Holocaust-Gedenktag / Erinnerungsarbeit und die neuen Formen des Antisemitismus
Nicht zuletzt durch Gaza-Krieg und Rechtspopulismus hat der Antisemitismus wieder zugenommen. Umso wichtiger sind internationale Gedenktage wie der heutige an die Opfer des Holocaust und an die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau.
Musik kann vieles. Nicht zuletzt kann sie den Menschen ungeahnte Kräfte verleihen, um vor dem Schrecklichsten zu bestehen. So hat sie auch jüdischen Menschen in den Zeiten der Verfolgung und des Massenmords durch die Nationalsozialisten geholfen und sie begleitet. „Bevor ich von dieser Welt gehe, will ich Euch, meinen Liebsten, einige Zeilen hinterlassen. Wenn Euch einmal dieses Schreiben erreichen wird, bin ich und sind wir alle nicht mehr da – unser Ende naht. (…) Es ist schauderhaft, aber wahr. Leider gibt es für uns keinen Ausweg, diesem grauenhaften, fürchterlichen Tode zu entrinnen.“
Die jüdische Pianistin Salomea Ochs-Luft hat dies kurz vor ihrer Deportation an ihre Familie in das damalige Palästina, dem heutigen Israel, geschrieben. Sie wusste, dass sie den Nazis nicht mehr entkommen konnte. Als sie den Brief schrieb, lebte sie im Ghetto von Tarnapol im Westen der heutigen Ukraine. Sie hatte bereits die Ermordung ihrer Mutter, ihres Ehemannes und anderer Familienmitglieder erlebt. Nun erwartete sie ihr eigenes Ende. Wie Salomea wurden auch andere jüdische Musiker ihres Lebens beraubt. Das von dem Musiker Nur Ben Shalom gegründete Projekt „Lebensmelodien“ hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Werke und Geschichten dieser Menschen zum Leben zu erwecken.
Es ist eine Form der Erinnerung an die Schoah, den Holocaust, den Genozid an den Juden – ein besonderer Aspekt, der vor allem in einer Zeit an Bedeutung gewinnt, in der immer weniger Holocaust-Überlebende als Zeitzeugen berichten können. Das „Lebensmelodien“-Projekt von Nur Ben Shalom und anderen Musikern hat die musikalischen Erinnerungsstücke, entstanden in den Jahren 1933 bis 1945, am vergangenen Dienstag anlässlich des Holocaust-Gedenktages am 27. Januar, an dem an den Völkermord der Nazis erinnert wird, im ehemaligen Arbed-Gebäude am „Rousegäertchen“ vorgetragen. Ihre Melodien wurden unterbrochen von den Geschichten und Schicksalen einzelner Personen, vorgetragen von der österreichischen Schauspielerin Isabel Karajan, Tochter von Herbert von Karajan. Die „Konzert-Lesung“ war von der Vereinigung „MemoShoah“ organisiert worden.
Musikalische Erinnerungsarbeit
Die Melodien sind manchmal so traurig wie die individuellen Lebensgeschichten, manchmal sind sie voller Lebensfreude. Es ist ein besonders intensives Konzert. Als Zuhörer glaubt man, die Verzweiflung der Verfolgten zu spüren, ihre Hoffnung und Würde, ebenso die Kraft der Musik. Die Darbietung ist mehr als ein Konzert, es ist eine Evokation des Erinnerten. Auch Henri Juda, am selben Abend im Publikum, weckt Erinnerungen mit seinen Vorträgen, die er unter anderem vor Schulklassen hält. Der 1947 geborene Luxemburger, Gründer von MemoShoah und mit dem Verdienstorden des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier ausgezeichnet, gehört zu den Zeitzeugen der zweiten Generation.
Henri Juda erzählt die bewegende Geschichte seiner Familie. Seine Mutter kam in Völklingen zur Welt und überlebte die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück. Seine beiden Großmütter wurden von den Nazis ermordet. Mit dem Gedenken verbindet er den „historischen Auftrag“, dazu beizutragen, „dass die gesellschaftlichen Mechanismen, die zum Holocaust führten, vermittelt und verstanden werden sollen, damit sich so eine Katastrophe nie mehr wiederholen darf“. Nach den Vorträgen und in den Begegnungen mit den Schülern erwarte er Fragen und eine Diskussion. „Wenn die nicht kommen, habe ich den Eindruck, dass sie verhindert werden“, sagt Henri Juda. „Ich weiß, dass es schreckliche Geschichten sind, die ich aus dem Zweiten Weltkrieg erzähle. Aber die Lehrer bereiten die Schüler auf das Thema vor.“
Bislang spielen noch die lebenden Zeitzeugen eine herausragende Rolle, es sind die Zeitzeugen der ersten Generation. Sie bieten zwar nur eine von vielen Möglichkeiten der Erinnerung, aber als Mahner und moralische Instanz sind sie von besonderer Bedeutung. Weltweit gibt es nach aktuellen Angaben der Jewish Claims Conference noch etwa 245.000 Holocaust-Überlebende in mehr als 90 Ländern der Welt, die meisten von ihnen leben in Israel (fast die Hälfte) oder den USA. In Europa sind die meisten in Frankreich zu finden.
