Film / „Es gibt keinen Mafioso im Hintergrund“: Andrei Schwartz hat während fünf Jahren bettelnde Roma begleitet
Andrei Schwartz hat während fünf Jahren Roma aus Rumänien begleitet, die in Hamburg für ihren Lebensunterhalt betteln. Für Dienstagabend kommt er mit seinem Film nach Luxemburg und erzählt vorab, worum es dabei geht.
Tageblatt: Am Dienstag wird Ihr Film „Europa Passage“ in Luxemburg-Stadt gezeigt. Wovon, oder besser gesagt, von wem handelt dieser?
Andrei Schwartz: Der Film befasst sich im Prinzip mit Roma-Bettlern, die alle paar Wochen von Hamburg zu ihrem Heimatdorf Namaiesti in Rumänien pendeln. Wir haben dafür ein Ehepaar und seine Familie begleitet. Etwa 2016 haben wir mit den Dreharbeiten angefangen, 2021 sind wir fertig geworden. Im Abstand von ein paar Monaten haben wir immer wieder gefilmt – auch in Rumänien. Rund 150 Stunden Material sind es am Ende geworden. Wir haben einfach gedreht, bis wir das Gefühl hatten, fertig zu sein. Ich wollte den Leuten über die Schulter schauen und dabei herausfinden, wie Hamburg funktioniert.
Wie also die Stadt Hamburg funktioniert?
Die Stadt, aber auch die Leute. Es ist eine reiche Stadt, die keine Lust auf Bettler auf der Straße hat. Wir erwischten beim Dreh eine Zeit, in der die Leute bei Minusgraden aus einer Notunterkunft geschmissen wurden, in der Obdachlose im Winter unterkommen können. Roma-Bettler flogen als Erste raus, später auch welche aus Bulgarien. Das wird im Film thematisiert. Es wurde gesagt, dass sie keine echten Obdachlosen sind, weil sie eine Unterkunft in Rumänien haben. Aber das spielt keine Rolle. In Hamburg sind die obdachlos.
Sie sagen, dass die Hauptprotagonisten Maria und Tirloi in Rumänien ein Dach über dem Kopf haben. Warum nehmen die beiden dann die Reise nach Deutschland auf sich?
Ihr Dorf in Rumänien ist rudimentär. Es liegt in einem Tal und ist umgeben von vielen Bäumen – weshalb dort keine Landwirtschaft betrieben werden kann. Die Menschen gehen vielleicht mal in den Wald zum Pilzesammeln, aber auch dieser wurde inzwischen privatisiert. Einst gab es dort viele Fabriken und sie hatten Arbeit. Wie auch in der DDR mussten allerdings viele Fabriken schließen und sie haben jetzt kein Einkommen mehr. Dabei ist Rumänien fast so teuer wie Deutschland. Die Leute im Dorf verhungern.
Am Stammtisch oder in Kommentaren in den sozialen Medien heißt es gerne mal, bettelnde Menschen sollten sich doch einfach Arbeit suchen …
Für die Leute wäre es einfacher, acht Stunden zu schuften, als im Winter auf dem harten Asphalt zu sitzen. Sie haben 25 Jahre lang in einer Fabrik gearbeitet, für sie ist das ja auch eine Demütigung. Aber ohne Adresse bekommt man in Deutschland keine Steueridentifikationsnummer und ohne die keine Arbeit. Es ist ein Teufelskreis. Dem Hauptprotagonisten ist es inzwischen gelungen, eine Anstellung bei einer Hamburger Verpackungsfirma zu finden – allerdings immer noch als Zeitarbeiter. Nach spätestens neun Monaten hätte er eigentlich fest angestellt werden müssen, doch sein Arbeitgeber kennt die prekären Verhältnisse und weiß, dass er eine Mordspanik davor hat, seine Arbeit zu verlieren.
Für die Leute wäre es einfacher, acht Stunden zu schuften, als im Winter auf dem harten Asphalt zu sitzenRegisseur
Und das nutzt das Unternehmen aus. Auch bei Diskussionen um das Betteln ist oft die Rede von Ausbeutung.
Es existiert kein Mafioso im Hintergrund, an den sie das Geld weitergeben müssen. Es mag solche Strukturen geben, bei denen Kriminelle ihre Verwandte ausnutzen und ich will nicht abstreiten, dass manchmal Kinder zum Betteln geschickt werden. Aber das sind in meinen Augen Einzelfälle. Das ist längst nicht so verbreitet, wie wir denken. Auch bei den Leuten aus dem Film ist das nicht der Fall – und ich weiß es, ich war oft in ihrem Dorf. Dass Mafiosi die Leute mit einem Mercedes zum Betteln fahren, ist für mich unglaubwürdig. Der ganze Sprit lohnt sich nicht. Das sind Legenden, die als Ausrede genutzt werden, um die Leute zu vertreiben.
