Analyse / EU will künstliche Intelligenz in den Dienst der Menschen stellen
Der digitale Wandel ist nicht aufzuhalten. Ob die Menschen davon profitieren oder ob sie unter die Räder geraten, kann davon abhängen, wie sie selbst mit dem Wandel umgehen. Die EU will eine Gesellschaft schaffen, die sich auf ihn einlässt und damit gedeiht. Was die EU-Kommission mit ihrer neuen Digitalstrategie erreichen will und warum sie damit Erfolg haben kann. Eine Analyse.
Der technologische Wandel kann Angst machen. Seit vier Jahrzehnten wird die Popkultur dominiert von dystopischen Zukunftsvisionen. Darin kämpfen Menschen in den dreckigen Gassen düsterer Großstädte als kleines unbedeutendes Rädchen in einer zum Stillstand gekommenen Maschine um ihr Überleben, während um sie herum soziale Ungleichheit, Kriminalität, Terrorismus, außer Kontrolle geratene Roboter und Umweltzerstörung die Menschheit bedrohen. Währenddessen sitzen superreiche Konzernbosse in ihren Palästen, profitieren von fortschrittlicher Medizin, die sie nahezu unsterblich macht, und baden im Luxus.
Auch im realen Leben manifestieren sich negative Auswirkungen des technologischen Wandels. Technologie ist teuer. Die neueste und beste Technik können sich nur privilegierte Menschen leisten. Daneben schreitet die technologische Entwicklung mit einer Geschwindigkeit voran, mit der nicht jeder mithalten kann oder will. Die Menschen werden zum Teil gezwungen, technologische Lösungen wie E-Banking zu akzeptieren. Wer nicht mit der Zeit geht, hat das Nachsehen.
Umso erfrischender ist es, dass die EU-Kommission am Mittwoch eine Digitalstrategie mit einem durchweg positiven Grundton vorgestellt hat. Die Kommission will den digitalen Wandel vorantreiben und dafür Sorge tragen, dass alle Bürger davon profitieren. Darin heißt es: „Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, sich persönlich zu entwickeln, frei und sicher zu wählen und sich in der Gesellschaft zu engagieren, unabhängig von ihrem Alter, Geschlecht oder beruflichen Hintergrund. Unternehmen brauchen einen Rahmen, der es ihnen ermöglicht, Daten zu erstellen, zu erweitern, zu bündeln und zu nutzen, zu innovieren und zu konkurrieren oder zu fairen Bedingungen zusammenzuarbeiten. Und Europa muss die Wahl haben und den digitalen Wandel auf seine eigene Art und Weise vorantreiben.“
Technologischer Sprung
Die technologische Entwicklung hat in den letzten Jahren einen Sprung gemacht. Zum ersten Mal in der Geschichte sind Geräte und Dienste, die tagtäglich von Menschen genutzt werden, mit künstlicher Intelligenz ausgestattet. Damit ist nicht etwa gemeint, dass Staubsauger jetzt ein eigenes Bewusstsein haben, Fernseher mit Menschen tiefgreifende Gespräche über Politik und Gesellschaft führen oder Roboter durch die Straßen ziehen und wahlweise Grundrechte oder die Vernichtung der Menschheit einfordern.
Als künstliche Intelligenzen versteht man im allgemeinen Computerprogramme, die einzelne Aspekte der menschlichen Intelligenz nachbilden und relativ eigenständig Probleme lösen können. Im Alltag und im Marketing – Wissenschaftler sind da zurückhaltender – wird künstliche Intelligenz nicht selten mit maschinellem Lernen gleichgesetzt. Beim maschinellen Lernen wird ein Programm regelrecht für eine Aufgabe trainiert. Das Programm wird mit Beispielen gefüttert, die vorgeben, wie eine Aufgabe ausgeführt werden soll. Es übernimmt die Beispiele nicht eins zu eins, sondern versucht, ein Muster darin zu erkennen. So wird das Programm immer besser in dieser einen Aufgabe, bis es sie schlussendlich zufriedenstellend ausführen kann oder sogar besser darin wird als Menschen.
Ein Beispiel: Das luxemburgische Unternehmen Aiva, hat eine künstliche Intelligenz entwickelt, die Musikstücke schreiben kann. Im Vorfeld wurde das Programm mit Unmengen an Partituren gefüttert und kann nun selber eigene Werke schreiben, die zum Beispiel in Filmen oder Computerspielen eingesetzt werden können.
