Menschenrechte / Europäischer Gesetzesvorschlag zum Lieferkettengesetz geht NGO nicht weit genug
1.200 Pakistanis sterben beim Unglück in der Textilfabrik Rana Plaza. Erntehelfer aus Afrika müssen bei 35 Grad im Schatten aufs Feld. Die Früchte der Arbeit dieser Menschen liegen bei uns im Geschäft. Ein nationales Lieferkettengesetz soll ihre Situation verbessern. Seit kurzem liegt ein EU-Vorstoß dazu auf dem Tisch. Wie zu erwarten, gibt es erste Widerstände und Kritik. Der Brüsseler NGO „European Coalition for Corporate Justice“ (ECCJ) geht der Vorschlag nicht weit genug.
Tageblatt: Beim Thema Lieferkette kann man richtig wütend werden oder traurig. Was sind Sie?
Marion Lupin: Wenn man die Menschenrechts- und Umweltverletzungen sieht, ist es unmöglich, nicht wütend zu reagieren. Pakistan ist beispielsweise eines der Länder, die am meisten unter dem Klimawandel leiden und am wenigsten CO2 ausstoßen. Und es macht traurig, von all den Toten zu wissen. Aber weder Wut noch Traurigkeit sollte uns beherrschen. Wir können diese beiden Gefühle nur überwinden, wenn wir aktiv werden, um etwas zu ändern.
Hier im Schaufenster ausgestellt und in Ländern der Dritten Welt hergestellt: Der Wirtschaft geht es gut damit, mit billiger Produktion den Gewinn zu maximieren. An Menschenrechte und Umweltschäden hat lange niemand gedacht. Ändert sich das gerade?
Absolut. Ich sage das aus der Sicht der Allgemeinheit, nicht der Politik. Die Veränderung ist seit 15 Jahren zu beobachten. Umfragen zeigen, dass Menschenrechte und Klimafragen längst auch die Herzen erfasst haben – vor allem bei der jungen Generation.
Es gibt ja schon Empfehlungen der UNO und der OECD zur Sorgfaltspflicht für Unternehmen. Sie sind zu weich, sagen Sie … Ein Beispiel?
In diesen Empfehlungen ist die Pflicht, die Achtung der Menschenrechte zu überwachen, an die Staaten und deren Regierungen delegiert. Die Unternehmen bleiben in diesen Empfehlungen völlig außen vor. Diese Verpflichtungen existieren seit bereits 20 Jahren und es hat sich wenig bis nichts geändert. Sie sind zu allgemein und zu schwierig anzuwenden.
Mit dem aktuellen EU-Gesetzesvorschlag erreicht die Sorgfaltspflicht aber die Unternehmen und die nationalen Gerichte. Fürchten Sie nicht immense Lobbyarbeit dagegen?
Ja klar. Wir beobachten, dass es schon im Gang ist. Aber ich bin zuversichtlich, dass die Verpflichtung der Unternehmen, sich vor Gericht verantworten zu müssen, nicht aufgeweicht wird. Das Europäische Parlament hat in der Vergangenheit schon mehrmals Motionen dieser Art positiv angenommen. Lobbyarbeit ist legitim und es gilt jetzt, mit guten Argumenten dagegenzuhalten.
Sie kritisieren, dass die Entschädigung von Opfern in dem EU-Vorschlag nur auf dem Papier existiert. Was ist die Lösung?
Die Zusicherung, dass Opfer klagen können, reicht nicht. Sie sind meist nicht in der Lage, sich überhaupt Anwälte leisten zu können. Die Unternehmen haben ganze Justizabteilungen und ein Heer von Anwälten. Aus dem Grund fordern wir die Möglichkeit zu Sammelklagen und die Möglichkeit für Gewerkschaften oder NGOs, die Opfer zu vertreten. Und wir fordern, dass die Beweislast umgekehrt wird. Für den Arbeiter in Bangladesch wird es schwer zu beweisen, dass er ein Opfer ist. Die Unternehmen hingegen wissen ziemlich genau, was vorgefallen ist. Diese Informationen sind aber vertraulich.
Eine weitere Kritik an dem EU-Gesetzesvorschlag ist das Anwendungsgebiet. Es gilt nur für Unternehmen ab einer Mitarbeiterzahl von 500 Beschäftigten oder mit einem Umsatz von 150 Millionen Euro. ECCJ will eine Ausdehnung auf alle Unternehmen. Glauben Sie, dass sich das durchsetzen lässt?
Ich hoffe es. In der jetzigen Form betrifft das Gesetz nur ein Prozent aller europäischen Firmen. In Luxemburg wären es 0,4 Prozent. Deshalb fordern wir in diesem Punkt, sich an den existierenden UNO- und OECD-Vorschlägen zu orientieren. Darin steht, dass die Sorgfaltspflicht bezüglich der Lieferketten für alle Unternehmen gelten soll. Aber das muss proportional sein. Es kann nicht sein, dass der Supermarkt um die Ecke die gleichen Verpflichtungen hat wie ein Handelsriese wie Unilever.
In Ihren Augen deckt die europäische Initiative nur „etablierte“ Geschäftsbeziehungen ab. Sie befürchten, dass das Unternehmen ermuntert, ihre Geschäftspolitik zu ändern. Können Sie das erklären?
