Forum / Erosion der gesellschaftlichen Solidarität: Eine politische Analyse der letzten Monate
Über die Wintermonate wurden alleinreisende Männer, die bei uns in Luxemburg Schutz vor Krieg und Elend in ihren Heimatländern suchten, in den Flüchtlingsunterkünften abgelehnt und mussten notgedrungen in der „Wanteraktioun“ übernachten. Seit Dezember 2023 verbietet das Polizeireglement der Stadt Luxemburg die einfache Bettelei in Teilen der Stadt zwischen 7 Uhr morgens und 10 Uhr abends. Anfang dieses Jahres kündigte zuerst der Industriellenverband, dann der Handwerkerverband seine Solidarität mit den Kranken: im Krankheitsfall soll der erste Arbeitstag nicht mehr bezahlt werden.
Diese drei Ereignisse der letzten Monate haben auf den ersten Blick keinen Zusammenhang, und doch sind sie ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Entwicklung: Die Solidarität in unserer Gesellschaft erodiert schleichend, aber das Muster der Erosion ist deutlich erkennbar.
Zuerst wird die Solidarität mit den Flüchtlingen, den „Anderen“, aufgekündigt. Durch das Verbot der einfachen Bettelei kündigte die Stadt Luxemburg ihre Solidarität mit dem Ungewollten, den „Armen“. Die „Armen“ sollen tagsüber aus dem Stadtbild verbannt werden; nachts, wenn das Bürgertum schläft, können die Armen sich wieder der Bettelei widmen. Seit jeher ist die Bettelei für die Betroffenen, die über keine anderen Existenzmittel verfügen und daher für ihr Überleben keine andere Wahl als die Bettelei haben, der letzte Ausweg. Gerade ihr Verbot ist ein gnadenloses Aufkündigen der gesellschaftlichen Solidarität.
Nach den „Anderen“ und den „Armen“ soll, nach dem Willen einiger Arbeitgebervertreter, die Solidarität mit den „Kranken“ eingeschränkt werden. Zentrales Argument sind hierbei die wirtschaftlichen Kosten, die durch den Arbeitsausfall entstehen und einigen „Unternehmern“ zu hoch erscheinen: Die Entschädigung, die dem Arbeitnehmer ab dem ersten Tag seiner Abwesenheit gezahlt wird, soll abgeschafft und erst ab dem zweiten Tag gezahlt werden.
Diese Ereignisse zeigen klar, die politische Empathie mit den „Schwachen“ in unserer Gesellschaft droht stufenweise in Luxemburg zu verschwinden.
Im Gestus der eigenen Überheblichkeit
Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer hat solches Verhalten schon in den Nullerjahren mit dem Begriff der „rohen Bürgerlichkeit“ definiert und beschrieben. Wie er betont, steht dabei „nicht die ökonomische Klassenzugehörigkeit im Zentrum, sondern vielmehr die Tatsache, dass unter einer dünnen Schicht zivilisiert-vornehmer (,bürgerlicher‘) Umgangsformen autoritäre Haltungen verborgen sind, die immer deutlicher sichtbar werden, meist in Form einer rabiater werdenden Rhetorik“1) – wie zum Beispiel beim Abgeordneten Marc Lies (CSV) der bei einem Delikt in der Gemeinde Hesperingen sofort die Immigranten, die „Anderen“, unter Generalverdacht stellte und die „Open the Gates“ Politik des früheren Außenministers für den Tod einiger Hühner verantwortlich machte2).
Klar ersichtlich ist, dass durch diese neue rohe Bürgerlichkeit das Gefühl für Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness zunehmend abhandenkommt. Die Ereignisse der letzten Monate zeigen deutlich, auch bei Teilen der luxemburgischen Politik gibt es eine Verachtung für schwächere Gruppen in unserer Gesellschaft, der auch in Luxemburg, wie Heitmeyer beschreibt, „[…] häufig im Gestus der eigenen Überheblichkeit vorgebracht“3) wird – wie bei der Abgeordneten Simone Beissel (DP), die Bettler „gefiddert huet“4).
Doch auch der Umgang der Politik mit der Justiz in den letzten Monaten zeigt von dieser Verrohung der Bürgerlichkeit. Die Unabhängigkeit, mit der die Justiz ihre Kontrollfunktion ausübt, und das Vertrauen, das in diese Unabhängigkeit in der Gesellschaft besteht, sind von zentraler Bedeutung für unsere liberale Demokratie. Politiker sind deshalb gut beraten, die Entscheidungen der Gerichte zu respektieren und Vertretern der Justiz mit dem nötigen Respekt und einer gewissen Demut zu begegnen!
