Ukraine-Krieg / „Es gibt keinen sicheren Ort mehr“ – Russland nimmt ganz Donezk unter Beschuss
Die Ukraine will im Süden eine Gegenoffensive versuchen. Im Osten bezogen die ukrainischen Streitkräfte neue Verteidigungspositionen. Die Schlacht um den Donbass geht weiter.
Nach der völligen Einnahme der Region Luhansk im Osten der Ukraine nehmen die russischen Streitkräfte jetzt zunehmend das Gebiet um Donezk ins Visier. „Slowjansk und Kramatorsk sind unter Beschuss geraten“, berichtete Regionalgouverneur Pawlo Kyrylenko am Dienstag. „Es gibt in der Region Donezk keinen sicheren Ort mehr, der nicht beschossen wird.“
Die ukrainische Führung setzt unterdessen auf eine Gegenoffensive im Süden des Landes. Die Einnahme der Städte Lyssytschansk und Sjewjerodonezk in Luhansk bedeute, dass 60 Prozent der russischen Streitkräfte im Osten gebunden seien, sagte Olexij Arestowytsch, der führende Berater des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, in einer im Internet verbreiteten Video-Botschaft. Der Erfolg eines ukrainischen Gegenangriffes hänge aber von den Waffenlieferungen des Westens ab, fügte Arestowytsch hinzu.
In der Region Donezk, die zusammen mit Luhansk den industriell geprägten Donbass bildet, bezogen die ukrainischen Streitkräfte neue Verteidigungsstellungen. Für Russland sei es schwierig, seine Soldaten in den Süden der Ukraine zu verlegen, sagte Arestowytsch. Die russischen Streitkräfte hätten hohe Verluste erlitten. „Und es gibt keine Kräfte mehr, die aus Russland herangeschafft werden können. Sie haben einen hohen Preis für Sjewjerodonezk und Lyssytschansk bezahlt“ – die zuletzt in Luhansk in die Hände der Russen gefallenen Städte.
Die pro-russischen Separatisten im Osten verlegten unterdessen Kampfeinheiten in Richtung Donezk. Dies folge auf die „Befreiung“ von Luhansk, zitierte die russische Agentur TASS den Anführer der selbsternannten Volksrepublik Donezk, Denis Puschilin. Die Separatisten in Luhansk und Donezk haben sich bereits 2014 von der Ukraine losgesagt und Volksrepubliken ausgerufen, die zwar von Russland anerkannt werden, nicht aber von der Staatengemeinschaft. Die ukrainischen Truppen müssen nach Einschätzung der pro-russischen Separatisten in Luhansk bis in die Region Kiew zurückgedrängt werden. Dann würden ihre Raketen nicht mehr die Menschen im Donbass bedrohen, zitierte die russische Nachrichtenagentur RIA einen Vertreter der Miliz der selbst ernannten Volksrepublik Luhansk.
Das ist der letzte Sieg für Russland auf ukrainischem TerritoriumBerater des ukrainischen Präsidenten
Präsidentenberater Arestowytsch äußerte sich zuversichtlich, dass nach der Einnahme von Sjewjerodonezk „und Lyssytschansk die russischen Truppen keinen Erfolg mehr verbuchen werden. „Das ist der letzte Sieg für Russland auf ukrainischem Territorium“, sagte er. „Das waren Städte mittlerer Größe. Und es hat vom 4. April bis zum 4. Juli gedauert – das sind 90 Tage.“ Nach der Bombardierung durch das russische Militär liegen Sjewjerodonezk und Lyssytschansk in Trümmern. „Die Stadt existiert nicht mehr“, berichtete Nina, eine junge Mutter, die aus Lyssytschansk nach Dnipro im Zentrum des Landes geflohen ist.
Auch auf den Süden der Ukraine richtete die russische Armee ihre Angriffe. In Mykolajiw seien am Morgen russische Raketen eingeschlagen, berichtete Bürgermeister Olexander Senkewytsch. Mykolajiw liegt an der Hauptstraße zwischen dem von russischen Truppen besetzten Cherson und der Schwarzmeer-Hafenstadt Odessa.
Die russische Führung bezeichnet die Invasion als militärischen Sondereinsatz, der der Entmilitarisierung des Nachbarlandes und dem Schutz der russisch-sprachigen Bevölkerung vor Nationalisten gelte. Der Präsident des russischen Unterhauses nannte die Ukraine einen „terroristischen Staat“, wie es auf der Internet-Seite der Duma heißt. Die Ukraine und westlich orientierte Staaten sprechen von einem nicht provozierten Angriff Russlands.
Luxemburg unterzeichnet „Luganer Erklärung“
Mehr als 40 Staaten und internationale Organisationen richten unterdessen den Blick bereits nach vorne und berieten über den Wiederaufbau der Ukraine. In der „Luganer Erklärung“ bekannten sich die Teilnehmer einer Konferenz in der Stadt im Schweizer Tessin zur Mithilfe. Vertreter unter anderem der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Deutschlands, aber auch Luxemburgs, für das Franz Fayot in seiner Funktion als Minister für Entwicklungszusammenarbeit in die Schweiz gereist war, unterzeichneten das Dokument am Dienstag.
Fayot erklärte in einer Mitteilung, dass der Wiederaufbau des Landes durch die Fortsetzung der Reformen in der Ukraine erfolgen müsse, wobei die Verbesserung der Qualität der Bildung und der Sozial- und Gesundheitsdienste sowie die Achtung der Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten der ukrainischen Bürger eine Priorität darstellen sollten. Luxemburg habe demnach eine Reihe von Unternehmen ermittelt, die sich auf die Entwicklung von intelligenten, modularen oder mobilen Häusern spezialisiert haben, um Kriegsflüchtlingen eine rasche Rückkehr zu ermöglichen. Humanitäre Hilfe werde weiterhin jetzt schon geleistet.
Die Ukraine beziffert das Volumen für den Wiederaufbau des Landes bislang auf rund 720 Milliarden Euro. Ministerpräsident Denys Schmyhal hatte am Montag bei der Konferenz gesagt, in dem seit 24. Februar tobenden russischen Angriffskrieg seien allein in der Infrastruktur der Ukraine direkte Schäden von bislang knapp 100 Milliarden Euro entstanden. Deutschland sagte dem Land zusätzliche 426 Millionen Euro an Zuschüssen zu. Die Europäische Union hat seit Kriegsbeginn laut Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 6,2 Milliarden Euro zur Unterstützung der Ukraine mobilisiert. Von der Leyen sagte weitere Hilfe zu.
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