Doch immer weniger Überlebende der NS-Schreckensherrschaft können von ihrer eigenen Erfahrung erzählen. Diese Woche verstarb zum Beispiel die 102-jährige Zeitzeugin Rachel Wolf. Was bleibt, sind Gedenkstätten, Stolpersteine und die Mahnmale, schriftliche oder gar literarische Zeugnisse und Videointerviews. Eine Wanderausstellung mit dem Titel „Ende der Zeitzeugenschaft?“, zurzeit in Regensburg, hat sich des Themas angenommen und regt zur Reflexion über den Umgang mit dem Vermächtnis an.
Wissenschaftliche Aufarbeitung
Eine andere Form der Erinnerungsarbeit ist die wissenschaftliche Forschung. Während es auf internationaler Ebene eine Fülle an Auseinandersetzungen längst gibt, hat es hierzulande lange Zeit daran gefehlt. Der Journalist und Historiker Paul Cerf („L’étoile juive au Luxembourg“, 1986) etwa setzte sich intensiv mit dem Thema des Antisemitismus auseinander, danach unter anderem der Historiker Vincent Artuso mit seinem Bericht über die Judenverfolgung in Luxemburg („La question juive au Luxembourg 1933-1941“, 2015) sowie Mil Lorang („Luxemburg im Schatten der Shoah“, 2019) und Renée Wagener („Emanzipation und Antisemitismus“, 2022).
Die Quellen zeigen, dass schon Mitte des 19. Jahrhunderts antisemitische Stereotype in Luxemburg präsent warenHistorikerin
Beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 10. Mai 1940 belief sich die Zahl der Juden im Großherzogtum auf etwa 3.900. Im Mai 1940 wurden mehr als 1.500 nach Frankreich evakuiert oder konnten dorthin fliehen. Im September 1940 wurden die Juden in Luxemburg aufgefordert, das Land zu verlassen. Mitte Oktober stoppten die Nazis die Auswanderung und begannen, die noch Verbliebenen in Konzentrations- und Vernichtungslager zu deportieren. Das gleiche Schicksal ereilte auch viele von jenen, die nach Frankreich und Belgien geflüchtet waren. Insgesamt fielen laut MemoShoah 1.250 Menschen aus Luxemburg der Judenverfolgung zum Opfer und kamen auf grausame Weise ums Leben.
Vor allem die Historikerin Renée Wagener hat sich in ihrem ausführlichen, oben genannten Buch den Antisemitismus in Luxemburg untersucht. „Die Quellen zeigen, dass schon Mitte des 19. Jahrhunderts antisemitische Stereotype in Luxemburg präsent waren“, so Wagener. Die Emanzipation der Juden sei stets auch von „Exklusionstendenzen“ begleitet gewesen. Nach der formalen Emanzipation hätte es vor allem von katholischer Seite judenfeindliche Verunglimpfungen gegeben. Das umfangreichste Kapitel in Wageners Buch behandelt die Zeit von 1933 bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs. In den 1930er Jahren war zunehmend Angst vor Überfremdung geschürt worden, was sich insbesondere gegen die jüdischen Flüchtlinge richtete, die vor dem NS-Regime nach Luxemburg geflohen waren.
„Ein traurig aktuelles Thema“
„Der Antisemitismus war Bestandteil autoritärer Tendenzen“, konstatiert Renée Wagener. Von offizieller Seite konnte sich die jüdische Gemeinschaft keine Hilfe erwarten. Der Großrabbiner Robert Serebrenik stellte 1933 fest, dass „das herrliche Zeitalter des Liberalismus nun einmal vorbei ist“ und: „Alle Assimilation hat uns keine Verwurzelung gebracht.“ Die Bereitschaft der Luxemburger, Juden zu helfen, sei eher gering gewesen, merkt Renée Wagener an. Aus einem vor allem religiös geprägten, von katholischer Seite ausgehenden Antisemitismus war in rechten Gruppierungen ein völkisch-rassistischer Antisemitismus geworden. Allerdings hatte schon Ersterer das „ideologische Basismaterial“ zur Herausbildung des „modernen“ Antisemitismus geliefert. Nach dem Krieg war dieser auch in linken Milieus festzustellen, schreibt Wagener. Dies gelte bis heute. „Ein traurig aktuelles Thema“, so die Autorin.
