Gesundheit / „Etwas stimmt nicht mit mir“: Ein Expertengespräch über die Zunahme von Panikattacken
Panik ist ein Wort, das in der medizinischen Szene mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Die Attacken nehmen zu. Das sagt Charles Benoy (36), psychologischer Psychotherapeut und Leiter der Forschungsabteilung der Rehaklinik des „Centre hospitalier neuro-psychiatrique“ (CHNP). Er hat zusammen mit einem Kollegen aus der Schweiz ein Buch dazu geschrieben. Ein Gespräch über „Performance“-Druck, Therapien und den Säbelzahntiger.
Tageblatt: Panikattacken nehmen zu, sagen Sie. Ist das der Grund für das Buch?
Charles Benoy: Ja. Außerdem wird der Begriff heute in unseren Augen umgangssprachlich immer mehr, und auch für andere Empfindungen als nur Panikattacken verwendet. Wir wollten aufklären und informieren, weil die Wartezeiten für eine Therapie oft sehr lang sind. Das Buch soll eine Hilfe sein. Für mich als Wissenschaftler war es eine Herausforderung, ein praxisnahes Selbsthilfebuch für Betroffene als auch Fachpersonal zu schreiben.
Wenn es um die Ursachen für Panik geht, kommt oft der Säbelzahntiger ins Spiel. Erklären Sie den Zusammenhang?
Er erklärt vor allem erst mal die Angst und das, was im Körper im Angesicht der realen Bedrohung durch das Tier passiert. Es ist eine natürliche Reaktion. Alle Alarmsysteme des Körpers fahren hoch, wir sind auf Flucht, Überleben eingestellt, bis die Bedrohung bewältigt ist. Das ist eine tolle Reaktion des Gehirns, das alles steuert. Bei der Panik ist es dasselbe, nur dass die reale Bedrohung fehlt. Bei der Angst empfinden wir angesichts des Tigers den Zustand nicht als störend. Die Panik überfällt einen aber aus heiterem Himmel. Es gibt gar keinen Tiger, aber körperliche Symptome, die der Betroffene als massiv bedrohlich empfindet. Diese Symptome der Panik selbst sind es, die als bedrohlich wahrgenommen werden, also etwas in uns drin. Man kann davor nicht flüchten und sie nur schwer vermeiden. Das macht es umso belastender für Betroffene.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Plötzliches Herzrasen, Schwindel, Atemnot an der Kasse im Cactus … Dann kommen Gedanken wie „ich sterbe gleich“ und „mit mir stimmt etwas nicht“. Dabei gibt es keinen Tiger. Das Gehirn ordnet die Situation fälschlicherweise als Bedrohung ein, der Organismus fährt auf Gefahr hoch und mangels Erklärung für die körperlichen Symptome gerät der Betroffene in Panik. Das ist der Teufelskreis.
Was raten Sie denn dem Menschen an der Kasse?
Möglichst die Situation verlassen – vor allem beim ersten Mal, wenn ich die Panik nicht als solche erkenne. Im Laufe einer Therapie muss er dann lernen, dass das, was ihn in Panik versetzt hat, nicht bedrohlich ist, auch wenn der Körper so reagiert. Als Zweites ist es wichtig, sich mit den „Angstgedanken“ auseinanderzusetzen. Nicht alles, wovor wir Angst haben, ist gefährlich. Ist die Angst real oder ein Irrtum und schränkt der Gedanke mich ein oder schützt er mich, sind die Fragen.
Was passiert dann?
Wenn Panik, oder die Angst vor der Panik, mich und/oder mein Umfeld belastet und einschränkt, ist eine Therapie angezeigt. Unser Job hier ist es zunächst, plausibel zu erklären, was eine Panikattacke ist und wie sie zustande kommt. Das ebnet den Weg dafür, dass der Verstand den Panikzustand anders bewerten kann. Später geht es dann darum, den Umgang mit Panik zu verändern und sie Schritt für Schritt zu normalisieren. Antidepressiva parallel zur Psychotherapie können in schwereren Fällen zu einer rascheren Entlastung verhelfen. Wichtig ist: Panikstörungen sind heilbar, umso früher, desto besser.
Ist Panik das Ergebnis einer falschen Körperwahrnehmung? Der Körper als „Maschine“, der im Sinne der Selbstoptimierung zu funktionieren hat?
Das war unsere Anfangshypothese für das Buch. Wenn jemand die Vorstellung hat, der Körper müsse funktionieren wie eine Maschine, dann steigt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass jede minimale Veränderung sofort eine Alarmreaktion des Verstandes auslöst. Der Körper ist aber ein Organismus, der variabel ist, der durch sein Umfeld beeinflusst wird und nicht jeden Tag gleich funktioniert. Früher wurden diese Schwankungen wohl eher als normal angesehen oder zumindest weniger beachtet. Heute im Zeitgeist der Selbstoptimierung bewerten wir unseren Körper anders, strenger und weniger nachsichtig könnte man vielleicht sagen.