Das bezieht sich auf die Beziehung Betrieb-Lieferant. Wir fürchten, dass Unternehmen daraufhin ihre Einkaufspolitik ändern. Langjährige Lieferanten werden regelmäßig gegen andere ausgetauscht. Dann ist die Geschäftsbeziehung nicht mehr „etabliert“ und fällt nicht unter das Lieferkettengesetz.
Der Finanzsektor in Luxemburg hat bereits Bedenken gegen die EU-Initiative angemeldet. Sie sagen, gerade dieser Bereich ist aber sehr privilegiert, was den Einfluss angeht. Wie meinen Sie das?
Geld ist der Antrieb für alles in unserer Welt. Im Finanzsektor wird Geld verteilt. Deshalb hat er einen immensen Einfluss. Er hat die Macht, dem Kunden zu sagen, wir geben kein Geld, wenn nicht Menschenrechte und Umweltstandards eingehalten werden. Wenn der Finanzsektor sich jetzt heraushalten will, verneint er diesen Einfluss.
Die Menschen am anderen Ende der Lieferkette, die Produzenten, sind am meisten von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen. Da geht Ihnen der europäische Vorschlag ebenfalls nicht weit genug. Inwiefern?
Der Vorschlag zitiert das Pariser Ziel von 1,5 Grad. Es soll von den Unternehmen in ihrer Wirtschaftsweise respektiert werden. Aber es gibt keine Sanktionen, wenn das nicht passiert. An keiner Stelle werden die CO2-Emissionen erwähnt, genauso das Thema Plastik. Das macht es für Opfer der Missachtung von Umweltstandards 100-mal schwieriger, Entschädigungen einzuklagen.
Was bedeutet die Einführung eines Lieferkettengesetzes für den Verbraucher?
Dass die Produkte bei Einführung eines Lieferkettengesetzes teurer werden, hören wir fast jeden Tag. Andererseits wissen die Unternehmen, dass sich der Verbraucher heute für Nachhaltigkeit, Umweltstandards und Menschenrechte bei den Produkten interessiert. Sie stecken Millionen in teure Marketingkampagnen, um zu zeigen, wie sozial, nachhaltig und umweltgerecht sie sind – auch wenn es gelogen ist. Mit dem Lieferkettengesetz kommt die juristische Basis, „Greenwashing“ wirklich zu bekämpfen. Der Verbraucher ist besser dagegen geschützt. Andererseits ist die Preisgestaltung eine Wahl des Handels. Und dort werden trotz Inflation und Preisexplosion Rekordgewinne erzielt. Da fragt man sich doch, wo liegt der Fehler?
Die Entwicklungen auf europäischer Ebene
2021 lanciert die EU eine Umfrage unter den EU-Mitgliedsstaaten zur Einführung eines Lieferkettengesetzes. Mehr als 500.000 Antworten kommen zusammen. Für Luxemburg antwortet der Industrieverband Fedil, dem die existierende freiwillige Verpflichtung der Unternehmen reicht. Im Oktober desselben Jahres lanciert das Meinungsforschungsinstitut YouGov mit Sitz in London eine Umfrage unter neun EU-Mitgliedsstaaten zum Thema. Darin befürworten 80% der Befragten strikte Regeln, um Unternehmen zur Einhaltung von Menschenrechten und Umweltstandards entlang ihrer Lieferkette zu verpflichten. Am 23. Februar präsentiert die EU-Kommission einen Gesetzesvorschlag. Eines der Schlupflöcher ist der Anwendungsbereich. In Luxemburg würde er in der jetzigen Form nur für 0,4 Prozent aller Betriebe gelten. Am 6. September 2022 lanciert die zivilgesellschaftliche Organisation „Justice is everybody’s Business“ eine Kampagne gegen die Schlupflöcher des EU-Vorschlags, die bis Mitte Oktober europaweit mehr als 77.000 Unterstützer gefunden hat.
European Coalition für Corporate Justice (ECCJ)
Das ECCJ ist das größte zivilgesellschaftliche Netzwerk, das sich der Rechenschaftspflicht von Unternehmen widmet. In ihm engagieren sich mehr als 480 Nichtregierungsorganisationen wie Gewerkschaften, Amnesty International oder Oxfam. Die „Initiative pour un devoir de vigilance“ aus Luxemburg gehört dazu.
Zur Person
Marion Lupin (29) weiß, dass es ein Privileg ist, in Europa geboren zu sein. Ihre Mutter, eine Stewardess, bringt ihr schon als Jugendliche bei, dass die Realität an vielen Orten der Welt eine andere ist. Die Juristin engagiert sich seit ihrem Abschluss für mehr Gerechtigkeit. Bei der NGO „European Coalition for Corporate Justice“ (ECCJ) ist sie die Spezialistin für die Lieferkettenproblematik.
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„Erntehelfer aus Afrika müssen bei 35 Grad im Schatten aufs Feld. “
Ja, genau wie ich wenn ich dem Bauern als Erntehelfer hierzulande beistehe, nur waren es da 38 Grad.
Geerntet wird nun mal wenn es warm ist, nicht im Winter.
Sollen die Leute denn da verhungern?
D’Mamm ass Stewardess, an konnt sech hiren Horizont duerch hir Reesen duerch d’Welt erweiteren. Dowéinst misst d’Joffer awer bal wëssen, dass mir net an engem „perfect World“ liewen.
Wéi ass et dann z.B. mat der Kanneraarbecht betreffend Akkumulatoren fir de Gréngen hir elektrësch Autoen?
hun nach kéng.NGO héieren déi zefridden woar. et hätt ömmer eppes méi können sin