savior-Trope bedient, sprich der gefallene Polizist ausschließlich den einzigen halbwegs tiefgründigen schwarzen Figuren zur Hilfe eilt, und dass Elsa Leys Lust auf brutalen Sex wie eine billige Männerfantasie wirkt, da sie semantisch nicht legitimiert wird – darüber hat auch das Tageblatt vor einem Monat berichtet.
Schade an der detaillierten Argumentation von Richtung22 ist eben, dass sie keine Nuancen zulässt, die Serienmacher zu Strohmännern formt, somit schablonenhaft wirkt und damit angreifbar wird. Dass Schwarze und Frauen kaum Tiefgang und Hintergrund haben, stimmt bspw. sehr wohl – aber auch die männlichen Luxemburger Nebenfiguren scharen sich allesamt um Capitani und wirken dabei zweidimensional. Und dass luxemburgische Kriminelle wie Änder Jungs König der Nacht im Gegensatz zu den bösen schwarzen Kriminellen „sympathisch“ gezeichnet sind, ist definitiv Interpretationssache.
Dabei gilt manchmal zu sehr das Motto: Was nicht passt, wird passend gemacht, jeder Aspekt von Capitani wird integral in den ideologischen Interpretationsrahmen gezwängt. Oder, um es mit Albert Camus zu sagen: „La polémique consiste à considérer l’adversaire en ennemi, par le simplifier (…) et à refuser de le voir. (…) Devenus aux trois quarts aveugles par la grâce de la polémique, nous ne vivons plus parmi les hommes, mais dans un monde de silhouettes.“
Was mehr stört als die oft akkurate Argumentation von Richtung22, ist, dass im letzten Monat unter linksintellektuellen Denkern anscheinend niemand selbst auf die Idee kam, die zweite „Capitani“-Staffel nach der letztjährigen Polemik auf Rassismus zu prüfen. Dies zeugt von einer intellektuellen Trägheit, einer Denkfaulheit, die durch die mangelnde Hinterfragung der Richtung22-Argumentation noch verdeutlicht wird: Nur durch eine kritische Auseinandersetzung mit dem Beitrag kann eine reelle Debatte um Rassismus und Misogynie in Luxemburg entstehen.
Dies ist leider doch irgendwie stellvertretend für den europaweiten Untergang der Linken: Jeder rechnet in seiner Ecke mit mehr oder weniger konstruierten Feindbildern ab, streitet sich nuancenlos über Nuancen, wirft diesem oder jenem kulturelle Aneignung vor, anstatt dass miteinander geredet und grob an einem Strang gezogen würde. Im Falle Frankreichs hätte dies bedeutet, dass alle linken Kandidaten über ihren Schatten gesprungen wären und ihre Wähler dazu aufgefordert hätten, Mélenchon zu wählen. Wäre dies passiert, befänden wir uns jetzt nicht in einer Situation, die noch gefährlicher ist als vor fünf Jahren.
Vielleicht schaut sich Marine Le Pen ja irgendwann in ihrer Freizeit, zwischen zwei xenophoben präsidentiellen Entschlüssen, die zweite Saison von „Capitani“ auf Netflix an – und regt sich dann wahnsinnig darüber auf, dass der Bösewicht letztendlich ein weißer Polizist ist.
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Wow wat eng super Analys! Et ass der lénksintellektueller Faulheet ze verscholden, dass Capitani eng subterran schlecht Produktioun ass, déi mat rassistesch Tropes benotzt. An et ass och der Lénker hir Schold, dass Rietsextremer ëmmer méi Succès hunn? Huet sécher näischt domat ze dinn, dass Zentrismus a Liberalismus à la Macron eng Hannerdier zu Faschismus sinn an iwwert déi lescht Jorzéngten Islamophobie a rietst Denken legitimiséiert hunn, ne. An engem Punkt huet den Auteur Recht, déi Lénk hätt sech missen hannert de Mélenchon stellen.
Vielleicht ist das Problem der Linken auch ganz einfach dass sie Sozialleistungen auf Kosten der Mittelschicht einführen. Wie sagte ein Freund vor ein paar Tagen noch zu mir: Wenn das bedingungslose Grundeinkommen eingeführt wird, sind sie zufrieden, weil sie dann jedem 1000 Euro geben können und behaupten können, jeder sei doch bedient. P.S. ich will mich trotzdem nicht beklagen weil ich der Meinung bin, dass nur die Wohnungspreise unverschämt sind. Wenn man 50 % seines Gehalts für eine Etagenwohnung ausgeben muss, läuft etwas schief, zumindest für diejenigen die noch ihre Eltern (Babyboomer) kennen die mit Handwerkerberuf ein 2 Stockwerke Haus kaufen konnten.