In Luxemburg-Stadt geht man seit fast einem Jahr mit einem sogenannten Bettelverbot gegen – laut Politik – organisiertes Betteln vor. Wie bewerten Sie solche Maßnahmen?
Wenn man weiß, dass jemand ausgebeutet wird und man ihm deshalb kein Geld gibt, ist das, als würde man Flüchtlinge auf dem Meer absaufen lassen, damit Schlepper nichts verdienen. Wenn jemand durch das Betteln seinen Lebensunterhalt verdient, ist das seine Angelegenheit und die der Person, die Geld gibt. Jeder sollte für sich entscheiden, ob man Geld geben möchte oder nicht.
Über Andrei Schwartz und seinen Film
Über einen Zeitraum von fünf Jahren haben Regisseur Andrei Schwartz und sein Team eine Gruppe von Roma begleitet, die zwischen ihrem Heimatdorf Namaiesti in Rumänien und Hamburg hin- und herpendeln, um beim Betteln ihren Lebensunterhalt zu verdienen – das unter anderem vor dem Einkaufszentrum „Europa Passage“ in Hamburg. Entstanden ist ein gleichnamiger Dokumentarfilm von 90 Minuten. Andrei Schwartz wurde in Bukarest geboren und lebt seit mehr als 50 Jahren in Deutschland. Schon 1997 begleitete der 69-Jährige für „Auf der Kippe“ eine Gruppe Roma, die neben einer Müllkippe in Rumänien lebt. „Europa Passage“ wird am Dienstag um 18.30 Uhr im Raum „Plateforme“ in den Rotondes in Luxemburg-Stadt gezeigt – in den Originalsprachen Rumänisch sowie Deutsch und mit deutschen Untertiteln. Eine anschließende Diskussion mit dem Regisseur und Joachim Brenner vom Förderverein Roma in Frankfurt am Main findet auf Deutsch und Englisch statt. Der Eintritt zu der von „Solidaritéit mat den Heescherten“ organisierten Veranstaltung kostet 5 Euro; wer will, kann zusätzlich spenden. Mehr Informationen gibt es unter rotondes.lu.
Wie kam überhaupt der Kontakt mit der Familie zustande?
Über meine Funktion als Übersetzer bei einer Hilfsorganisation für Obdachlose. Ich war dort aber nur für einige Wochen und habe hinterher auf eigene Faust den Kontakt hergestellt. Das war ein komplizierter Prozess. Denn sie haben die Erfahrung gemacht, dass die Polizei an einem Ort auftaucht und sie vertreibt, sobald öffentlich wird, dass sie dort sind. Deshalb haben sie keine Lust auf Öffentlichkeit. Die beiden Protagonisten haben uns vertraut. Dass ich Rumänisch kann und der Kontakt nicht über einen Dolmetscher laufen musste, war sicher von Vorteil. Im Dorf in Rumänien haben uns aber nur etwa 40 Prozent akzeptiert und viele dachten, dass wir uns bereichern.
Sie haben die Hauptprotagonisten und ihre Familie während fünf Jahren begleitet. Wie sah das ganz konkret aus?
Wenn sie ein Problem hatten, zum Beispiel wegen Schwarzfahrens, wandten sie sich an mich. Sie sind Analphabeten und wussten nicht, wie eine Überweisung geht. Ich habe sie bei Arztbesuchen oder Behördengängen begleitet. Denn wer die deutsche Bürokratie kennt, weiß, was für ein Gang durch die Hölle das ist. Sie haben mich als Sozialarbeiter in Anspruch genommen. Das war ein Geben und Nehmen. Übrigens haben sie auch ein Honorar bekommen. Die Leute haben ja Zeit geopfert und sich Mühe gegeben – sollen sie leer ausgehen, nur weil das ein Dokumentarfilm ist? Das ist für mich ein generelles Prinzip bei dieser Art Film.
Ohne zu viel zu verraten: Gibt es bei „Europa Passage“ eine zentrale Botschaft?
Der Film befasst sich nicht mit dem Thema Betteln oder Roma, sondern mit der Frage: „Wie funktioniert Leben?“ Für mich geht es darum, was Integration bedeutet. Alles hat seinen Preis, auch Integration. Die beiden Protagonisten entfremden sich voneinander. Während er Hamburg inzwischen als Zuhause sieht, würde sie lieber in ihrem Dorf leben. Wie viele Ehepaare leben auch sie sich auseinander. Es ist ein Film über Menschen, mit denen ich mich identifizieren kann. Nach einer Vorstellung wurde mir gesagt, dass man die Leute danach mit anderen Augen sieht. Das war nie meine Absicht – ich bin kein Missionar und bezweifele, dass ich die Welt verbessern kann –, aber es freut mich, wenn sie am Ende keine Fremden mehr sind.
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