Editorial / Es gibt keine Armutsbekämpfung ohne soziale Wohnungspolitik
Die Wohnungskrise und Armut gehen Hand in Hand. Das Tageblatt hat in den vergangenen Tagen mit mehreren Obdachlosen gesprochen und dabei das bestätigt, was eigentlich offensichtlich ist: Eine Wohnung ist mehr als nur ein festes Dach über dem Kopf. Sie ist die Basis für ein würdevolles Leben – und muss von der Politik gesichert werden.
„Ohne Adresse bekommt man keine Arbeit und ohne Arbeit keine Wohnung.“ Das sagte Mike gegenüber dem Tageblatt. Er lebt ohne Unterkunft in Luxemburg und ist nicht allein mit diesem Problem. „Ich will arbeiten, bekomme ohne Adresse aber keine Stelle“, erklärt auch Sonja. Für Alex, der seine vier Wände nach einem Unfall verloren hat, ist ebenfalls klar: Der Hauptgrund für die soziale Not in Luxemburg ist das Wohnungsproblem. Ohne feste Adresse gibt es nämlich auch kein „Revis“ bzw. Einkommen für schwerbehinderte Personen.
Mit dem Verlust der Wohnung fängt die Armutsspirale oft an. Ohne Wohnung kein Job. Ohne Job kein Geld. Ohne Geld keine Sozialbeiträge. Ohne Sozialbeiträge keine Krankenversicherung. Die Spirale dreht und dreht und dreht sich weiter. Allein auszubrechen, ist fast unmöglich, vor allem weil das Leben ohne Unterkunft bereits sehr kräftezehrend ist. Das Argument „dann geh doch einfach arbeiten“ ist also keines. Vor allem, weil die Lage auf dem Arbeitsmarkt nicht einfacher wird: Das nationale Statistikinstitut Statec rechnet bis Ende 2024 mit einer Arbeitslosenquote von fast sechs Prozent. Zu Beginn des Jahres 2023 lag sie bei 4,8 Prozent.
Und die Wohnungsnot betrifft nicht nur Menschen ohne Unterkunft. 12,9 Prozent der Erwerbstätigen zählen laut „Rapport travail et cohésion sociale 2023“ zu den „Working Poor“ – also Menschen, die trotz Arbeit von Armut bedroht sind. Damit schneidet in Europa nur Rumänien schlechter ab als Luxemburg. Auch hier spielen die Wohnungskosten eine essenzielle Rolle. Aus Gesprächen mit den Betroffenen geht immer wieder hervor, dass die Miete bei weitem die größte Bürde im Budget ist.
Die Situation auf dem Wohnungsmarkt scheint sich nicht wirklich zu beruhigen. Auch wenn die Preise laut Bericht, den das „Observatoire de l’habitat“ am Donnerstag veröffentlicht hat, sinken: Aufgrund der hohen Zinsen können sich trotzdem nur wenige Menschen den Kauf einer Wohnung leisten. Und diejenigen, die es nicht können, müssen sich mit steigenden Mietpreisen herumschlagen. Die Mieten für Wohnungen sind in den vergangenen zwölf Monaten um 4,1 Prozent gestiegen. Die Ärmsten müssen also noch mehr von ihrem Gehalt ausgeben, um ein Dach über dem Kopf zu haben. Und wenn das nicht mehr reicht, droht die Obdachlosigkeit.
Der Verlust der Wohnung trotz Arbeit, nach einem Unfall oder wegen eines anderen Schicksalsschlags darf nicht zu einer realistischen Bedrohung werden. Wenn dieser erste Dominostein erst mal fällt, ist die Kettenreaktion nur schwer aufzuhalten. Die Politik muss vorher eingreifen. Ob das unter dieser Regierung eher der Fall ist als unter der vorigen, bleibt abzuwarten. Das Bettelverbot deutet jedenfalls nicht auf eine soziale Ader der neuen Koalition hin.
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„Wer einmal warm gebettet ist, vergisst gern, wie es Leuten zumute ist, denen es am Notwendigsten fehlt.“
A. Kolping
@Leila/ Wie recht A. Kolping doch hat.
Die typisch luxemburgische Mentalität: “ Mir geht es erst recht gut, wenn es dem Nachbarn weniger gut ( oder schlecht ) geht“. Oder: “ Le malheur des uns fait le bonheur des autres“. Ein Schuss der einmal gehörig nach hinten losgehen wird, vielleicht früher als uns lieb ist.
