Großbritannien / Ex-Premier Johnsons Memoiren überschatten den Nachfolgekampf in der konservativen Partei
Politiker-Memoiren dienen der Rechtfertigung umstrittener Entscheidungen, der Abrechnung mit Rivalinnen, dem Eigenlob für Erreichtes. Veröffentlicht werden sie normalerweise, anders als die selektiven Erinnerungen von Sportsleuten oder Celebritys, zu einem Zeitpunkt, wenn die Karriere des Autors seinen Zenit überschritten hat.
Das Verlagshaus William Collins hingegen beglückt die Briten an diesem Donnerstag mit einer knapp 900-seitigen Bewerbungsschrift. „Unleashed“, also „entfesselt“ oder „von der Leine gelassen“, heißt das jüngste Buch von Boris Johnson. „Hasta la vista, Baby“ ist ihm als Motto vorangestellt – die Phrase des „Terminators“ Arnold Schwarzenegger benutzte der Autor auch schon in seinem letzten Auftritt als Premierminister im Unterhaus.
Johnson meint den Spruch wörtlich: Er will die britische Wählerschaft wiedersehen und mit ihrer Hilfe erneut in die Downing Street einziehen. Mag er den Briten als Lügenbold, Coronaparty-König und Hauptanstifter des mittlerweile zutiefst unpopulären Brexits gelten – aus Sicht des 60-Jährigen, so geht es aus den Vorab-Veröffentlichungen und ersten Kritiken hervor, gibt es fürs Amt des Premierministers niemand Geeigneteren als ihn selbst.
Ganz gewiss nicht der amtierende Labour-Mann Keir Starmer, dessen gelegentlich etwas verwundert wirkenden Gesichtsausdruck der Autor vergleicht mit „einem Ochsen, dem unerwarteterweise ein Thermometer in den Hintern geschoben wurde“. Und bestimmt nicht jene drei Männer und eine Frau, die sich vergangene Woche auf dem Parteitag um den Vorsitz der konservativen Partei bewarben. Die Veröffentlichung des Buches überschattet diese Woche die letzten beiden Runden im quälend langen Auswahlprozess der stark geschrumpften Unterhausfraktion, ehe ein Duo sich der Urwahl durchs Parteivolk stellt.
Notorisch unzuverlässiger Mann
Apropos geschrumpft – in einem TV-Interview hat Johnson die schwer widerlegbare Behauptung aufgestellt, unter seiner Führung hätten die Torys die krachend verlorene Wahl im Juli natürlich gewonnen. Komplett falsch hat der selbstbewusste Politiker hingegen den Umfragewert der Partei im Juli 2022 im Kopf: „Zwei Prozent“ hinter Labour, sagt er, elf Prozent betrug der Abstand tatsächlich.
Von der Leine gelassen hat der notorisch unzuverlässige Mann auch in seinem Buch viele nachprüfbare Fakten, stützt sich stattdessen auf Halbwahrheiten und ganze Lügen. Nicht umsonst begann der Vorabdruck von Passagen aus „Unleashed“ in Johnsons neuem Hausblatt Daily Mail mit einer Geschichte zu Beginn des Jahres 2021, als in ganz Europa ein verzweifelter Wettlauf zwischen der Covid-Pandemie und den nationalen Impfprogrammen im Gang war. Da habe er, behauptet Johnson, eine Studie in Auftrag gegeben, ob ein Spezialkommando der britischen Streitkräfte mehrere Millionen Impfdosen aus einem Warenlager der Firma AstraZeneca im holländischen Leiden „befreien“ könne. Deren Export auf die Brexit-Insel war von der Brüsseler Gesundheitskommissarin mit Verweis auf die prekäre Versorgungslage in der EU verweigert worden.
Freund aller dämlichen Pub-Ideen
Die hübsche, aber natürlich vollkommen absurde Erzählung charakterisiert Johnson aufs Schönste. Er redet und schreibt daher, als lehne er am Pub-Tresen nach dem fünften Pint, voller Bewunderung für seine eigene Cleverness und Verachtung für all jene, die ihm freundlich Vernunft beizubringen versuchen. Dahinter steckt die immer gleiche Masche: Wenn der erfahrene und blitzgescheite Politiker in einer Besprechung tatsächlich die Invasion eines der ältesten Verbündeten Großbritanniens ins Spiel gebracht haben sollte, dann natürlich von vornherein mit dem Kalkül, nüchternere Zeitgenossen würden ihn schon auf die Absurdität der Idee hinweisen. Hauptsache, das Image stimmt: Boris Johnson, der Visionär und Freund aller dämlichen Pub-Ideen, die Inkarnation von „Merry Old England“, im ewigen Kampf gegen das langweilige Establishment.
So liebten ihn die Briten – tun sie das aber auch heute noch? Schließlich stürzte ihn die eigene Partei im Juli 2022, als immer deutlicher wurde, dass das Land nicht zuletzt wegen seiner dauernden Lügen die Geduld mit dem einst Gefeierten verloren hatte. Die Times-Kolumnistin Jenni Russell schreibt verächtlich von Johnson als einem „destruktiven Fantasten, der noch immer nach Macht ohne Verantwortung giert“. Der oder die neue Tory-Vorsitzende müsse Charme und List einsetzen, um aus dem Schatten des „Parteifeindes“ zu treten. Das wird, darauf deuten Johnsons Äußerungen hin, noch lange dauern.
- Es weihnachtet sehr: „Winterlights“ haben offiziell eröffnet - 22. November 2024.
- Die Kanzlerpartei klatscht, die Kanzlerpartei zweifelt - 22. November 2024.
- 7. Spieltag der Audi League: Reckingen fordert den Titelverteidiger heraus - 22. November 2024.
Sie müssen angemeldet sein um kommentieren zu können.
Melden sie sich an
Registrieren Sie sich kostenlos