50 Jahre Aktivismus / Enrica Pianaro: „Lesbische Frauen waren immer präsent“
Im Interview blickt die Soziologin Enrica Pianaro auf 50 Jahre lesbischen Aktivismus in Luxemburg zurück: Wann er begann, was daraus geworden ist – und wen es interessiert.
Tageblatt: Enrica Pianaro, warum beschäftigen Sie sich seit 2017 mit der Geschichte des lesbischen Aktivismus in Luxemburg?
Enrica Pianaro: Ein Auslöser dafür war der Sammelband „Mit den Haien streiten: Frauen und Gender in Luxemburg seit 1940“ (2018): Es war angedacht, einen Beitrag zu Lesben im „Mouvement de libération des femmes“ (MLF) zu veröffentlichen, in Zusammenarbeit mit den entsprechenden Frauen. 1982 gründeten sie die Arbeitsgruppe „Info-Lesbiennes“. Der Text drohte nicht zu erscheinen: Zu vielen der Frauen bestand kein Kontakt mehr; die wenigen Lesben, die angesprochen wurde, fühlten sich nicht in der Lage, den Text zu schreiben. Das hat mich motiviert, selbst zum Thema zu forschen. Daraus ging der Essay „D’L-Wuert: Capture d’écran de vies lesbiennes et queer au Luxembourg“ hervor, der in besagtem Sammelband erschienen ist.
Worin besteht Ihre Recherche?
Einerseits durchforste ich das mir zugängliche Archivmaterial der Organisationen und Gruppen, andererseits führe ich seit 2023 Interviews mit ehemaligen und heute engagierten Aktivist*innen. Die Polizei-, Justiz-, Regierungs- oder Zeitungsarchive lasse ich zurzeit außen vor. Ich führe dieses Projekt allein, ohne Fördermittel, durch und forsche zu einem halben Jahrhundert Lesbengeschichte – ich muss Schwerpunkte setzen.
Wie kommen Sie voran?
Als ich meine Recherche 2017 aufnahm, hätte ich behauptet: „Es gibt kein Material zu lesbischem Aktivismus in Luxemburg.“ Das würde ich heute, sieben Jahre später, nicht mehr unterschreiben. Lesbische Frauen waren immer schon präsent und sind es heute noch. Die Frage ist eher, wo man nach ihnen sucht: Nicht alle waren und sind in feministischen, queeren Kreisen aktiv. Viele engagierten sich stattdessen im Klimaschutz, der Anti-Atomkraft-Bewegung oder in Gewerkschaften, wie das auch heute noch der Fall ist.
Wann ist die Geburtsstunde des lesbischen Aktivismus in Luxemburg?
Lesbische und nicht heterosexuelle Frauen sind mindestens seit den 1970er-Jahren in politischen Bewegungen aktiv; vermutlich sogar schon früher. In den 70ern gingen die Frauen gemeinsam auf die Straße, um gegen das Patriarchat zu protestieren und ihre Grundrechte einzufordern. Dominierten verheiratete, heterosexuelle Frauen und ihre Forderungen die Bewegung, schlossen sich Lesben zu Arbeitsgruppen zusammen. Das ist es, was mich interessiert: die Bündnisse nicht-heterosexueller Frauen, die sich innerhalb aktivistischer Bewegungen wie dem MLF oder später in LGBTQIA+-Organisationen wie „Rosa Lëtzebuerg“ formierten.
Was für Gruppen richteten sich damals an besagte Frauen?
Es gab die bereits erwähnte Arbeitsgruppe „Info Lesbiennes“ des MLF. Die Aktivitäten wurden Ende der 1980er-Jahre eingestellt, als sich der MLF als Bewegung auflöste. Das feministische Zentrum „CID Fraen an Gender“ übernahm 1992 ihr Erbe. Mitglieder von „Info Lesbiennes“ stießen später womöglich – hierzu gibt es wenige Informationen – zu der lesbischen Organisation „Rosa Lila“, die 1994 gegründet und bis 2004 unter dem Namen aktiv war. Daraus wurde die ASBL „Rainbow Girls“ (2004-2007). Sowohl „Rosa Lila“ als auch die „Rainbow Girls“ richteten sich explizit an nicht heterosexuelle Frauen. Anders als die „IGHL – Initativgrupp Homosexualitéit Lëtzebuerg“ (1981 bis ca. 1992): Erst 1986 wurde innerhalb des Vereins eine lesbische Arbeitsgruppe gegründet. Generell gibt es allerdings nur sehr wenige Quellen über die IGHL.
Wie gut ist das Archivmaterial erhalten?
Das von „Rosa Lëtzebuerg“ wird im „Rainbow Center“ aufbewahrt, das vom MLF im „CID Fraen an Gender“. Die Dokumente von „Rosa Lila“ befinden sich momentan in meiner Wohnung und sind unvollständig. Dort bin ich vor allem auf Einzelpersonen angewiesen, die mir privates Material bereitstellen. Vieles ging in den letzten Jahren verloren. Ich arbeite unter Zeitdruck: Die noch vorhandenen Quellen könnten jederzeit verschwinden. Die Zeitzeug*innen altern, wollen sich teilweise nicht mehr mit ihrem damaligen Engagement auseinandersetzen oder erinnern sich nur vage an diese Zeit zurück. In dem Kontext drängt sich die Frage auf, warum nicht viel früher zu diesem Thema geforscht wurde.