Intelligente Netze
Solche Programme können wahlweise Schach spielen, Texte übersetzen, Menschen auf Fotos erkennen, Unregelmäßigkeiten in Finanztransaktionen aufstöbern, selbstfahrende Autos steuern und vieles mehr. In Zukunft, so hofft man, werden künstliche Intelligenzen dabei helfen, Stromnetze zu steuern, in die aus vielen erneuerbaren, dafür aber dezentralen und in ihrer Leistung schwankenden Energiequellen – wie Windturbinen und Fotovoltaikanlagen – Strom eingespeist wird.
Das Konzept der künstlichen Intelligenz ist nicht neu. Die britische Mathematikerin Ada Lovelace stellte bereits 1843 Überlegungen in diese Richtung an, kam aber zu dem Schluss, eine Maschine könne immer nur Befehle ausführen: „Die Maschine kann nur das tun, was wir ihr zu befehlen vermögen, sie kann unserer Analyse folgen. Sie hat jedoch keine Fähigkeit zur Erkenntnis analytischer Verhältnisse oder Wahrheiten.“ In der Mitte des 20. Jahrhunderts erlebte die Forschung um künstliche Intelligenz einen Boom, allerdings stand nicht genug Rechenleistung zur Verfügung, um die Theorien in die Tat umzusetzen. Die Technologie verfiel in einen Winterschlaf. Erst zum Beginn des 21. Jahrhunderts stand schließlich genug Leistung zur Verfügung, um erste zaghafte KI zu bauen. Heute nutzen wir regelmäßig KI-Anwendungen, ohne dass es uns zwingend bewusst ist – etwa Übersetzungssoftware.
Die neuen digitalen Technologien werfen aber auch ethische Fragen auf. Wie können sie so genutzt werden, damit jeder profitiert? Wie können Risiken minimiert werden? Wer trägt die Verantwortung, wenn eine Maschine eine Entscheidung trifft? Kurz: Diese Technologien unterscheiden sich so sehr von bestehenden, dass althergebrachte Lösungen versagen.
Bürgerbeteiligung
Die Europäische Kommission hat darauf reagiert, indem sie eine Digitalstrategie ausgearbeitet hat. Diese wurde am Mittwoch vorgestellt. Die sehr umfassenden Unterlagen beinhalten mehrere Stellungnahmen zu verschiedenen Themen, ein Weißbuch zur künstlichen Intelligenz und mehrere Merkblätter, die sich an die Bürger richten. Die EU-Kommission hat auch zur Bürgerbeteiligung aufgerufen und um Feedback gebeten. Das wird allerdings dadurch erschwert, dass die Unterlagen zur Strategie größtenteils auf Englisch veröffentlicht worden sind und in anderen offiziellen europäischen Sprachen nicht vorliegen.
Es ist nicht das erste Mal, dass sich die Kommission dem Thema annimmt. Seit 2014 hat sie eine Reihe von Schritten unternommen – mit der Absicht, die datengetriebene Wirtschaft weiterzuentwickeln. Zu diesen Anstrengungen zählt die Kommission die Verordnung über den freien Verkehr nicht personenbezogener Daten, das Cybersicherheitsgesetz, die offene Datenrichtlinie und die allgemeine Datenschutzverordnung. Bereits 2018 hatte die Kommission zum ersten Mal eine KI-Strategie vorgelegt. Eine Expertengruppe für künstliche Intelligenz legte im April 2019 KI-Ethikrichtlinien vor, auf denen ein Teil der am Mittwoch vorgestellten Strategie aufbaut.
Die Strategie kommt zu einem Zeitpunkt, an dem sich Europa an einem Scheideweg befindet. Zum einen werden Stimmen aus der Wirtschaft immer lauter, Europa lasse im Rennen um die digitale Wirtschaft Federn. Andere Stimmen behaupten das Gegenteil. Technologie-Investor Atomico schreibt in seinem jährlichen Bericht zur Lage der europäischen Technologie: „Warum kann Europa keine Technik machen? Es ist an der Zeit, diese Frage nicht mehr zu stellen. Wir haben unwiderlegbare Beweise dafür, dass das europäische Technologie-Ökosystem große Unternehmen unterstützen kann.“ Nichtsdestotrotz haftet Europa aus asiatischer und US-amerikanischer Sicht der Makel der Überregulierung und der übertriebenen Vorsicht an. Tatsächlich bleibt die EU-Kommission in ihrer Strategie dem Vorsorgeprinzip treu. Datenschutz spielt eine wichtige Rolle und die Risiken von künstlicher Intelligenz sollen eingegrenzt werden.