Bestehen begründete juristische Einwände, kann man diese nicht lapidar abtun oder sogar die Staatsanwaltschaft diskreditieren und ihr Parteilichkeit im politischen Sinne vorwerfen, wie Gemeinderat Claude Radoux (DP), der sich nicht zu schade war, die Staatsanwaltschaft in einer öffentlichen Gemeinderatssitzung mit haltlosen Vorwürfen zu überziehen5). Solche Aussagen sowie jene des Premierministers, der in der Betteldiskussion Gerichtsurteilen erster Instanz keine Beachtung schenken mochte6), untergraben das Vertrauen in die Justiz – ein Gift für unsere liberale Demokratie.
Zu dieser Verrohung der Bürgerlichkeit und dem miserablen Umgang seitens von Teilen der Politik mit der Justiz gesellt sich aber noch eine gewisse Arroganz der Macht. Auf Kritik gegenüber der Regierung reagieren ihre Vertreter zunehmend gereizt und führen die parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse als Ultima Ratio ins Feld. Doch das Durchsetzen umstrittener Vorhaben kann nicht allein, vor allem bei berechtigten juristischen Einwänden, mit dem Verweis auf politische Mehrheitsverhältnisse durchgedrückt werden. So schrieb der Jurist und Politiker Carlo Schmid: „Demokratie ist aber mehr als nur die Konkretisierung des Satzes ‚Mehrheit gilt‘. Von Demokratie sprechen wir nur dort, wo die Staatsgewalt sich unter das Gebot moralischer Postulate und eines Rechts stellt, das an einem von allen billigdenkenden Bürgern annehmbaren Denkbild vom Sinn des menschlichen Daseins orientiert ist“7).
Besonders bedauerlich ist es, dass die gesellschaftliche Solidarität gerade in einer Zeit zu verschwinden droht, in der die Herausforderungen, vor denen wir als Gesellschaft stehen – die Klimakrise, die Wohnungskrise, das Auseinanderklaffen der Schere zwischen Arm und Reich, die europäische Sicherheitspolitik, um nur diese zu nennen – so monumental sind, dass sie eine gesellschaftliche Veränderung erfordern, die nur in einer gesamtgesellschaftlichen, solidarischen Anstrengung gelingen kann. Nachhaltige und innovative Politik mit Zukunftsvisionen, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt als zentrale Idee verfolgen und Probleme behandelt, statt Polemik zu schüren, wird jetzt gebraucht!
1) Wilhelm Heitmeyer, „Autoritäre Versuchung“, Berlin: Suhrkamp, 2018, S. 310.
2) Siehe Aussagen auf Facebook von Marc Lies Anfang März 2024.
3) Heitmeyer, op. cit.
4) Simone Beissel im „Riicht eraus mam Astrid Lulling a Simone Beissel, Februar 2024“.
5) Claude Radoux (DP) in der Gemeinderatssitzung der Stadt Luxemburg vom 29. Januar 2024: „Ech wëll se elo net grad alleguer als Expert qualifizéieren, mee ech wëll awer effektiv d’Vertrieder vum Parquet ernimmen, déi hei a Fro stellen, ob mir eng legal Basis hätten. […] Dat de Parquet d’well Prostitutioun net poursuivéiert, den Drogekonsum net poursuivéiert, den Drogenhandel […] dat gëtt net poursuivéiert […]. Wann elo de Vertrieder vum Parquet higeet an individuell Interpretatioune mécht vun der Decisioun, vun der Decisioun vun der Chamber, dat ass ganz schlëmm, […] dat ass d’Attack op de Rechtsstaat. A wann de Parquet wëll Politik maachen, da sollen se sech opstelle fir d’Walen, mee net hir Funktioun utiliséiere fir eng politesch perséinlech Interpretatioun vun de Gesetzer“, Video ab +/- 4.30 Stunden.
6) „Zu einem Rechtsstaat gehört, dass das Oberste Gericht respektiert werden soll, wenn es ein Urteil in dieser Sache fällt. Das ist bislang nicht geschehen.“ Luc Frieden, 1. Februar 2024 im Tageblatt, S. 4; zum Beispiel das Diekircher Friedensgericht hielt explizit in seinem Urteil vom 3. Dezember 2009 fest: „En ce qui concerne l’infraction de mendicité prévue par l’article 563 6° du Code pénal mise à charge de P.2.), le tribunal tient à relever que mendier n’est pas interdit par la loi pénale. En effet, suivant les dispositions de l’article 157 de la loi du 29 août 2008, portant sur la libre circulation des personnes et de l’immigration, le point 6 de l’article 563 du Code pénal est supprimé. P.2.) est dès lors encore à acquitter de ces faits mis à sa charge.”
7) Carlo Schmid, „Wegmarken der Freiheit – Essays zu Literatur und Politik“, Klöpfer & Meyer, Tübingen, 2001, S. 45.
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