„Ni una más“ auf Netflix / Einmaleins des Missbrauchs
The Kid’s Aren’t Alright: So könnte das Motto der neuen Netflix-Serie „Ni una más“ lauten – sie thematisiert sexualisierte Gewalt unter Jugendlichen und hält Erwachsenen den Spiegel vor.
„Die Protagonistin ist selber Schuld“, heißt es in einer Online-Kritik zu „Ni una más“ (Nicht eine mehr/Raising Voices). „Kann man das überhaupt eine Vergewaltigung nennen?“ Der anonyme Kommentar offenbart nicht nur die Notwendigkeit einer Serie über sexualisierte Gewalt – es sind auch Haltungen wie diese, gegen die sich die Frauen der spanischen Serie, basierend auf dem gleichnamigen Roman von Miguel Sáez Carral, zur Wehr setzen.
In acht Folgen durchleben die Jugendlichen Alma (Nicole Wallace), Berta (Teresa De Mera), Greta (Clara Galle) und Nata (Aïcha Villaverde) verschiedene Formen sexualisierter Gewalt. Hauptfigur ist die rebellische Alma, die in der Schule zunächst wegen schlechter Noten, später wegen ihres Protests gegen die Missbrauchskultur an ihrem Gymnasium auffällt. Bis dahin begleiten die Zuschauenden die vier Freundinnen durch den Schulalltag, in die Kifferecke, zu alkohol- und drogenreichen Partyabenden, bis ins Schlafzimmer. Die expliziten Sexszenen, die dort stattfinden, dürften einigen sauer aufstoßen – immerhin bilden die Schauspielenden Jugendliche ab. Die Möglichkeit, dass Erwachsene sich an diesen Passagen ergötzen, ist befremdlich, wenn nicht sogar problematisch, zumal die Serie den Missbrauch von Jugendlichen durch Erwachsene aufgreift.
Wo beginnt sexualisierte Gewalt?
Doch wenigstens dienen die Exzesse nicht der Effekthascherei, denn mit ihnen führt die Regie, bestehend aus Eduard Cortés, Marta Font und David Ulloa, einvernehmliche Sexualkontakte sowie Fallbeispiele sexualisierter Gewalt vor. Die ereignet sich in der Serie sowohl in romantischen als auch in freundschaftlichen Beziehungen; geht nicht immer mit körperlichen Verletzungen einher, sondern besteht manchmal aus dem Vertrauensbruch oder aus ungefragt verschickten Nacktfotos und Sexnachrichten – die Taten reichen dementsprechend von versuchter Vergewaltigung über Machtmissbrauch bis hin zu Cybermobbing. Die Regie arbeitet deutlich heraus, dass Konsens jedes Mal neu verhandelt werden muss: Weder ein kurzes Kleid noch ein aktives Sexleben oder gewaltvolle Fantasien sind ein Freifahrtschein – und Erwachsene tragen große Verantwortung in ihren Beziehungen zu Minderjährigen.
Die Reaktionen auf die sexualisierte Gewalt in der Serie sind ebenfalls kontrastreich: Während Almas Mutter als Feministin auftritt, übt Natas Mutter sich in Gehorsam und Genügsamkeit gegenüber achtlosen Männern. Werte, die beide Frauen ihren Töchtern weitervermitteln. Dies wirkt sich unmittelbar auf die Jugendlichen und ihren Umgang mit der erlebten Gewalt aus. Genauso wie das gängige Misstrauen gegenüber Menschen mit einer mentalen Erkrankung: Wer nimmt die Vergewaltigungsvorwürfe einer jungen Frau ernst, die sich bereits mehrfach in psychologischer und psychiatrischer Behandlung befand? Auch diese Frage verhandelt „Ni una más“.
Damit verfolgen die Köpfe hinter der Serie einen offensichtlich didaktischen Ansatz: Das Publikum schreibt in Gedanken mit, was für dramatische Konsequenzen sexualisierte Gewalt, aber auch der unüberlegte Umgang mit Betroffenen haben kann. Die Serie liefert glücklicherweise positive Gegenbeispiele: Eine der Freundinnen sucht Rat bei einer Anlaufstelle für Angehörige von Überlebenden sexualisierter Gewalt; einer der Täter geht zur Therapie, nachdem er das Ausmaß seiner Handlung begriffen hat. Trotzdem geht die durchaus notwendige (siehe Eingangszitat!) Lehrstunde in Kitsch über, etwa wenn sich die Schulmitglieder plötzlich geschlossen mit den betroffenen Mädchen solidarisch zeigen oder Alma sich als furchtlose Retterin für gefühlt jede Lebenslage entpuppt.
Nah an der Realität
An den Haaren herbeigezogen sind die Grundthemen der Serie jedoch nicht: 2023 schlug die spanische Justiz Alarm, nachdem die Sexualdelikte unter Minderjährigen zwischen 14 und 17 Jahren in nur einem Jahr um 14 Prozent gestiegen waren. Damit erreichte der Wert den Höchststand seit der Aufzeichnung der Delikte. Vor allem die Massenvergewaltigungen, teilweise von unter Vierzehnjährigen begangen, fallen auf. Die Betroffenen sind vorwiegend Mädchen und Frauen, die Täter meist Männer. Diese Verhältnisse behält die Serie bei.
Umso wichtiger scheint eine Serie wie „Ni una más“, besonders im Vergleich zu weichgespülten Jugendserien, in denen die Teenies um eine Verabredung beim Schulabschlussball oder um die Aufnahme in ein Sportteam bangen. Stattdessen erinnert „Ni una más“ eher an Serien wie „Everything now“: Dort dreht sich alles um die sechzehnjährige Mia Polanco (Sophie Wilde), die sowohl ihre Essstörung überwinden als auch die Meilensteine des Teenagerlebens erreichen will. Beide Formate warten mit einer rauen, offenen und angriffsbereiten Jugend auf, die versucht durch eine patriarchale Welt voller Sex und Drogen zu navigieren. Das macht die Serien schließlich auch für Erwachsene interessant, denn das Leid, das diese Jugendlichen erfahren, betrifft letztlich die ganze Gesellschaft.
Ni una más (Nicht eine mehr/Raising Voices), auf Netflix
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