Risiken vorbeugen
Im neuen Weißbuch der EU-Kommission heißt es deshalb: „Wie bei jeder neuen Technologie birgt der Einsatz von KI sowohl Chancen als auch Risiken. Während die KI dazu beitragen kann, die Sicherheit der Bürger zu schützen und ihnen die Wahrnehmung ihrer Grundrechte zu ermöglichen, befürchten die Bürger auch, dass die KI unbeabsichtigte Auswirkungen haben oder sogar für böswillige Zwecke eingesetzt werden könnte. Außerdem ist neben mangelnden Investitionen und Fähigkeiten auch mangelndes Vertrauen ein Hauptfaktor, der eine breitere Akzeptanz der KI verhindert.“
Nicht zuletzt aus diesem Grund unterstützt die EU-Kommission die Vorschläge der Expertengruppe. Unter anderem heißt das, der Mensch muss immer die Kontrolle über die künstliche Intelligenz haben. Es muss immer klar sein, wer die Verantwortung trägt. Privatsphäre muss gewahrt bleiben. Negative Auswirkungen auf Gesellschaft und Umwelt müssen verhindert werden.
In der neuen Strategie heißt es außerdem: „Damit Europa wirklich Einfluss auf die Art und Weise nehmen kann, wie digitale Lösungen auf globaler Ebene entwickelt und genutzt werden, muss es ein starker, unabhängiger und zielgerichteter digitaler Akteur aus eigener Kraft sein. Um dies zu erreichen, ist ein klarer Rahmen erforderlich, der vertrauenswürdige, digital ermöglichte Interaktionen in der gesamten Gesellschaft fördert, sowohl für Menschen als auch für Unternehmen. Ohne diesen Fokus auf Vertrauenswürdigkeit kann der lebenswichtige Prozess der digitalen Transformation nicht gelingen.“
Aus eigener Kraft
Der Gedanke, sich im digitalen Wettbewerb aus eigener Kraft an die Spitze zu setzen, findet sich in der Strategie an mehreren Stellen. In einem Fazit heißt es, Ziel sei es, „die EU in die Lage zu versetzen, die attraktivste, sicherste und dynamischste datenagile Wirtschaft der Welt zu werden – und Europa mit Daten zu versorgen, die es ihm ermöglichen, Entscheidungen zu verbessern und das Leben aller seiner Bürger zu verbessern“. Das bedeutet jedoch nicht, dass Europa sich in dieser Sache isolieren will. Europa will in Zukunft dazu beitragen, weltweite Standards zu setzen, damit europäische Unternehmen weltweit unter den gleichen Bedingungen arbeiten können wie in Europa. Die EU-Kommission will außerdem versuchen, Hürden, auf die europäische Konzerne im außereuropäischen Ausland stoßen, abzubauen.
Einzelne Volkswirtschaften und Blöcke wie die Europäische Union betrachten es als äußerst wichtig, internationale Standards zu setzen. Bereits bei den Diskussionen um die Freihandelsabkommen TTIP und CETA wurde argumentiert, Europa könne so mit den USA bzw. Kanada globale Standards setzen und müsse dieses Feld nicht China überlassen. Wer internationale Standards setzen kann, so die Idee, hat im internationalen Wettbewerb Vorteile.
Von dem digitalen Wandel (und der Digitalstrategie) sollen aber nicht nur Unternehmen, sondern vor allem Bürger profitieren. Die EU will den digitalen Wandel nicht einfach geschehen lassen in der Hoffnung, dass sich die Vorteile für die Bürger schon ergeben werden. Technologischer Wandel soll den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Im September 2019 hatte das Europäische Parlament einen Bericht zur künstlichen Intelligenz mit der gleichen Forderung veröffentlicht. Der von Analyst Tambiama Madiega zusammengestellte Bericht des Parlaments fordert, dass künstliche Intelligenz in den Dienst der Menschen gestellt wird.
