Max Ophüls / Eröffnung: Liebeserklärung an den Planeten mit dem Film „Everything will change“
Furios und zugleich überaus politisch ist die 43. Ausgabe des Festivals gestartet. Der Eröffnungsfilm „Everything will change“ ist ein fesselnder Appell zu handeln. Die Artenvielfalt ist in Gefahr. Drei Jugendliche im Jahr 2054 machen es vor. Sie stoßen auf das Bild einer Giraffe und wissen nicht, was das ist. Die Tiere sind ausgestorben. Warum? Auf ihrer Reise in die Vergangenheit landen sie im Heute, in der Zeit vor dem großen Artensterben.
Wir schreiben das Jahr 2054. Umgeben von einer permanent nach Aufmerksamkeit kreischenden Bilderflut leben drei Jugendliche zwischen implantierter künstlicher Intelligenz und Virtual Reality. Wälder, Wiesen oder Vogelgezwitscher kennen sie nicht. Ihre leblose Außenwelt verdient den Namen „Post-Wildnis“ und Greta Tunberg feiert ihren 50. Geburtstag.
Wahrheit ist zu einem trügerischen Begriff verkommen und Vertrauen in Fotos existiert schon lange nicht mehr. Es ist an der Tagesordnung, alles auf „Fake“ zu checken. Ausnahmen gibt es. Schallplatten zum Beispiel, die der virtuellen Welt haptisch etwas entgegensetzen. Ben (Noah Saavedra) sammelt sie. Als eine neue Lieferung in seinem Stammladen eintrifft, entdeckt er ein lang gesuchtes Lieblingsalbum.
Ein Foto fällt aus dem Cover, das eine Giraffe zeigt. Mit Hilfe des Ladenbesitzers, einem älteren Semester, der noch andere Zeiten kennt, stellt sich heraus: Dies ist kein „Fake“. Die Tiere gab es wirklich. Er ist es auch, der Ben, seinen Freund Fini und die später dazustoßende Cherry mit einer Schatzkarte auf eine Reise in die Vergangenheit schickt – in ein Jahrzehnt, in dem noch Zeit zum Handeln ist.
Unterwegs stoßen sie auf einen einsam gelegenen Bunker. Er beherbergt die „Arche“. Sie ist mit präparierten Tier-Embryonen, Skeletten und Wissenschaftlern ein Ort des Bewahrens, wie man es aus heutigen, naturkundlichen Museen kennt. Und sie beherbergt ein digitales Archiv. Darin stöbernd landen die Jugendlichen in der heutigen Realität. Sie stoßen auf die aktuell nicht abebben wollenden Warnungen der Vereinten Nationen (UN) und der Wissenschaft vor dem Artensterben.
2019: Besorgniserregender Bericht
2019 schätzen die Experten, dass in den nächsten Jahrzehnten rund eine Million Tierarten aussterben, wenn nichts geschieht. Überfischung der Meere, Zerstörung von Lebensräumen, Umweltverschmutzung und der Klimawandel sind die Ursachen. Ben und Fini lernen einen Donald Trump kennen, der ankündigt, aus dem Pariser Klimaabkommen auszusteigen und dies später tut. Und sie lesen vom letzten Orang-Utan, der stirbt und damit die Existenz seiner Art beendet.
Das Ergebnis ist die Welt, in der sie leben. Den Blick in die Zukunft verstärken neu entwickelte Filter aus den USA, die Kameramann Felix Leiberg einsetzt, um den apokalyptischen Eindruck zu verstärken. Beim Dreh verwandeln sie alles Grün in Rot, was die Aufheizung der Erde unterstreicht und der Debatte um 1,5 oder zwei Grad ungeahnte Dringlichkeit verleiht.