Dann haben Panikattacken auch mit den heutigen Leistungsgesellschaften zu tun, oder?
Je mehr wir auf „Performance“ getrimmt sind und hohe Ansprüche an uns und unseren Körper haben, umso anfälliger sind wir für Ängste und Panikattacken. Je rigider die Vorstellungen darüber, wie unser Körper zu funktionieren hat, umso anfälliger sind wir für Alarmreaktionen unseres Verstandes bei meist banalen oder zumindest nicht unnormalen Körperveränderungen.
Was ist mit den äußeren Einflüssen? Krieg in Europa, Klima- und Energiekrise, Zuwanderung oder Angst vor ökonomischem Abstieg …
Mittlerweile erleiden ein Drittel der Menschen in unseren Gesellschaften eine Angststörung im Laufe ihres Lebens. Bei der Panikstörung sind es etwa fünf bis zehn Prozent der Menschen – mit steigender Tendenz. Die Anfälligkeit für Ängste und Panik hat sicherlich etwas mit der zunehmenden gesellschaftlichen Bedrohungswahrnehmung, und dem damit einhergehenden individuell erhöhtem Stressniveau, zu tun. Aber diese gesellschaftlichen Stimmungen können Soziologen und Sozialpsychologen sicherlich besser bewerten.
Gibt es Typen von Menschen, die eher zu Panikattacken neigen als andere?
Menschen mit Vorerkrankungen haben Einträge in ihrem Schmerzgedächtnis. Ob das ein Herzinfarkt in der Vergangenheit oder nach einem traumatisch erlebten Sturz ist, das Gehirn reagiert schneller auf minimalste körperliche Veränderungen. Hinzu kommen Menschen, die viel Stress haben, wenig schlafen und getrieben sind, sowie Menschen, die auf mögliche Krankheiten sensibler reagieren. Hinzu kommen generell eher ängstliche Menschen, die schlecht mit ihnen unvertrauten und herausfordernden Situationen umgehen können. Das sind grobe Angaben. Generell lässt sich sagen, die eine Ursache für Panikattacken gibt es nicht.
Gibt es geschlechterspezifische Unterschiede beim Auftreten von Panikattacken?
Das ist mir nicht bekannt. Allerdings werden tendenziell immer mehr Frauen in der Psychiatrie behandelt. Was wir allerdings wissen, ist, dass Angststörungen meist schon in jungen Jahren, oft vor 18 Jahren anfangen. In dieser Altersgruppe hat das riesige Kollateralschäden. Sie geben die Schule auf und haben keine sozialen Kontakte mehr und vieles mehr.
Braucht es viel Überzeugung, bis die Leute zu Ihnen kommen? Alles, was mit „psycho“ anfängt, war ja lange Zeit ein Tabu hier im Land …
Ich habe schon das Gefühl, dass sich etwas tut. Das zeigen schon die vielen Long-Covid-Patienten, die wir hier präventiv begleiten. Wenn man körperlich so eingeschränkt ist, schlägt es irgendwann auf die Psyche. Unsere Panikpatienten sind zuerst mal nicht froh, hierherzukommen. Die meisten denken ja, ihnen fehlt körperlich etwas. Aber auch da spüren wir mehr Bereitschaft.
Hatten Sie selbst schon mal eine Panikattacke?
Ich selbst habe das noch nie erlebt. Aber ich weiß aus vielen Gesprächen, das Gefühl gleich zu sterben, keiner kann mir helfen, muss fürchterlich sein.
Über die Autoren
Charles Benoy ist in Luxemburg geboren und hat in Luxemburg und Fribourg (CH) klinische Psychologie studiert. An der Universität Basel (CH) bildet er sich zum Psychotherapeuten weiter und schließt mit einer Doktorarbeit ab. In den Universitären Psychiatrischen Kliniken in Basel arbeitet er acht Jahre, leitet vier Jahre lang eine Abteilung für Menschen mit Zwangs- und Angststörungen und stößt auf das Thema. Seit 2021 arbeitet er am CHNP in Ettelbrück, therapiert und forscht unter anderem zu Long Covid und dem Einsatz von KI in der Psychiatrie.
Marc Walter ist Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapie, psychosomatische Medizin sowie psychoanalytischer Psychotherapeut. Er leitet als Chefarzt die Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der psychiatrischen Dienste Aargau AG und ist Professor für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Basel (CH).
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