Wie interpretieren Sie das Desinteresse?
Wenn eine Recherche die Minderheiten einer marginalisierten Personengruppe betrifft, interessiert es die wenigsten Forscher*innen. Die Argumente sind immer dieselben: „Das ist irrelevant für die Gesellschaft“, „Es fehlt an Material“, „Das ist nicht wissenschaftlich genug“. Trotzdem gibt es Lichtblicke: Das Escher „Musée national de la résistance et des droits humains“ beschäftigt sich in seiner Sonderausstellung „Victimes oubliées“ unter anderem mit der Verfolgung homosexueller Männer durch die Nazis und unterstützt mit seinem Rahmenprogramm Forscher*innen in diesem Bereich. Große Forschungsinstitute, die die Wissenschaftler*innen finanziell unterstützen könnten, zeigen hingegen kein Interesse an LGBTQIA+-Themen.
Sind Gender und Queer Studies in Gefahr?
Angesichts des weltweiten Rechtsrucks und der Queerfeindlichkeit dieser Bewegungen – ja. In Ungarn kam es unter der rechtskonservativen Regierung bereits 2018 zur Aufhebung von Gender Studies an den Universitäten, genauso wie an verschiedenen Universitäten in den USA. Die Entscheidungsträger*innen sind meist Männer, während es sich bei den Forschenden vorwiegend um Frauen und queere Menschen handelt. Ihnen fehlt es jetzt schon an finanziellen Mitteln und akademischer Anerkennung. Ihre prekäre Situation droht sich also zu verschärfen.
LBT+-Frauen waren von Anfang an in queer-feministischen Bewegungen und in der Entstehung der Luxembourg Pride involviert, auch wenn das in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten ist. Ohne ihr Engagement sähen die Pride und die LGBTQIA+-Szene in Luxemburg heute anders aus.Soziologin und Mitbegründerin des „Laboratoire d’études queer, sur le genre et les féminismes“
Braucht es noch Lesbengruppen?
Politischer Aktivismus entsteht im Austausch. Dafür braucht es Begegnungsorte. Das offenbaren unter anderem die „L-Mums“ (2022), eine Gruppe lesbischer Mütter im „Centre LGBTIQ Cigale“. Auch für die Freizeitgestaltung sind solche Orte relevant: Gäbe es in Luxemburg eine Lesbenbar, wäre sie bestimmt gut besucht – es braucht Räume, in denen Frauen gemeinsam feiern, sich kennenlernen, sich treffen können. Ihre Frage ist dennoch berechtigt, denn nichtbinäre Personen identifizieren sich teilweise nicht mit lesbischen oder feministischen Bewegungen. Die EuroCentralAsian Lesbian* Community vereint hingegen erfolgreich lesbische, bisexuelle, nichtbinäre sowie Trans*-Personen: Die Organisation ist meiner Meinung nach Vorreiterin in der Angelegenheit und macht lesbische Forderungen zugänglicher.
Welche luxemburgischen Bündnisse von früher sind noch aktiv?
Keine mehr. Dafür haben sich im Laufe der Jahrzehnte neue Organisationen, Arbeitsgruppen und Bewegungen entwickelt, in denen nicht-heterosexuelle Frauen vertreten sind. 1996 entstand „Rosa Lëtzebuerg“, wo die Frauen innerhalb der Organisation 2010 zusammenkamen und bis heute die Gruppe „Pink Ladies“ bilden. Seit 2002 gibt es das bereits erwähnte Cigale, früher bekannt unter dem Namen „Centre d’information gay et lesbien“; „Transgender Luxembourg“ entstand 2009 als Arbeitsgruppe von „Rosa Lëtzebuerg“ und wurde 2013 zur eigenständigen ASBL „Intersex & Transgender Luxembourg“. 2014 entstand die Plattform „xxyz Luxembourg“; 2017 wurde aus dem queer-feministischen Filmklub „Queer Loox“ eine ASBL. 2018 lancierte das Theaterkollektiv „Independent Little Lies“ das Kulturfestival „Queer Little Lies“, 2020 wurde die „LGBT+ Students’ Association“ (heute „Prizma – Uni.lu LGBT+ Students’ Association, Anm. d. Red.) an der Universität Luxemburg gegründet.
Warum haben die anderen sich aufgelöst?
Oft ging die Auflösung einer Gruppe mit der Entstehung einer neuen Organisation einher, weil sich die Mitglieder in bestehenden Bündnissen nicht mehr wiederfanden – sei es aufgrund der Tätigkeiten oder der aktivistischen Ausrichtung.
Und wie relevant sind LBT+-Frauen, also lesbische, bisexuelle und Trans*-Frauen, für die LGBTQIA+-Communities in Luxemburg?
LBT+-Frauen waren von Anfang an in queer-feministischen Bewegungen und in der Entstehung der Luxembourg Pride involviert, auch wenn das in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten ist. Ohne ihr Engagement sähen die Pride und die LGBTQIA+-Szene in Luxemburg heute anders aus.
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