Thema Transsexualität / Es gibt kein richtiges Leben im falschen: „Rehaugen“ von Jean-Paul Maes
Während Lucien ihr Coming-out als transsexuelle Frau plant, schlittern sie und ihre Partnerin Karin in eine immer größere Ehekrise hinein. Im Roman „Rehaugen“ von Jean-Paul Maes wird die Brüchigkeit eines Familienidylls aufgedeckt und zugleich das Schicksal eines Mitglieds der LGBTQ-Community erzählt. Erschöpfend wird das Thema Transsexualität jedoch nicht behandelt.
Hätte Lucien ein Facebook-Profil, würde vermutlich unter Info stehen: Vater von zwei wunderbaren Söhnen, seit fast 25 Jahren glücklich verheiratet, erfolgreicher Bauleiter, Hobby-Schütze, leidenschaftlicher Jogger und immer für eine Jamsession unter Kumpels zu haben. Nicht da stehen würde: transsexuelle Frau. Und das ist das Problem, mit dem Lucien zu kämpfen hat. Sie* würde nämlich gerne ein neues Leben beginnen – als Lucie, die eine Geschlechtsumwandlung hinter sich hat und voll zu ihrer weiblichen Identität steht. Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Denn auch wenn Lucien weiß, dass sie im falschen Körper geboren wurde, hat sie diese Information bis jetzt vor ihren Liebsten geheim gehalten.
Die Gründe für ihr 50 Jahre langes Schweigen dürften auf der Hand liegen: Über Transsexualität wissen die meisten Menschen nach wie vor recht wenig, viele kennen, zumindest dem Anschein nach, niemanden, dessen Geschlechtsidentität nicht mit seiner körperlicher Verfasstheit zusammenfallen. Aufklärung und persönlicher Bezug zur Thematik fehlen – in den 2010er Jahren, in denen der Roman spielt, noch mehr als jetzt. Lucien hat deswegen vor allem eins: Angst vor Zurückweisung.
Der hohe Preis für die eigene Freiheit
Wie viel für die Protagonistin auf dem Spiel steht, zeigt die Ausgangssituation der Geschichte. Lucien und Karin führen eine Bilderbuch-Ehe mit allem, was dazu gehört: einem gemütlichen Eigenheim inklusive Garten, zwei geliebten Sprösslingen und einem gemeinsamen wie gefestigten Freundeskreis. Zu den im Boden tief verankerten Pflastersteinen ihres Hand in Hand gegangenen Lebenswegs gehört auch das Wissen, dass sie einander sehr lieben und gut miteinander auskommen. Eben das gehört gefeiert – und so möchte Karin ihre Silberhochzeit mit einer prunkvollen Feier begehen.
Während sie diesem Glanzpunkt entgegeneifert, merkt Lucien, dass sie mit ihrem jetzigen Leben in einer Sackgasse angelangt ist. Groß ist die Zerrissenheit zwischen dem Wunsch, authentisch zu sein, und ihrem weiblichen Ich Ausdruck zu verleihen, und der lähmenden Angst, dadurch alles zu verlieren: ihre Beziehung zu Karin und den Kindern, ihre Freundschaft zu ihrem Arbeitskollegen und Vorgesetzten Jeff und schließlich auch ihren Job in einer männerdominierten Branche. Um es mit den Worten von Anthony Hamilton und Elayna Boynton aus dem Song „Freedom“ zu sagen: „Looking for freedom and to find it, may take everything I have“.
Die Fallhöhe lässt einen schwindeln
Das flößt einem selbstredend Furcht ein, und Lucien sieht sich bis auf Weiteres gezwungen, eine Art Doppelleben zu führen. Nach außen hin hält sie die Fassade des harten Mannes, für den sie immer gehalten wurde, aufrecht, während sie nachts immer öfter Frauenkleider überstreift, sich mit Gleichgesinnten im Internet austauscht und während kurzen Spaziergängen ihren femininen Gang übt. Fest entschlossen, der Welt bald zu eröffnen, wer sie wirklich ist, fängt sie nach Gutdünken an, Hormonpillen zu schlucken. Das Versteckspiel hat ein jähes Ende, als Karin – die mit eigenen Problemen zu kämpfen hat – ihre bessere Hälfte in flagranti bei einem ihrer geheimen Ausflüge erwischt, in einem Kleid und mit Schminke im Gesicht.
