Europawahlen / EU-Personalpoker noch ohne Gewinner: Der Meloni-Faktor erreicht das europäische Parkett
Die Besetzung der EU-Spitzenposten schien vor dem informellen Dinner der Staats- und Regierungschefs geklärt und nur eine Angelegenheit von wenigen Stunden. Warum der Gipfel dann doch ergebnislos abgebrochen wurde.
„Schnell und zügig“ will der Kanzler am Montagabend in Brüssel das neue EU-Spitzenpersonal geklärt haben. Die Zuversicht nimmt Olaf Scholz aus den Vorbesprechungen mit EU-Amtskollegen am Rande des G7-Gipfels in Italien und der Friedenskonferenz in der Schweiz. Doch „schnell und zügig“ ist in EU-Dimensionen ein dehnbarer Begriff. 18.30 Uhr Start des Dinners, 21 Uhr Anpfiff des Frankreich-Spiels. Erste Annahme: 90 Minuten. Doch um fünf vor zwölf, als die Runde der Staats- und Regierungschefs die Einigungsversuche ergebnislos abbricht, sind daraus zehn Tage geworden. Mindestens.
Formal ist das zu erwarten gewesen. Bei einem informellen Gipfel können eh keine Beschlüsse gefasst werden. Das ist seit langem für den regulären Gipfel am Donnerstag und Freitag nächster Woche vorgesehen. Doch von einer zügigen Verständigung sind die Hauptakteure dann doch ausgegangen. Die Wiederaufnahme der Zusammenarbeit zwischen Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen soll eigentlich in eine Machtteilung nach bewährtem Muster münden: Kommissionspräsidentin für die Wahlgewinner, die Christdemokraten (Ursula von der Leyen aus Deutschland), Ratspräsident für die zweitplatzierten Sozialdemokraten (Antonio Costa aus Portugal), Außenbeauftragte für die drittplatzierten Liberalen (Kaja Kallas aus Estland).
Diese Personalien sind nicht völlig unumstritten. Von der Leyen war bis zu seinem desaströsen Wahlergebnis von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron in Frage gestellt worden, Ungarns Regierungschef Viktor Orbán macht massiv Front gegen sie. Costa kann sich des Rückhalts in Skandinavien nicht sicher sein, und Kallas’ explizit russlandkritische Haltung ist manchen in der EU mitunter zu schrill. Gleichwohl gilt das Paket unterm Strich als mehrheitsfähig. Allerdings legen Teilnehmer noch eine vierte Position hinein: die Parlamentspräsidentschaft, die die Christdemokraten ebenfalls als mit Abstand stärkste Fraktion beanspruchen und dafür die bisherige Amtsinhaberin Roberta Metsola ins Rennen schicken.
Das freilich führt aus EVP-Sicht zu einer weiteren Option. Entwickelt worden ist sie am Nachmittag bei einem Vorbereitungstreffen aller EVP-Staats- und Regierungschefs in Brüssel unter Leitung von EVP-Chef Manfred Weber: Denn der Job an der Spitze des Parlaments wird traditionell nur für die Hälfte der Fünf-Jahres-Wahlperiode vergeben; in zweieinhalb Jahren wollen die Sozialdemokraten den Job. Und so spielt Weber eine weitere Karte aus: Wenn die Parlamentspräsidentschaft zur Halbzeit von den Christdemokraten zu den Sozialdemokraten wechselt, dann soll die Ratspräsidentschaft zur Halbzeit von den Sozialdemokraten zu den Christdemokraten gehen. Bislang wurde der Job des Gipfel-Koordinators zwar auch nur für zweieinhalb Jahre vergeben, doch der Amtsinhaber traditionell für die zweite Halbzeit wiedergewählt. Das könnte man doch mal zu einem fairen Ausgleich zwischen Parlamentsspitze und Ratsspitze nutzen, so das Kalkül der EVP.
Meloni will mehr Mitsprache
Abgeleitet werden alle diese Ansprüche aus den Vorgaben des Lissabon-Vertrags, wonach die Staats- und Regierungschefs den Vorschlag für die Kommissionspräsidentschaft im Lichte der Ergebnisse der Europawahlen machen sollen. Doch damit kommt ein weiterer Faktor ins Spiel: Giorgia Meloni. Die italienische Postfaschistin und Ministerpräsidentin hat die Sitze für ihre „Brüder“-Partei auf 24 mehr als verdoppelt. Könnten alle rechtspopulistischen Mandate im Europaparlament zusammengerechnet werden, kämen Melonis EKR und die ID-Fraktion von Frankreichs Marine Le Pen mit den einschlägig verorteten fraktionslosen Abgeordneten auf den dritten Platz. Das ist zwar schwer vorstellbar, zumal die AfD-Abgeordneten derzeit niemand in seiner Fraktion haben will. Aber Meloni leitet daraus den Anspruch auf mehr Mitsprache in Brüssel ab.
Sie erscheint zum Gipfel mit einer Miene, als würde sie im nächsten Augenblick vor Wut explodieren. Da ist gerade bekannt geworden, dass sich das Dinner verzögert, weil erst noch Deutschlands Olaf Scholz und Spaniens Pedro Sanchez mit Griechenlands Kyriakos Mitsotakis und Polens Donald Tusk im Ratsgebäude eine christdemokratisch-sozialdemokratische Vorklärung benötigen. Ohne sie! Ohne Italien! Ohne die gefühlte Wahlgewinnerin! Und ihre Ansprüche auf den Posten eines Vizekommissionspräsidenten von den „Brüdern“ mag man ihr auch nicht zugestehen. So hat sie denn mit einem eigenen Treffen mit Ungarns Orbán und Polens Rechtspopulisten Mateusz Morawiecki im Vorfeld selbst signalisiert, dass sie gewillt ist, neue Bündnisse vorzubereiten, um kraftvoller auftreten zu können.
Doch das bringt den informellen Gipfel endgültig aus dem Tritt. Die Runde braucht Bedenkzeit bis nächste Woche Donnerstag. Die soll genutzt werden, um die EVP von der Ratspräsidentschaft abzubringen und Meloni von mehr Macht in der Kommission. Ob damit auch die Karten für die nächste Runde im Personalpoker neu gemischt sind, wird sich wohl erst in der Nacht zum Freitag zeigen.
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