Den Antisemitismus gibt es bis heute. Er hat sich in den vergangenen Jahren verstärkt und hat neue Formen und Facetten angenommen. Die deutsche, auf das Thema spezialisierte Historikerin Juliane Wetzel betrachtet ihn nach wie vor als ein zentrales Merkmal des Rechtsextremismus, auch wenn einige Rechte sich als pro-israelisch und anti-muslimisch bekennen. Henri Juda bemerkt: „Manche sind regelrecht begeistert vom israelischen Staat und seiner Regierung.“ Letztere kann heutzutage vor allem als rechtsradikal bezeichnet werden. Nach wie vor ist der Antisemitismus vorwiegend unter Rechtsextremisten zu finden. Eine besonders extreme Form in dieser Hinsicht ist die Holocaust-Leugnung. Der christlich-religiöse Antisemitismus hingegen spielt fast keine Rolle mehr, wissen sowohl Henri Juda als auch Juliane Wetzel. Andere Formen des Antisemitismus sind hinzugekommen. „Chamäleongleich haben sich die Stereotypen den jeweiligen Zeitläuften angepasst“, weiß die Historikerin, „und können sich in ihrer extremsten Ausformung zu einer Weltanschauung fügen, in der Juden eine ideologisierte Sündenbockfunktion übernehmen.“ Statt eines christlichen Antisemitismus gibt es heute einen islamischen Antisemitismus, der neben dem spezifisch israelbezogenen Antisemitismus (Antizionismus) dominiert. Diese beiden Formen der Judenfeindschaft seien erst nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, so Juliane Wetzel. Die unterstellte Symbiose von Juden und Geld vermische sich „nicht selten mit der Unterstellung, die Juden würden Regierungen unter Druck setzen“.
Israelbezogener Antisemitismus
Juliane Wetzel verweist zudem auf den linken Antisemitismus in Bezug auf den Nahostkonflikt, wenn es zum Beispiel heiße, Israel führe einen „Vernichtungskrieg gegen die Palästinenser“. Was der Staat Israel heute mit den Palästinensern mache, sei im Prinzip nichts anders als das, was die Nazis mit den Juden gemacht hätten, ist zudem eine häufig genannte Aussage. Seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober des vergangenen Jahres haben sich Fake News und antiisraelische Feindbilder weltweit verbreitet, die an bestehende Feindbilder anknüpfen und im Kern antisemitisch sind. Obwohl Israel nach dem Hamas-Massaker laut Artikel 51 der UN-Charta wie jedes andere Land das Recht auf Selbstverteidigung hat, wird behauptet, dass der Hamas-Terror inszeniert gewesen sei, damit Israel einen Genozid in Gaza begehen könne, ist eine am meisten verbreitete Desinformation und ein abstruser Verschwörungsmythos: Seither haben antisemitische Kommentare in den sozialen Netzwerken zugenommen. Das Narrativ von Israelis als „Kindermörder“ knüpft an alte antijüdische Stereotype und Ritualmordlegende aus dem Mittelalter. Dabei zielt der israelbezogene Antisemitismus vor allem auf die Aberkennung des Existenzrechts des Staates Israel, setzt absurderweise Israel mit dem Nationalsozialismus gleich und macht Juden aus aller Welt für das Handeln der Regierung von Benjamin Netanjahu verantwortlich.
An der Bezeichnung ,Judd mat Gaardebounen‘ nahm lange Zeit niemand Anstoß. Es war sogar schlimm, diese Tradition infrage zu stellen. So wurden immer mal wieder antisemitische Sprüche geklopft, ohne dass darüber nachgedacht wurde.Gründer von MemoShoah
Zu nennen ist außerdem die internationale Kampagne „Boycott, Divestment and Sanctions“ (BDS), die den Staat Israel ökonomisch, kulturell und politisch isolieren will, wie es einst gegen den Apartheid-Staat praktiziert wurde. In diesem Zusammenhang ist häufig ein Apartheid-Vorwurf gegenüber Israel zu hören, nicht selten und in Verbindung damit, dass Israel als Kolonialstaat bezeichnet wird. Selbst renommierte Wissenschaftler wie der Kameruner Historiker, Politikwissenschaftler und BDS-Unterstützer Achille Mbembe („Kritik der schwarzen Vernunft“) hat die israelische Innenpolitik mit dem südafrikanischen Apartheidsystem verglichen. Ins antikolonialistische Horn bläst auch die ANC-Regierung Südafrikas, wenn sie Israel wegen des Gaza-Krieges gern auf der Anklagebank sehen würde.