Cary Fowler, Landwirt, Forscher, Autor und Aktivist für die Rettung von Pflanzensamen wird später im Film sagen, dass kein Parasit seinen Wirt tötet. Er braucht ihn zum Überleben. In seinen Augen ist der Mensch ein Parasit der Natur und die zerstört er gerade. Das ist nur einer der zehn Wissenschaftler, die in Echtzeit-Einspielungen im Film zu Wort kommen.
Regisseur Marten Persiel hat ein internationales Wissenschaftsteam an Bord geholt, das den dokumentarischen Teil von „Everything will Change“ bestreitet. Es reicht von vielfach für ihr Engagement ausgezeichneten Evolutionsbiologen über Tropenökologen, Klimaforschern und Meeresbiologen bis zu Literaturwissenschaftlern und Filmemachern. Geschickt bindet er sie in die Mischung von Natur-, Spiel- und Dokumentarfilmelementen ein, die immer wieder überrascht.
Mix aus Science-Fiction, Dokumentation und Naturfilm
Das Wagnis, mit Rück- und Ausblicken in Retro- und Science-Fiction-Optik eine Aussage über das Heute zu machen, gelingt, weil es berührt. Das ist die Botschaft des Films. Es ist jetzt an den Menschen zu handeln – vor allem, was die Artenvielfalt angeht. Sympathisch ist, dass der Film dafür Ideen aufzeigt und den Zuschauer nicht nur im Katastrophenmodus zurücklässt. „Everything will change“ kommt im Mai in die deutschen Kinos.
Geht es nach seinem Erfinder, sollte die Produktion auch außerhalb der Kinos gezeigt werden. Das sagt der Regisseur im Filmgespräch. Irgendwie wünscht man das dieser kuriosen und skurril anmutenden Produktion, die in vielem aus dem Rahmen fällt. Sie ist ein guter Anfang, der Artenvielfalt den Raum zu geben, der ihr gebührt, und den Zuschauer aus der Komfortzone herauszuholen – hoffentlich nicht nur für 92 Minuten vor der großen Leinwand. „Everything will change“ läuft im Wettbewerb Spielfilm.
Luxemburg und Artenvielfalt
Artenvielfalt und ihre Bedrohung ist ein Thema, das über Corona in den Hintergrund gerückt ist. Im Mai 2019 veröffentlicht die UN-Organisation „Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services“ (IPBES) eine Studie zum Zustand der Welt. Daraus wird im Film zitiert. Demnach drohen in den nächsten Jahrzehnten bis zu einer Million Tier- und Pflanzenarten für immer von unserem Planeten zu verschwinden. „Die Natur geht global in einem Tempo zurück, das in der Menschheitsgeschichte beispiellos ist – und die Rate des Artensterbens beschleunigt sich und verursacht bereits jetzt schwerwiegende Auswirkungen auf die menschlichen Bevölkerungen in aller Welt“, heißt es wortwörtlich in dem Papier. Dafür haben rund 150 führende Wissenschaftler aus 50 Staaten drei Jahre lang nahezu 15.000 Studien ausgewertet, heißt es auf der Webseite. Das ist auch in Luxemburg angekommen. In einer Broschüre veröffentlichen Umweltorganisationen wie die Vereinigung der Luxemburger Biologen (ABIOL), „Mouvement écologique“, „Musée national d’histoire naturelle“ (MNHN), „natur&ëmwelt“ und die Naturforschende Gesellschaft Luxemburgs Ergebnisse für das Land. Von den 1.323 Gefäßpflanzenarten Luxemburgs sind 101 Arten bereits ausgestorben und 439 weitere Arten sind entweder gefährdet oder sehr selten, heißt es darin. Von den 143 Brutvögeln in Luxemburg sind 13 Arten bereits ausgestorben und weitere 24 Arten vom Aussterben bedroht oder gefährdet. Dies entspricht rund einem Viertel aller Brutvogelarten in Luxemburg, die vorwiegend auf strukturreiches Offenland bzw. Feuchtgebiete als Lebensraum angewiesen sind, schreiben die Verfasser.
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