Während die ineinander verwobenen Lebensentwürfe der Ehepartner zerbröseln, wird ihr Verhältnis auf eine Zerreißprobe gestellt. Lucien und Karin sehen sich gezwungen, eine ehrliche Bilanz über die gemeinsam verbrachten Jahre zu ziehen und einen zweiten kritischen Blick auf ihre Ansichten darüber, wer sie selbst sind und für wen sie ihren Partner halten, zu hinterfragen. Dieser Prozess ist so schmerzhaft, wie er entwurzelnd ist, und er lässt an die Worte die amerikanischen Psychotherapeutin Polly Young-Eisendrath denken, die in einem ihrer Bücher schreibt, man möge kaum glauben, wie nah Liebe und Hass beieinanderlägen.
Ein schwieriger Selbstfindungsprozess
Natürlich sollte sich die Literatur bei ihrer Themenwahl nicht daran orientieren, was gerade en vogue ist, doch hat Jean-Paul Maes mit seinem Roman „Rehaugen“ durchaus den Finger am Puls der Zeit. Auch weiß der Intendant des „Kaleidoskop Theater“ seine Bühnenerfahrung zu nutzen, um einen spannenden Plot mit zahlreichen Missverständnissen und Verwicklungen zu entwerfen.
Umso bedauerlicher ist es, dass der Autor den zwei wirklich kniffligen Fragen, die in „Rehaugen“ aufgeworfen werden, nicht ganz auf den Grund geht. Die eine betrifft das Verhältnis zwischen Lucien und Lucie. Mehrmals fragt sich die Hautfigur, ob Lucien und Lucie identisch seien oder ob Lucie sich von Lucien abgrenzen müsse, um ihr Schattendasein beenden zu können. Zwischen diesen beiden konkurrierenden Wahrheiten schwankt die Protagonistin, ohne dass sie sich einem eindeutigen Urteil auch nur annähern könnte: Die vorläufigen Schlüsse, die sie je nach gerade Erlebtem zieht, werden im weiteren Verlauf der Geschichte immer wieder über den Haufen geworfen.
Gender-Identity als diskursives Minenfeld
Ähnlich viel Zündstoff birgt die Frage, inwiefern Lucien auch später im Roman noch in ein Denken zurückfällt, das geprägt ist von einem konservativen, cisnormativen Weltbild und Geschlechterstereotypen, die besser in eine Mottenkiste verstaut gehörten. So glaubt sie, dass sich „eine Dame“ nicht so einfach ansprechen ließe, und würde als Lucie gerne, wie sie selbst sagt, von ihrem alten männlichen Selbst beschützt werden. Dass also auch Angehörige von unterdrückten Minderheiten über blinde Flecken verfügen und kritische Inhalte, die sie internalisiert haben, weiter propagieren können, ist ein Gedanke, der bisher wenig literarisch aufgearbeitet wurde. Spannend wäre es gewesen, ihm hier größere Beachtung zu schenken.
„Rehaugen“ erweist sich demnach als ein kurzweiliger Roman über ein Familiendrama, in dessen Zentrum eine entgleisende Beziehung steht. Er liefert damit verbunden einige interessante Einblicke in das hochkomplexe und politisch umkämpfte Thema der menschlichen Gender-Identity. Dass die Charakterdarstellung und -entwicklung über einen gewissen Punkt nicht hinauskommt, sollte der Leser aber im Vorhinein wissen. Zwar fällt die Figurenzeichnung weder zu stereotyp noch zu grob aus, doch sei jedem Interessierten, der sich eingehend mit dem Phänomen Transsexualität beschäftigen möchte, ans Herz gelegt, sich neben „Rehaugen“ weitere einschlägige Literatur zu Gemüte zu führen – gerne auch von offen queeren Autorinnen und Autoren.
* In „Rehaugen“ gebraucht der Autor männliche wie weibliche Pronomen, wobei überwiegend die männliche Form benutzt wird. Um die Kohärenz zu wahren und der Sensibilität der Thematik Genüge zu tun, wurde hier für weibliche Pronomen und Personenbezeichnungen optiert, Anm. d. Red.
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