„Tiefenwirkung“ des Antisemitismus
Auch in Luxemburg erzielte der Antisemitismus bis heute seine „Tiefenwirkung“, wie es Henri Juda nennt. Beim Viandener „Miertchen“ etwa war es lange Zeit noch üblich zu singen: „Ho, ho, ho. Der Judd, der lag im Stroh. Das Stroh fing an zu brennen. Der Judd fing an zu rennen. Ho, ho, ho.“ Bis 2013 eine Diskussion über den antisemitischen Hintergrund des Reims entbrannte. Obwohl man sich in Vianden damit schwertat, dies zu erkennen, wurde der Vers schließlich gestrichen. Henri Juda nennt ein anderes Beispiel: „An der Bezeichnung ‚Judd mat Gaardebounen‘ nahm lange Zeit niemand Anstoß. Es war sogar schlimm, diese Tradition infrage zu stellen. So wurden immer mal wieder antisemitische Sprüche geklopft, ohne dass darüber nachgedacht wurde.“
Die Erinnerungsarbeit in Luxemburg wurde im vergangenen Jahrzehnt verstärkt. Im Juni 2018 wurde das Denk- und Mahnmal zur Erinnerung an die Opfer der Shoah am hauptstädtischen Boulevard Roosevelt eingeweiht, eine Skulptur des Künstlers Shelomo Selinger. Darüber hinaus wurden Stolpersteine zum Gedenken an die Naziopfer angebracht. Zudem entsteht seit 2022 in Fünfbrunnen, dem ehemaligen Kloster, wo die deutschen Besatzer von 1941 bis 1943 Juden internierten, um sie anschließend zu deportieren, ein Gedenk- und Bildungszentrum. Und am 26. September des vergangenen Jahres stellte der damalige Premierminister Xavier Bettel den nationalen Aktionsplan zur Bekämpfung des Antisemitismus (PANAS) vor, der zum Ziel hat, das Phänomen des Antisemitismus zu erforschen, darüber aufzuklären und zu bekämpfen, ebenso Hassreden und Hassverbrechen besser zu bekämpfen – sowie eine verstärkte Sicherheit für jüdische Einrichtungen.
Aktuelle Meldungen besagen, dass es seit dem Hamas-Massaker am 7. Oktober nach Angaben des Beauftragten der Bundesregierung für den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein, unter Berufung auf das Bundeskriminalamt in Deutschland 2.249 antisemitisch motivierte Straftaten gegeben hat. Im gesamten Vorjahr waren es 2.300 gewesen. Wie der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, erklärte, würden sich viele Juden aus Angst nicht mehr in der Öffentlichkeit als solche zu erkennen geben. Ähnliche Entwicklungen sind übrigens aus Belgien und Frankreich, aber auch anderen europäischen Ländern zu vernehmen. Und in Luxemburg? Hierzulande wurden in den ersten neun Monaten des vergangenen Jahres 35 antisemitische Vorfälle registriert, wie die Vereinigung „Recherche et information sur l’Antisémitisme au Luxembourg“ (RIAL) vermeldete. Die Erinnerungsarbeit ist notwendiger denn je. Auf unterschiedliche Weise, ob mithilfe von Zeitzeugen, solange dies möglich ist, oder mit den Mitteln der Wissenschaft, der Politik, der Literatur, der bildenden Kunst oder der Musik.
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Ab 1933 hat das unfehlbare päpstliche „Luxemburger Wort“ die rassenhygienische Tatortpolitik des Nationalsozialismus befürwortet. Diese Politik bestand aus drei Säulen: Juden, „Zigeuner“ und „Erbkranke“ waren für die Gesundheit des „Arischen Volkskörpers“ gefährlich und mussten wie Unkraut „behandelt“ werden. Für diese „Unkrautmentalität“ gab es keine Stunde Null.
MfG
Robert Hottua
Hier wird wieder munter alles vermischt und die zu recht kritische haltung der BDS bewegung oder der regierung Suedafrikas gegenueber dem staat Israel auf primitive weise als antisemitismus diffamiert.
Suedafrika weiss sicher gut was apartheid bedeutet und kann es auch anderswo erkennen.