Bei einem Blick ins Internet ist das Thema „Betteln“ eine ergiebige Fundgrube.
▪ Eine kleine Geschichte des Bettelns (16.07.2021)
Von Karsten KRAMPITZ, nd-aktuell.de
Was sagt es über eine Gesellschaft aus, wie sie mit „ihren Armen“ umgeht? Über Vagabunden und Tippelbrüder in der Antike, im Nationalsozialismus und in unserer Gegenwart.
Als Habenichts war ODYSSEUS schmutzig und hässlich, sodass ihn bei Hofe allein Argos, sein treuer Hund, erkannte – und vor lauter Glück verstarb. Umso lebendiger zeigten sich die vielen Freier, die, weil sie Odysseus für tot hielten, seine Frau Penelope bedrängten und sein Hab und Gut verprassten. Das Ende der Geschichte ist bekannt: der aggressive Bettler konnte in letzter Minute seine Ehe retten … Einmal abgesehen von dem Blutbad, das der heimkehrende König da auf Ithaka angerichtet haben soll, erscheint uns der Umstand außerordentlich bemerkenswert, dass ihn seine Beschützerin, Pallas Athene, ausgerechnet in einen Bettler verwandelte. Als solcher – und nicht etwa als Händler, Bauer oder Soldat – sollte Odysseus nach göttlicher Fügung unerkannt an den Hof gelangen. Als mittelloser Fremder musste er nicht draußen vor dem Tor ausharren, nicht in nächtlicher Kälte um Almosen wimmern. Nein, wie selbstverständlich hatten die Wachen den Bettler auf das Palastareal gelassen. Merkwürdig auch, dass von den Leuten am Hof, die Odysseus um Essen bat, niemand sagte: „Alter, geh arbeiten!“ Oder: „Verschwinde! Wir haben kaum genug für unsere eigenen Leute!“ Kurzum: In der alten Welt besaßen Schnorrer, Gaukler und Tippelbrüder einen erheblich besseren Ruf. Damals, als die Menschen noch glaubten, die Götter würden als Bettler verkleidet auf die Erde kommen und sie auf die Probe stellen (…). Aber das ist lange her. Die Gesellschaft der Antike teilte sich nach PLATON auf in Nährstand, Wehrstand und Lehrstand, also in Bauern, Händler und Handwerker; Krieger und Soldaten sowie schließlich Philosophen, Priester und Lehrer. In diesem Gemeinwesen fristeten die Armen und Schwachen keineswegs ein Schattendasein: in der Ekklesia, der Volksversammlung der Athener, dem Herzstück der attischen Demokratie , die ihre Blüte im 5. Jahrhundert vor Christus erlebte, saßen womöglich Hunderte Bettler. Für eine Aufwandsentschädigung in Höhe eines Tageslohnes sorgten sie dafür, dass das notwendige Quorum von 6.000 Bürgern erreicht wurde. Die Teilnehmer der Ekklesia mussten nur allesamt Männer sein, die ihren Militärdienst abgeleistet hatten. In diesem ersten „Parlament“ kam den armen Schluckern das gleiche Stimm- und Rederecht zu wie den gut betuchten Bürgern. (…) Heute: Armut als ästhetisches Problem? In unserer Gegenwart führt der Wegfall der innereuropäischen Grenzen zu einer neuen Mobilität der Armut, die Sozialsysteme hingegen waren nur für statische Verhältnisse geplant gewesen. Überall hört und liest man von Bettlerbanden, von „Roma-Clans“ mit marodierenden Müttern mit Kindern im Arm. In der Schweiz werden bereits Bettelverbote praktiziert, ebenso in einigen Städten Österreichs. Nicht so allerdings in Berlin, wo in einer „Nacht der Solidarität“ die Obdachlosen gezählt wurden. Hier regeln die Schnorrer eher untereinander, wer wo betteln darf. Vor ein paar Jahren entblödete sich eine Berliner Obdachlosenzeitung nicht, eine härtere Gangart gegenüber Bettlern aus Osteuropa anzukündigen. (…) Wie erbärmlich, das Treten nach unten. Und so müsste die Göttin Athene heute für ihren Odysseus eine andere Kostümierung wählen. Denn in der Gegenwart wird Armut vor allem als ein ästhetisches Problem begriffen – hässlich, schmutzig, laut und von auswärts, das geht gar nicht!
MfG
Robert Hottua