Als Gesellschaft gedeihen
Die Kommission gibt konkrete Beispiele, was ihre Strategie für die Bürger bedeutet. Auf einem Merkblatt heißt es: „Alle Europäer können in einer digitalisierten Gesellschaft gedeihen.“ Darin verspricht die EU-Kommission den Bürgern eine bessere medizinische Versorgung, mehr Klimaschutz durch den Einsatz erneuerbarer Energien, der durch ein intelligentes Stromnetz ermöglicht wird, bessere und sicherere Mobilität dank Interaktionen zwischen den Fahrzeugen und der Straßeninfrastruktur sowie eine umweltfreundlichere und gesündere Landwirtschaft durch den Einsatz von künstlicher Intelligenz, Daten und dem neuen 5G-Netz.
Diese Vorteile sind nicht aus der Luft gegriffen. Mithilfe von mehr Messdaten können Landwirte den Einsatz von Pestiziden, Düngemittel und Wasser besser planen. Sie müssen dann nur dort düngen, wo die Nährstoffe tatsächlich gebraucht werden. So sparen sie Geld und belasten das Grundwasser nicht. Autos können, anders als Menschen, nicht betrunken oder übermüdet sein. Hier könnte die Technik in Zukunft helfen, Unfälle zu vermeiden. Und eine permanente Überwachung der Straßen könnte helfen, Verkehrsströme umzulenken, wenn ein Stau droht. Zu guter Letzt hat die EU-Kommission mit ihrer Digitalstrategie auch versprochen, Falschinformationen im Internet zu bekämpfen, damit Bürger Zugang zu vielseitigen und verlässlichen Daten haben.
EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager sagte am Mittwoch vor Journalisten in Brüssel: „Künstliche Intelligenz an sich ist weder gut noch schlecht, es hängt alles davon ab, warum und wie sie eingesetzt wird.“
Supercomputer in Luxemburg
Die Tatsache, dass sich die EU-Kommission jetzt und in diesem Umfang mit dem digitalen Wandel und künstlicher Intelligenz beschäftigt, ist aus mehreren Gründen zu begrüßen. Zum einen verfügt die EU über den Einfluss und das Budget, große Infrastrukturprojekte umzusetzen. Derzeit werden überall in Europa mächtige Supercomputer angeschafft, die von der EU finanziert werden. Mit Meluxina erhält auch Luxemburg einen dieser Rechner. Solche europaweiten Investitionen wären ohne die Anstrengungen der EU heute kaum vorstellbar. Zum anderen hat technischer Fortschritt immer das Potenzial, eine Gesellschaft zu verändern. Lässt man diesen Wandel ungesteuert geschehen, dann ist die Gefahr groß, dass er nur einigen wenigen zugutekommt.
„Wir ermutigen die EU, dem Beispiel Amerikas zu folgen und einen innovationsfreundlichen, wertebasierten Ansatz für die KI-Regulierung zu verfolgen, der eine übermäßige Belastung und eine Gleichmacherei vermeidet“, sagte Michael Kratsios, Chief Technology Officer der USA, gegenüber dem Sender CNBC. Weiter sagte er, dass „der beste Weg, autoritären Verwendungen der KI entgegenzuwirken, darin besteht, sicherzustellen, dass die USA und ihre Verbündeten weiterhin führend in der Innovation bleiben und die Technologie auf der Grundlage unserer gemeinsamen Werte vorantreiben“.
USA nicht sonderlich glücklich
Kratsios’ Aussagen sind auch im Kontext der Strategie der USA zu verstehen. Donald Trump hatte im November einen Erlass unterschrieben, der die künstliche Intelligenz unterstützen soll. Er beinhaltet zum Beispiel einen Abbau von Hürden, die die Innovation bremsen könnten (sprich: Deregulierung). Weiter heißt es darin explizit, der Staat müsse ein internationales Umfeld fördern, das die amerikanische KI-Innovation und ihre verantwortungsvolle Nutzung unterstützt. Das Weiße Haus zitiert Donald Trump wie folgt: „Die fortgesetzte amerikanische Führung im Bereich der künstlichen Intelligenz ist von größter Bedeutung für die Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen und nationalen Sicherheit der Vereinigten Staaten.“
Daneben verfolgen auch Länder wie Kanada oder China eigene Interessen, wenn es um KI geht. Die EU hat jetzt eine Chance, dafür zu sorgen, dass eine neue Technologie mit sehr viel Potenzial zum Wohle aller Bürger eingesetzt wird – und sie hat diese Chance ergriffen. Die Technologie muss allen Menschen dienen und nicht nur ein paar privilegierten Individuen. Nicht nur, aber auch weil die Technologie dafür zu einem großen Teil mit Steuergeldern bezahlt worden ist.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos